Erinnerung an Edathy

Tauchfahrt ...die Vergangenheit leuchtet dunkel

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Nicht jede Erinnerung öffnet sich leicht wie eine Schranktür: kurz ziehen, das Licht fällt ein und der gesuchte Pullover liegt für Dich bereit… nein, vielleicht kennt Ihr das, ein Wort, ein Name klingt wie schon mal gehört, irgendwann benutzt, ein Suchstrahl streift knapp durch die Erinnerungen, aber nein, da ist wohl nichts, vielleicht eine zufällige Ähnlichkeit im Klang oder eben ein Name, den es öfter gibt, ein Name wie Schröder zum Beispiel. Wie viele Schröders hast Du in deinem Leben schon kennen gelernt?

Und dann begegnet Dir der Name ein zweites Mal, noch ein drittes Mal, und irgendwann kommt doch ein Echo aus dem tiefen Raum Deines Gedächtnisses, eine Bestätigung: da war was!

Leider ist mein Gedächtnis nicht so organisiert wie das von Jill Price, bei der das hyperthymestische Syndrom zum ersten mal beschrieben wurde: Die Bilder in meinem Kopf kann man sich wie einen vielfach unterteilten Fernsehschirm vorstellen. Dort laufen in einer Endlosschleife Filme parallel ab. Als hätten Kameras Episoden meines Leben aufgenommen, die nun zugleich abgespielt werden.

Nein, ich muss suchen wie in einer alten Bibliothek, deren Kammern, Galerien und Säle sich mit jedem Erkundungsgang wieder neu erschließen, seit dem letzten Besuch wurde scheinbar umgebaut, das Licht fällt anders, die Sortierung der Dokumente verändert sich mit den Jahreszeiten, an manchen Tagen finde ich einen Plan nicht, der doch gerade vor kurzem abgelegt wurde, und im Gespräch mit alten Freunden entdecke ich an Frühlingsabenden ganze Archive an Nachgedanken, die verschüttet und verloren schienen.

Jede Lebensphase, jede neue Stadt, jede Gruppe und jedes Projekt hinterlässt Archive und Netze im inneren Gedanken­raum, der wächst wie eine ganze Stadtgesellschaft und sich in den Depots unserer Schädelhöhle verdichtet, solange wir leben und erkennen: Vergessen ist überlebensnotwendig, die Speicherung aber bleibt lebenslang. Und wir wissen ja auch, dass viele Erinnerungen aus der Kindheit fest versiegelt bleiben, verkorkt wie im Märchen vom Flaschengeist, um böse Mächte wegzusperren, Scham oder Angst und Schmerz.

Edathy also…. ein Name aus den weiteren Umlaufbahnen der politischen Provinz, kaum beachtet, gelegentlich vielleicht als Erwähnung in Nachrichten, ein Name nur ohne Gesicht, ohne Stimme lange für mich über Jahre. Aber doch ein Echo aus der Erinnerung, grob ein Ort, eine Zeit irgendwann in der frühen Jugend, aber noch keine feste Einordnung…. Eine Namensgleichheit, was sonst?

Edathy nun also…. irgendwann in den letzten Wochen hat es mich doch gereizt herauszubekommen, wo ein Mensch mit diesem Namen eine Spur in meine Erinnerungen geschrieben hat. Ich folge der Fährte in die Tiefen der Erinnerungskammern.

Nach einiger Grübelei stelle ich überrascht fest, dass die losen Fäden zwar zu Menschen und Gesichtern führen, die ich irgendwann zwischen meinem zehnten und fünfzehnten Lebensjahr gekannt habe, die aber definitiv andere Namen trugen, und ich bin etwas verwirrt, dass Ariadnes Faden sich unter meinem suchenden Blick so leicht verflüchtigt hat.

Edathy: warum liegt dieser Name verborgen wie in einem Geheimfach, frage ich mich, und bin doch sicher, dass ich irgendeinen Menschen kannte, der diesen Namen trug, als ich noch ganz jung war…

Als Kinder haben wir Gemeinheit erfahren, aber wir selbst sind auch grausam gewesen, haben atavistische Rituale geübt, für die wir uns später schämen müssen… Als ich nach einem Umzug auf eine Oberschule in Hannover wechselte, erlebte ich zum ersten Mal den üblen Brauch der Klassenkeile, der ein bestimmter Mitschüler fast täglich ausgesetzt war…. Den Grund weiß ich bis heute nicht, aber ich erinnere mich noch gut an meine Scham: dass ich ihm damals nicht geholfen habe…Bei Wikipedia ist die Klassenkeile zwar nicht mehr zu finden, aber die Menschen sind nicht freundlicher geworden, gemobbt wird heute nicht nur in der Schule….

Wir haben auch die Lehrer gemobbt, am liebsten die schwachen, die sich nicht wehren konnten: Und da steht er auf einmal, der kleine freundliche Mann, der schwer zu verstehen ist, unser Religionslehrer aus Indien, gelangweilt und fremdbeschäftigt haben wir ihn reden lassen da vorne in gebrochenem Deutsch, wenn er uns von den verfolgten Christenminderheiten erzählen wollte, und um ganz ehrlich zu sein, hatten wir nicht das Gefühl, dass uns der kleine dunkelhäutige Pastor Edathy überhaupt etwas zu sagen hatte, deswegen war es im Klassenraum immer so laut, dass ihn niemand verstand.

Nachtrag zum Nachtrag vom 04.12.2012: Hinter uns liegen die Chronolysen... die Timeline im Blog archinaut: ist inzwischen justiert. Dieser Blog berichtet aus Deiner Welt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich werde Euch nicht schonen. Öffne Deine Augen.

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Geschrieben von

archinaut

Ein Blick weitet den Horizont: Dieser Blog zieht um die deutschen Häuser

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