200 Jahre "Freischütz"

Live-Stream La Fura dels Baus entfaltete Jubiläumsspektakel im Konzerthaus Berlin

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200 Jahre Freischütz mussten "bis soeben" - nicht nur im Konzerthaus Berlin (dem ehemaligen Königlichen Schauspielhaus, wo seine Uraufführung anno 1821 war) - umdisponiert und/ oder anderweitig abgefeiert werden; auch in Dresden, wo der Weber als ein königlich bestallter Hofkapellmeister neun Jahre lang gewirkt hatte, durfte es "bis soeben" keinen Jubiläums-Freischütz geben, weil dann immer noch, und quasi "bis soeben", keine Chöre in der Nähe einer Live-Zuhörerschaft aus vollen Kehlen singen durften [wegen der noch immer ahnbaren Gefahrenlage hinsichtlich des Ausschleuderns etwaiger Coronaviren während des gemeinschaftlichen Chorgesangs]... Und ohne Jägerchor halt auch kein Live-Freischütz. Was will man machen?!

Christoph Eschenbach und das Konzerthausorchester Berlin wollten es eigentlich und punktgenau am Tag der 200. Wiederkehr der Freischütz-Uraufführung richtig krachen lassen. Semiszenisch sozusagen - hätte wohl geheißen: Bühnenbild und kostümierte Ausführende inkl. Publikum darum, darüber und dazwischen, also mittendrin. Zu dem Behuf wurde die weltbekannte katalanische Theatergruppe La Fura dels Baus, dass sie mit Hochspektakulärem aufzutrumpfen hätte, engagiert.

Und kam.

Und sah.

Und siegte - leider nicht (also nicht ganz so, wie man es von ihr vielleicht erwartet haben würde).

Aber das lag wahrlich nicht an ihr und ihren überbordenden Ideen, nein! es lag wohl erstrangig an dem Behelfsformat, worauf sich die Beteiligten [wegen der hinlänglich bekannten Pandemieeinschränkungen] einlassen mussten; ja und La Fura dels Baus kann seine hochspektakulären Einfälle nun einmal leider nicht in einem wie auch immer abgesonderten Livestream, egal ob über Open Air-Großbildschirmen oder am popeligen Heimrechner zuhause, kommunizieren. Diese Truppe verlangt geradezu nach einem 1:1-Kontakt mit tatsächlichem Publikum, also mit körpernahen Menschen, die von sich aus so schön schwitzen und auch dementsprechend riechen könnten wie es selbst in seinen schonungslosen Körpereinsätzen schön schwitzt und dementsprechend riecht.

Man musste schon sehr große Seher-Fantasie aufbringen, um annähernd zu erahnen, was die Truppe szenisch wollte und wie ihr das szenisch so gelang. Vor lauter pixeliertem grüngrauen oder graugrünen Dunkelsein und all dem Nebeldampf (Fernsehregie: Michael Beyer) war oft kaum erkennbar, was für bauliche und bildnerische Dimensionen für die aufwändige Produktion (Inszenierung und Bühne: Carlus Padrissa) vonnöten waren.

Eingebetteter Medieninhalt

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Immerhin - gesungen wird passabelst, am passabelsten von:

Benjamin Bruns, der einen lyrischen und überhaupt nicht angestrengten Max abgibt - zumeist erfährt man ihn mehr in Konzertsälen als auf der Opernbühne; als ich ihn das letztemal [noch vor Corona] sah und hörte, war er Chriustus am Ölberge unter Sir Simon Rattle.

Anna Prohaska überzeugt erneut als Ännchen; ich erlebte sie mit dieser Rolle schon in Thalheimers hochsonderlicher Lindenoperninszenierung; auch in München war sie irgendwie "besonders", wo sie Tcherniakov als hyperemanzipierte beste Freundin des Agath'chens persiflierte. Aktuell muss sie, außer dass sie hübsch singt, auf das unnachvollziehbar Vollidiotischste herumberlinern. Ist gewiss nicht ihre Schuld gewesen, nein, natürlich nicht.

Jeanine De Bique trägt als Agathe (im ersten Aufzug) einen Oberärztinnenkittel und sieht aus, als wenn sie gleich hinüber in die Charité müsste (Kostüm: Hwan Kim). Gottlob hat sie dieses medizinale Outfit mit 'nem schönen weißen Kleid (im zweiten Aufzug) eingetauscht. Das Wichtigste ist freilich ihre Stimme! Sie erinnerte mich stellenweise an den unverwechselbaren Sound von Jessye Norman.

Christof Fischesser (als Kaspar) macht einen soliden sängerischen Eindruck. Seine Sprecheinlagen freilich sind total gekünstelt, weil betont und extra basslastig; kann ich nicht ernst nehmen.

Besonders auffällig, auch weil gut aussehend, der Umweltengel-Eremit Tijl Faveyts'.

Und am Schluss der (Umwelt-)Oper schaufelt dann auch eine in einem Aquarium voller Plastikmüll stehende Aktivistin von La Fura dels Baus das umweltschädigende Zeugs aus dem handwarmen Wasser...

Der Rundfunchor Berlin (Choreinstudierung: Michael Alber) spielt und singt, wie eh und je, aufs Prächtigste. Dass er dann in der letzten Jägerchor-Strophe mit dem Orchester alles andere als noch zusammen war - das hatten/ haben wir bereits, aus prinzipieller Sympathie heraus, vergessen.

[Erstveröffentlicht auf KULTURA-EXTRA am 19.06.2021.]

DER FREISCHÜTZ (Konzerthaus Berlin, 14.-18.06.2021)
Carl Maria von Weber: Der Freischütz
Romantische Oper in drei Aufzügen (Libretto: Friedrich Kind)

Musikalische Leitung: Christoph Eschenbach
Inszenierung und Bühne: Carlus Padrissa – La Fura dels Baus
Mitarbeit Regie und Dramaturgie: Esteban Muñoz
Kostüme: Hwan Kim
Licht und Video: Jose Vaalina
Mitarbeit Bühne: Tamara Joksimovic
Besetzung:
Agathe ... Jeanine De Bique
Ännchen ... Anna Prohaska
Max ... Benjamin Bruns
Kaspar ... Christof Fischesser
Kuno ... Franz Hawlata
Kilian ... Viktor Rud
Ottokar ... Mikhail Timoshenko
Eremit ... Tijl Faveyts
1. Brautjungfer ... Isabelle Voßkühler
2. Brautjungfer ... Bianca Reim
3. Brautjunger ... Christina Bischoff
4. Brautjungfer ... Heike Peetz
Samiel ... Wolfgang Häntsch
Rundfunkchor Berlin
(Choreinstudierung: Michael Alber)
Konzerthausorchester Berlin
Eine Opernproduktion vom Konzerthaus Berlin.
Aufzeichnung von ACCENTUS Music in Koproduktion mit RBB und NHK in Zusammenarbeit mit Arte.
Livestream v. 18.06.2021 auf konzerthaus.de

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Geschrieben von

Andre Sokolowski

Andre Sokolowski ist Inhaber, Herausgeber und verantw. Redakteur von "KULTURA-EXTRA, das online-magazin"

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