Ganz normal verrückt

Film Über weitere Highlights aus dem Dokumentarfilm-Wettbewerbsprogramm berichten unsere Autorinnen Sarah-Charline Meiners und Tobias Grimm

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"The Special Need"-Produzent Henning Kamm
"The Special Need"-Produzent Henning Kamm

Foto: Yvonne Szallies-Dicks

The Special Need

Schon auf der Pressekonferenz des 10. „achtung berlin“-Filmfestivals hatte Hajo Schäfer die neugierigen Anwesenden auf „The Special Need“ angefixt. Der vom italienischen Regisseur Carlo Zoratti gedrehten Doku wurde zudem im November 2013 bereits die „Goldenen Taube“ in der Wettbewerbskategorie bester Internationaler Dokumentarfilm verliehen.

Sowohl das Lob von Hajo Schäfer als auch die Auszeichnung lassen die Erwartungen an den Film steigen. Deshalb scheint die Wahl der palastähnlichen Volksbühne vis-à-vis des Festivalkinos Babylon-Mitte als Vorführort für den Film angebracht zu sein. Am Dienstagabend gegen 21:11 Uhr verdunkelte sich der große Saal und die Berlin-Premiere begann. Schon nach wenigen Minuten wird deutlich, dass die großen Erwartungen dem tief ergreifenden Meisterwerk nicht nur gerecht werden, sondern sogar noch übertroffen werden.

„The Special Need“ erzählt die Geschichte des sanftmütigen 27-jährigen Enea, der in seinem Leben noch nie Sex hatte. Trotz seiner selbstsicheren und liebenswerten Art hat er bisher noch keine Partnerin für dieses intime Erlebnis gefunden. Erschwerend kommt hinzu, dass Enea Autist ist und deshalb die Reaktionen der Frauen, die er anspricht, oft nicht deuten kann und sich somit in Vermutungen verliert. Zusammen mit seinen Freunden Alex und Carlo, dem Regisseur des Films, tritt er eine abenteuerliche und gefühlsintensive Reise durch Europa an, um die wahre Liebe einer Frau zu finden.

Zorattis Film wird durch die Balance aus Komik und Tragik getragen und durch die außergewöhnliche Empathie und den Respekt, mit der die drei ungleichen Freunde sich begegnen, abgerundet. Das raffinierte Zusammenspiel von Kameraführung, Schnitt und Ton untermalt die Sensibilität des Themas und stellt die Bedürfnisse der Hauptfigur eindrucksvoll heraus. Zorattis tragikomisch inszenierte Szenen lassen den Zuschauer ein inniges Verhältnis zu Enea aufbauen und machen zeitgleich sensibel für ein ernstes Thema. Trotzdem bleibt Zorattis Werk weit entfernt von einem mitleidigen Film, der nur die Probleme eines Autisten portraitiert und macht „The Special Need“ deshalb zu einem wahren Meisterwerk.

Von Tobias Grimm

Wie ich lernte, die Zahlen zu lieben

Eigentlich wollten Oliver Sechting und sein Freund Max Taubert vier Wochen in New York nutzen, um sich mit Musikern, Schauspielern und Filmemachern vor Ort über die Kunst-Szene im "Big Apple" zu unterhalten. Stattdessen drängten sich jedoch immer mehr die Ängste und Zwangsvorstellungen von Ko-Regisseur Sechting in den Mittelpunkt, bis diese den Film schließlich dominierten und die Freundschaft der beiden Filmemacher auf eine Probe stellten. Aus der Not machten Sechting und Taubert eine Tugend: nämlich einen anderen Film als geplant, eben „Wie ich lernte, die Zahlen zu lieben“

Die Zahl 58 in Verbindung mit einer sechs oder einer neun macht Oliver Sechting Angst: „Das sind Todeskombinationen!“ Um sich zu beruhigen, neutralisiert der Filmemacher angstauslösende Kombinationen mithilfe von angenehmeren Zahlen und Farben. „Die Sieben ist eine typische Glückszahl oder die Farbe weiß gilt als neutral“, erklärt Oliver Sechting, der davon überzeugt ist, kurz vor seinem 40. Lebensjahr einen schnellen Krebstod zu erleiden. Heute ist er 38.

Trotz der ständigen Präsenz der Zwangsneurosen von Sechting kommen verschiedenste Vertreter der New Yorker Kunstszene im Film zu Wort: Claudia Steinberg und Anna Steegmann, Schauspielerinnen aus Rosa von Praunheims New York-Filmen, geben einen kleinen Einblick in die amerikanische Filmwelt. Besonders emotional wird es, als Anna Steegmann vom Tod ihres Geliebten Roman erzählt, was ihr Leben schlagartig änderte. Der Tod ist auch für Oliver Sechting ein wichtiges Thema: Sechtings Vater hatte Krebs und starb an der Krankheit als Oliver 11 Jahre alt war. Aus diesem schweren Verlust heraus wuchsen seine Ängste und Zwänge, die sich zu einem ganzen „Zwangssystem“, wie er es nennt, entwickelten.

Regisseur Max Taubert versucht so gut es geht, mit den krankhaften Tics und dem zwanghaften Aberglauben seines Freundes umzugehen, braucht mit der Zeit aber immer öfter Abstand. Deutlich spürt man, wie schwierig diese Situation für die beiden Regisseure ist. Eingeschobene Sequenzen mit verstörenden Bildern – „Visionen“ – visualisieren, wie es sich anfühlen kann, ewigen Angstzuständen ausgesetzt zu sein. Der Film wirft Fragen über große Themen wie Akzeptanz, Freundschaft und Tod auf. Die Protagonisten gehen durch emotionale Höhen und Tiefen; und der Zuschauer ist mittendrin. Offen und ungeschönt, aber auch humorvoll und selbstironisch, zeigen Oliver Sechting und Max Taubert, wie das Leben mit Zwangsneurosen sein kann – für den Betroffenen und seine Mitmenschen.

Von Sarah-Charline Meiners

im Rahmen des Studiengangs Journalistik an der Macromedia Hochschule für Medien und Kommunikation – MHMK, Standort Berlin
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

achtung berlin

Der achtung berlin - new berlin film award ist ein Filmfestival, das sich mit Leib und Seele dem Hauptstadtkino verschrieben hat. 9.-16. April 2014

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