Ums Ganze - nur nicht um Klasse

Klassismus "Sozialchauvinistisch sind die anderen": Welche*r nicht die eigene Klassenposition reflektiert, sollte nicht von "Kapitalismus abschaffen" reden.

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Vom 5.-7. Juli 2013 findet an der TU Berlin wieder ein Kongress statt, in dem es ums Ganze geht: um die Abschaffung des Kapitalismus. Ernst zu nehmen sind solche Tagungen erst dann, wenn die Teilnehmenden bereit sind, ihre eigene Klassenposition und Klassenherkunft zu reflektieren.

Davon sind die Kapitalismuskritiker*innen weit entfernt. Selbst der Begriff "Klasse" kommt in Texten wie Interveniert, denn es geht ums Ganze! nicht vor. Schon gar nicht der Begriff "Klassismus". Diesen Begriff classism benutzte das lesbische Working Class-Kollektiv Anfang der 1970er, unter anderem um klassenbezogene Unterschiede in der Linken zu benennen und zu kritisieren. bell hooks benutzte den Begriff in ihrem Buch Where we stand: Class matters, um den Mittelschichtsfeminismus anzugreifen.

Dass es Klassismus gibt, gegenüber Arbeitslose und Obdachlose, im Bildungssystem gegen Arbeiter*innenkinder, ... lässt sich nach Sarrazin kaum noch leugnen. Benannt wird dies nun aber mit dem völlig falschen Begriff "Sozialchauvinismus". Der Begriff bezeichnet eigentlich die Kritik Lenins an die Kriegstreiberei (Chauvinismus) innerhalb der Sozialdemokratie. Aber warum sollte man es mit dem Begriff so genau nehmen, wenn der Gegenstand des Begriffes auch nur der Vollständigkeit halber aufgelistet wird. Gegen Rassismus, Sexismus und Klass ... Sozialchauvinismus. Vor Sarrazin konnte noch gesagt werden: Gegen Rassismus, Sexismus und Kapitalismus. Das trauen sich heute nur noch Linke, die sowieso auch nicht von Rassismus und Sexismus sprechen, also kommt nach Sarrazin die Formel "Gegen Rassismus, Sexismus und Kapitalismus" eigentlich gar nicht mehr vor. Man will das Unterschichten-Bashing nicht ignorieren, man will aber auch nicht mit einem Begriff wie Klassismus entsprechend der Begriffe Rassismus und Sexismus zu einer Selbstreflektion aufgefordert werden können. Also nennt man das Ganze "Sozialchauvinismus" oder besser noch "Sozialchauvinismus der Eliten". Möglichst weit weg.

Solange antikapitalistische Linke nicht über Privilegien und Diskriminierungen der eigenen sozialen Herkunft und Position reflektieren, macht es wenig Sinn, über die Abschaffung des Kapitalismus nachzudenken.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Andreas Kemper

Ich arbeite als Soziologe kritisch zu Klassismus, Organisiertem Antifeminismus und die AfD

Andreas Kemper

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