Wohin aber gehen wir

Grundeinkommen Sollte es eigentlich jedem Menschen gut gehen? Eine naive Frage, die man ebenso naiv wie spontan mit Ja beantworten möchte

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Ich habe das Glück, mit Rebecca befreundet zu sein. Vor fünf Jahren, Rebecca war vierzehn, inszenierte ich mit ihrer Klasse ein Theaterstück. Mittlerweile ist aus dem burschikosen Mädchen, das mit lauter, klarer Stimme und dramatischer Begabung seine Rollentexte las, eine manchmal sehr introvertierte junge Frau geworden, die vielleicht etwas leiser, aber ebenso klar ihre Fragen und Ansichten dem Leben und ihren Mitmenschen gegenüber äussert. Die Liebe zum Theater verbindet uns bis heute.

Wir sprechen von Idealen, besonders von dem der Menschlichkeit und Menschenwürde; zunächst in Bezug auf das Theater, dann aber auch ganz allgemein mit Bezug auf die Gegenwart und unser eigenes Leben. Rebecca scheut sich nicht davor, Fragen zu stellen, die in vielen Menschen leben, aber oft unausgesprochen bleiben. Es sind fundamentale Sinnfragen, die sie beschäftigen und für die sie tatsächlich nach Antworten sucht. Aber es sind natürlich auch Fragen der eigenen Lebensgestaltung, ihrer Ziele und ihrer Möglichkeiten. Rebecca stellt fest, das ihr Ausgangspunkt und ihre Perspektiven für die Umsetzung ihrer Herzensanliegen ungünstig sind.

Auf einer gemeinsamen Autofahrt fällt dann der Satz: „Na ja, und dann hab ich ja diese Panik-Attacken.“ Das wusste ich nicht. „Meistens im Dunkeln, da kriege ich plötzlich so eine Todesangst.“ Angst zu sterben? Angst vor dem Tod? „Es ist fast unmöglich zu beschreiben. Vielleicht eher Angst, das alles so erstarrt, das alles so bleibt, wie es ist....Und vielleicht auch die Angst, nicht das Leben gelebt zu haben, das ich mir wünsche, das ich leben wollte – wenn ich eines Tages darauf zurückblicke, meine ich.“

Rebecca hat Erfahrung damit was es heißt, nicht so zu leben, wie man es sich wünscht. Mit ihrer Volljährigkeit musste sie Hartz IV beantragen, um zunächst weiter die Schule besuchen zu können, jetzt ist sie neunzehn und steht kurz vor dem Abitur. Sie lebt mit zwei jüngeren Geschwistern bei ihrer alleinerziehenden Mutter, und finanziell gesehen ist diese Familie als langjährige Sozialhilfe- bzw. „Hartz IV“ - Empfängerin Unterschicht.

Andererseits erhielt Rebecca dank ihres Engagements und einiger Begabung mit sechzehn ein Stipendium für einen fast einjährigen Schüleraufenthalt in Asien, ihre jüngere Schwester war mit einem ebensolchen Stipendium gerade für ein Jahr in Lateinamerika.

Als frischgebackene „Hartz IV“- Empfängerin musste nun auch Rebecca beim Arbeitsamt zum Vermittlungsgespräch antreten. Sie möchte eine Ausbildung zur Theaterpädagogin machen, die vermutlich vom Arbeitsamt finanziert werden kann. Die Dame auf dem Amt war sichtlich beeindruckt von Rebeccas entschiedenem Auftreten und Rebecca weiß, dass so ein Eindruck wichtig ist. Wie sie sich dabei gefühlt hat? „Irgendwie war es schrecklich, da hingehn zu müssen und so zu tun, als hätte ich alles im Griff. Nachher war ich dann nur froh, dass es ganz gut lief.“ Na also, dann ist das mit der Perspektive ja gar nicht so problematisch. Und der Staat zahlt sogar! Du hast dich gut verkauft, Rebecca.

Während ich diese Zeilen schreibe, ist sie wieder da, die Sorge, die ich jedesmal empfinde wenn ich versuche, die Welt mit Rebeccas Augen zu sehen. Oder mit den Augen von Pablo. Oder von David, Raffael, Bianca oder Benni. Es macht mir Sorgen, dass ihre menschlichen Begabungen in unserer Zeit so wenig gefragt zu sein scheinen, dass sie allein wohl kaum eine Grundlage für wirtschaftliches Überleben sein werden. Rebecca hat keine Ambitionen, zur akademischen „Elite“ zu zählen, sie ist nicht bereit zum Konkurrenzkampf um die verbliebenen Arbeitsplätze, gerade weil sie den Sinn gesellschaftlicher Konventionen und wirtschaftlicher Mechanismen hartnäckig hinterfragt. Sie ist vor allem sich selbst, eine gesunde, tüchtige und sehr mutige junge Frau, zielstrebig da, wo es ihr wichtig ist, mit Wünschen und Idealen für eine Welt, die ihrer Meinung nach besser werden sollte. Diese Qualitäten teilt sie mit anderen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, denen ich bei meiner Arbeit begegne. Die Gespräche, die ich dabei führe, gehören für mich zu den Wesentlichsten überhaupt. Denn da sind so viele schöne Gedanken, feine Beobachtungen der Welt und der Menschen, so viel Humor und kluge Selbsteinschätzung. Aus allem spricht eine erstaunliche Einsicht in das Leben. Und gerade das macht diese Menschen so verletzlich. Und gerade das macht sie für mich zu Helden.

Ideale und Lebensziele sind sehr etwas sehr persönliches. Sie können wie Lichstrahlen sein, die sich an der Lebenswirklichkeit in vielen Farben brechen. Aber sie können auch verschluckt werden von der Finsternis der Perspektivlosigkeit. „...und dann hab ich ja diese Panikattacken.“

Gewaltbereitschaft und Kriminalität von Jugendlichen sind in den Schlagzeilen. Doch das ist nur der lauteste, nicht der grösste Teil der Jugend, der die Sicht verstellt auf einen anderen, sicher grösseren Teil, der versucht, irgendwo zwischen Idealismus und Anpassung seinen Lebensweg zu finden.

Aber was, wenn dabei die Kräfte auf der Strecke bleiben, die Jugend im allgemeinen ausmachen: Die Kräfte, die Welt zu ergreifen und nach den eigenen Bedürfnissen umzugestalten?

Oder, anders herum gefragt: Was brauchen diese Kräfte für Bedingungen, um sich zum Wohle aller entfalten zu können?

Die oben erwähnten Sorgen betreffen ja nicht nur die Zukunftsaussichten dieser jungen Menschen, sie betreffen auch die Zukunftsaussichten unserer gesamten Gesellschaft. Denn wir können uns nicht leisten – und das meine ich ganz und gar nicht finanziell! - auch nur einen Helden zu verlieren, durch was auch immer für eine Art innerer oder äusserer Emigration.

Ich war sehr beunruhigt, als Rebecca von ihren Panikattacken erzählte. Ich bin nicht einverstanden mit der Art, wie unsere im Grunde vermögende Gesellschaft schon Jugendliche dazu zwingt, um ihr materielles Fortkommen bemüht zu sein und schon Kindern das Gefühl vermittelt, der Wert eines Menschen sei abhängig von seinem Einkommen. Natürlich bin ich aus meiner Erfahrung heraus eine Vertreterin des bedingungslosen Grundeinkommens. Ich finde es empörend, wenn die Arbeits- und Leistungsbereitschaft eines Grossteils der Bevölkerung in Frage gestellt wird. Und ich bin sicher, das eine grosse Anzahl junger Menschen die Chancen zu nutzen versteht, die unsere Gesellschaft ihr geben könnte, die sich immerhin noch ab und zu an ihre Dichter und Denker erinnert. Angelina Gazquez, 2008/2012

Wohin aber gehen wir

ohne Sorge sei ohne Sorge

wenn es dunkel und wenn es kalt wird

sei ohne Sorge

aber

mit Musik

was sollen wir tun

heiter und mit Musik

und denken

heiter

angesichts eines Endes

mit Musik

und wohin tragen wir

am besten

unsre Fragen und den Schauer aller Jahre

in die Traumwäscherei ohne Sorge sei ohne Sorge

was aber geschieht

am besten

wenn Totenstille

eintritt

Ingeborg Bachmann "Reklame"

Angelina Gazquez ist freiberufliche Schauspielerin, Regisseurin und Theaterpädagogin.

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