Flaschenpost zum Stern der Ungeborenen

Brief: .... der Korken gesichert mit Siegellack

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Ihre Freitag-Redaktion

Liebe Tochter der Nacht,

liebe Tochter der Sonne,

Mütter der noch Ungeborenen,

wundert Euch nicht über das letzte Wort, lasst mich kurz erklären:

In den letzten beiden Jahren des Zweiten Weltkriegs schrieb Franz Werfel den Reiseroman Stern der Ungeborenen, in dem er das Leben der Menschen in hunderttausend Jahre beschreiben wollte... wie eigenartig, dass er diesen Roman in deutscher Sprache verfasste in einer Zeit, da deutsche Gewalt das alte Europa vernichtete. Aus dem deutschböhmischen Prag führte Werfels Lebensweg über Leipzig und Wien, vor den Nazis floh er mit seiner Frau nach Südfrankreich, später nach Lourdes, dann zu Fuß über die Pyrenäen nach Spanien und Portugal, von dort emigrierten sie in die USA, wo Werfel in Hollywood starb, als Hitler sich tötete, die Deutschen endlich kapitulierten und die beiden Bomben über Hiroshima und Nagasaki gezündet wurden... vielleicht erschrieb er sich mit diesem Buch auch die Hoffnung, mit seiner Dichtung die Option Zukunft am Leben zu halten, für die Sehnsucht, dass es auch in hunderttausend Jahren noch Menschen auf dieser Erde gebe... und so schreibe ich heute an Euch, an Eure ungeborenen Kinder und Enkel... ohne zu wissen, ob Euch und die Anderen, Folgenden diese Worte, diese Buchstaben, diese Gedanken noch erreichen.

Aber ich möchte gerne glauben, dass Erinnerungen und Hoffnungen immer noch ein Band zwischen uns allen knüpfen können.

Wir lieben, was uns braucht, in die Welt zu kommen. Wir lieben die Menschen, die uns brauchen, wir lieben die Arbeiten, durch die wir selbst in die Welt kommen. Und weil wir die Sprache brauchen, um in die Welt zu kommen und von unserer Liebe zu erzählen, wird die gemeinsame Sprache sein, was am längsten bleibt.

Vielleicht können wir lernen zu lieben ohne zu zerstören.

Denn das weiche Wasser bricht den Stein.

Diesen Brief schreibe ich in der Ahnung, gescheitert zu sein: als Vater, der seine Kinder verloren hat, als Liebender, der den Schlüssel nicht mehr findet, als Architekt, der kein Haus mehr bauen wird, ein Sänger, der keine Stimme hat und doch vom Singen träumt, ein Tänzer, der die Musik nicht mehr hört... Es mag ja selbstsüchtig und eitel sein, zu bauen, unvorsichtig und blauäugig.... aber wer sich keine Heimat schaffen kann, sollte wohl keine Kinder in die Welt setzen.....

Für meine Arbeit habe ich Euch viel zu oft allein gelassen, Ihr seid herangewachsen, Eure Sorgen und Freuden habe ich nur in kurzen Momenten geteilt, und heute schmerzt mich, dass ich Euch nicht mehr Geduld und Aufmerksamkeit gab. Mein Büro habe ich nun verloren, damit auch meine Arbeit und meinen Beruf.

Ein Haus zu bauen fehlte mir vielleicht Glück, die materielle Ausstattung oder das, was man heute Durchsetzungsvermögen nennt, also der Mut zur Gewalt... so der Vorwurf Eurer Mutter. Viele Häuser gründen in erstarrter Gewalt.... Architektur ist gefrorene Musik, behauptet man ja auch leichthin, ohne die Todesdrohung in diesem Wort zu erkennen.

Macht setzt Stein.

Und weil ich keine Musik mehr höre, ist mir irgendwann das Tanzen vergangen. Jetzt suche ich neue Freunde.

Denn das weiche Wasser bricht den Stein.

Vor einer Generation fiel der Eiserne Vorhang... aber unsere Mächtigen haben nichts gelernt: auf’s Neue rüsten sie das eiserne Herz der Republik.

Sogar ein Schloss bauen sie dieserzeit wieder in Berlin, und ich habe lange nicht danach gefragt, was ihr Plan mit mir und unserem Leben zu tun haben könnte. Vielleicht ist es eine Berufskrankheit der Architekten, für Geld alles zu planen und den Auftrag nie zu hinterfragen.

Inzwischen habe ich erkannt, was dieses Schloss Euch lehren soll.

Dass Ihr ein Erbe unterhalten sollt, welches Ihr nicht ablehnen dürft.

Dass sie Euch in Haftung nehmen für ihre Schulden.

Dass jede Anstrengung sinnlos ist.

Ja, viel früher hätte ich mich sorgen sollen, was in der Hauptstadt entschieden wird. Für Euch oder gegen Euch. Mag sein, es ist zu spät.

Aber das einzige, was die Generationen, Frauen und Männer, die Gegangenen und die Kommenden versöhnen kann, sind die Stimmen: Die Rede muss fließen, kein Stein kann sie fangen.... wir weben in einer Kette, deren Anfang und deren Ende wir nicht kennen.

Die Zukunft wird grauenhaft, hört man, aber das stimmt nicht. Duldet nicht, was noch im Weg steht.... niemand darf Euch die Zukunft nehmen!

Das weiche Wasser bricht den Stein.

Und grüßt bitte Eure Mutter

Hier endet der 363. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion mit Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleib dran.

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Geschrieben von

archinaut

Ein Blick weitet den Horizont: Dieser Blog zieht um die deutschen Häuser

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