Eine Bibliothek der Liebe

Heimat: In unserer Bibliothek sollte jeder alle Schriften und Bilder studieren können, um neue Gedanken zu zeugen und damit die Entwicklung von Wissen voranzutreiben

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Dieser Blog kommt aus der Zukunft. 12.07.20?? Peggy möchte die beiden Humboldt-Brüder aufheitern und hat die Sonne in den archinaut: eingeladen: Jorge Luis Borges ist zu Besuch gekommen, um seine Verehrerin zu beehren und den beiden Heimatvertriebenen den Trübsinn auszublasen. Sie haben die Picknickdecke auf der Schlossfreiheit ausgebreitet und spucken Sonnenblumenkernschalen in die Spree.

„Sprich zu uns,“ bittet Peggy den blinden Meister.


„Sehnsucht und Verlust treiben Menschen an, das gilt für Reisende und Reformer aus und in Berlin nicht weniger als für jeden anderen....... so wie auch meine Liebe zu Büchern noch mehr gewachsen ist, seit mein Augenlicht schwand; Blatt für Blatt durchstreife ich die Bibliothek von Babel auf der Suche nach einem Bruder.....Ihr dagegen dürft Euch glücklich schätzen, habt ihr einander doch nie verloren.....“ sein Deutsch ist etwas umständlich, aber auch schlanker als die Sprache seiner literarischen Werke.

„Wenn ich euch so betrachte in eurem deutschen Weh, dann möchte ich euch trösten mit einer ganz besonderen Enzyklopädie, zutreffender gesagt mit einer Bibliothek der Liebe: ich glaube nämlich, das keine andere Sprache dafür so geeignet wäre wie das endlos zerpflügte Deutschzungenmeer im Herz des vibrierenden Teppichs der Völker Europas....... und verzeiht mir bitte meine Geschwätzigkeit, ich bin ein alter Mann mit einem unendlichen Traum....“

„Wie kommst Du darauf,“ fragt Marlene interessiert, „die deutsche Sprache sei geeignet für Deine..... Bibliothek der Liebe?“

„Eure deutschen Zungen zelebrieren die Grenzen, in unendlichen Variationen strukturieren filigrane Differenzierungen das große Bild des Sprachklangs wie Brise und Welle den bewegten Ozean......... Eure Sprache hat so viele Fremdheiten akkumuliert und kultiviert in Jahrhunderten, so viele Wege der logischen Abgrenzungen, eine Sprachlandschaft mit feinen Barrieren, an einer Strömung weitläufig terrassiert wie Reisfelder in unendlich vielen Schattierungen und Färbungen, und doch stets bereit, im Vertrauten Entfremdungen zu konstruieren, einen Andersartigen, einen Abtrünnigen, einen Ungläubigen, einen Volksfeind, einen Dissidenten, einen Radikalen als Schädling zu identifizieren.....“

Deutsch ist tödlicher als ein Maschinengewehr, Recht hat er, denkt John „The Brain“.

„Sprachstämme vom Rand Europas sind über die See in fremde Sprachwelten expandiert, mutiert und wurden gestärkt durch Handel, Austausch von Stoffen, Viren und Chromosomen, andere Sprachen sind geprägt durch den Schutzmechanismus einer ethnischen Minderheit oder beschränkt durch geografische Grenzen. Das deutsche Haus aber entzündet sich immer wieder von selbst unter Druck wie ein ölgetränkter Stoffballen, im steten Pendelschlag zwischen Kleinstaaterei und Allmachtsphantasien, dicht gepackt treiben Denk- und Sprachschollen durch einen Raum der Entropien, Enttäuschungen und Konflikte.........glaubt mir, es wäre ein lohnendes Ziel in dieser reichen Sprache einen umfassenden Katalog neuer Liebeswörter zu erfinden und zu pflegen.“

Ernst Jünger schaut skeptisch, die logischen Unschärfen des phantasievoll ausschweifenden Kosmenschöpfers Borges sind ihm nicht geheuer.....so naiv, zuviel Mystik, denkt Jünger.

„Betrachten wir nur einmal die Liebe des Lesers zu seinem Text, Silben fügen sich zu Sätzen und zu einem Sinn, zu Klängen und Bildern, ganze Enzyklopädien könnte man füllen allein mit der Beschreibung dieser literarischen Liebe. Wenn ihr sucht werdet ihr ein deutsches Wort dafür finden. Ganz anders wirkt die Liebe des Autors zu seinem Text, die Liebe des Komponisten zu seiner Notation, die Liebe des Architekten zu seinen Skizzen........“

„Wo bleiben die Menschen in Deiner Welt, verehrter Borges?“ fragt Marlene vorsichtig nach. „Ich werde euch nicht vergessen, meine Göttin...“ erwiderte der blinde Sänger.

„Wenn man in die deutsche Sprache reist, sind lebensfeindliche Salzwüsten zu durchqueren, Leibniz, Kant, Hegel, Schopenhauer, Marx, nur um einige Beispiele zu nennen, bevor man an die deutsche Seele rühren darf.......erleichterten Zutritt haben Freunde aus den Ländern zwischen Moldau und Donau, an Wolfgang Amadeus Mozart denke ich zum Beispiel, an Sigmund Freud, Franz Kafka....... Billy Wilder ist es leider nicht mehr gelungen.....auch er liebte die deutsche Seele, hat dann aber wegen der Nazi-Stimmung Berlin verlassen wie so viele andere.“

„Niemand lässt sich vorschreiben, was zu lieben ist und was zu hassen ist, das ist bei Insekten nicht anders als bei Menschen,“ wirft Jünger jetzt ein, „die großen idealistischen Erziehungs-Projekte sollten wir aus heutiger Sicht doch als gescheitert betrachten!“ El Lissitzky denkt an die Elektrifizierung der Sowjetunion, aber irgendwie erscheint ihm dieser Hinweis gerade nicht passend.

Borges lächelt leise: „Dann wäre die deutsche Seele also unveränderlich geprägt.... der Tod ist ein Meister aus Deutschland,“ zitiert er, nicht ohne eine gewisse Ironie. „Wie soll man also die Liebe nennen, die den aufgegebenen Preußen Karl Marx durch sein weites Werk trieb? Die Liebe zur Erkenntnis, die Liebe zu einem stimmigen Gedankenbau, die Liebe zu einem gerechteren Sozialsystem, die Liebe zum Menschen nicht zu vergessen, liebe Marlene.... welches Wort mag die deutsche Sprache dafür finden? Wie wird man die Liebe benennen, die Max Planck veranlasste, Albert Einstein nach Berlin zu holen? Und wie soll man die Liebe nennen, mit der die denkende, sprechende Welt Einsteins Relativitätstheorie aufnahm? Seine Arbeit hat die Grenzen des Denkens erheblich erweitert, mag man sie nun als deutsch, international oder als philosophische Mathematik betrachten.“

„Wie andere ist auch er aus Deutschland fort gegangen, in Deiner Bibliothek der Liebe könnten viele Bücher fehlen...“ spöttelt Ernst Jünger, das Lied von Sehnsucht, Verlust und Grenzen alarmiert ihn irgendwo im Innersten zutiefst. Mies notiert einige Worte in seinem Skizzenblock, dazu ein paar Striche. Man kann nicht erkennen, was in ihm vorgeht.

Peggy befürchtet, dass ihr Picknickgespräch eine unfreundliche Richtung einschlägt: Warum müssen die blöden Kerle immer nur ihre verdammten Reviere markieren, denkt sie und fragt: „Lieber Meister Borges, vor Euch sitzen Alexander und Wilhelm von Humboldt, die nach Berlin zurückgekehrt sind und um ihr Lebenswerk fürchten. Gibt es Hoffnung?“

„Wir haben doch eine Universität der Liebe gegründet...... in unserer Bibliothek sollte jeder alle Schriften und Bilder studieren können, um neue Gedanken zu zeugen und damit die Entwicklung von Wissen und Unabhängigkeit von Mensch zu Mensch voranzutreiben,“ so greift Wilhelm den Faden auf.

„Ich habe immer das fremde Unbekannte geliebt,“ kommt es von Alexander: „und ich wusste, wenn ich es berühre, dann geht es verloren.“

„Darf ich Dich zitieren, lieber Wilhelm?“ fragt Borges:


Ich lieb’ euch, meiner Wohnung stille Mauern,

und habe euch mit Liebe aufgebauet:

wenn man des Wohners Sinn im Hause schauet,

wird lang nach mir in euch noch meiner dauern.


„Ein Schloss verändert sich mit jeder Generation,“ sagt Borges schließlich,

„Nur Zombies lieben tote Schlösser.“



Hier endet der 10. Eintrag: Dieser Blog ist fiktiv und getrieben von automatischer Niederschrift. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO: Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleiben Sie dran.

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Geschrieben von

archinaut

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