"Bestrafen der Armen" : Ein mutiges Buch

Buchbesprechung Loïc Wacquant beschreibt wie wir es im Zeitalter des Neoliberalismus zunehmend mit einem Regime der sozialen Unsicherheit zutun haben. Überflüssige werden niedergedrückt.

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Wer von uns sich noch einen kritschen Menschenverstand bewahren und nur deshalb nicht durch lobbygesteuerte Meinungsmache und auf die Massen aus fast allen Rohren schiessenden Medienmainstream auf falsche Wege bzw. hinter die Fichte geführt werden konnte, dürfte durch das hier zu besprechende Buch vollends aufwachen. Und es am Ende mit ziemlicher Sicherheit tief erschrocken und bedrückt wieder zuschlagen.

Wohin mit den Überflüssigen?

Das Buch ist nicht gerade als Sommerurlaubslektüre zu empfehlen. Es sei denn man reist in ein sehr heisses Land. Denn, schlägt man es auf, entströmt ihm nahezu aus jeder Seite ob des dort Beschriebenen eine gewaltige (soziale) Kälte, die einen selbst bei 45 Grad Hitze zum Bibbern bringen dürfte. Was aber dem darin abgehandelten Thema und nicht dem Autor des Buches geschuldet ist. Er ist nur der Überbringer der schlechten Nachrichten. Der Rezensent warnt: Dieses Buch kann Depressionen auslösen! Seit mindestens zwei Jahrzehnten gewinnt über uns der Neoliberalismus mehr und mehr die Oberhand. Nur wenige profitieren davon. Viele geraten dagegen auf die Verliererstrecke. Sie verarmen. Wohin mit ihnen? Was machen mit den Überflüssigen (das Wort klingt in Verbindung mit Menschen zynisch, gibt jedoch nur wieder wie neoliberale Denke zu verstehen ist), die das neoliberale, vorgeblich alternativlose, Gesellschaftsmodells am laufenden Band produziert? In Europa haben wir (oder muss man mittlerweile ehrlicher schreiben: hatten?) immerhin den über viele Jahrzehnte hart und einst auch mit Todesopfern hart erkämpften Sozialstaat. Einen Sozialstaat, der arbeitslos gewordene oder nicht arbeitsfähige Menschen in einem sozialen Netz auffängt und diesen so ein Leben in Würde ermöglicht. Mit einem Male schien das aber nicht mehr möglich. Als ein Grund wurde uns die Globalisierung - Stichwort: Wettbewerbsfähigkeit - verkauft. Von einem Tag auf den anderen galten die aus der (Arbeits-)Welt gefallen Mitmenschen sozusagen als Schmarotzer, die auf Kosten der für Geld hart arbeitenden Menschen, lebten. Die Menschen, die anscheinend nicht arbeiten wollten (obwohl gar nicht genügend Arbeitspätze für sie da waren!), tönte die Politik - angetrieben von Arbeitgeberverbänden - bräuchten Anreize um eine Arbeit aufzunehmen.

Wie die US-amerikanische Saat selbst bei Sozialdemokraten fruchtet

In Deutschland entblödete sich ein Sozialdemokrat - der frühere Arbeitsminister Franz Müntefering in der rot-grünen Regierung von Gerhard Schröder und Joschka Fischer) vor dem Hintergrund der Hartz-Gesetze (Agenda 2010) nicht einen Satz wie diesen auszusprechen: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen." Betreffs diesen Satzes verwies Müntefering einerseits auf die Bibel bzw. den SPD-Gründer August Bebel. Jedoch geht man mit beiden Quellen bezüglich des Münterfering-Satzes fehl. Weder Bibel noch Bebel könnte man sagen. In der Bibel steht "Wenn jemand nicht arbeiten will, soll er auch nicht essen". Bebel seinerseits bezog sich in "Die Frau und der Sozialismus wie Jens Berger (NachDenkSeiten) in anderem Kontext neulich klarstellte "nicht auf die Ärmsten der Gesellschaft, sondern auf die Oberschicht, die "Nichtarbeiter und Faulenzer der bürgerlichenWelt". Wie auch immer: Der Aufschrei in der deutschen Gesellschaft ob des Münterferingschen Sagers blieb damals - die Linkspartei ausgenommen - eher verhalten..

Viele Leute, vornehmlich die, die noch in Lohn und Brot waren, also täglich hart arbeiteten, hielten ihn sogar offenbar für richtig. Sollten die in der "sozialen Hängematte" liegenden Mitmenschen doch etwas tun für das Geld vom Staat! Diese Leute waren manchen doch schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Und das Schlimme an diesem US-amerikanischen Gedankengut: Es fruchtet nicht selten gar bei denen von Kujonierung jenes nach Westeuropa importierten Betroffenen jenes Systems. Ich selbst hörte einmal gewiss selbst prekär bezahlte Wachleute auf dem Hauptbahnhof in Dortmund sagen: Besser so arbeiten als arbeitlos zu sein. Sie realisierten nicht, dass die Allgemeinheit die Prekarisierten als sogenannte "Aufstocker" zuätzlich finanzieren (im Grunde doch eine Subvention!) muss, während der private Arbeitgeber am Lohn spart, was seinem Profit zugute kommt. Endlich, so meinten damals viele in Deutschland, noch mit anständig entlohnten Arbeitsverhältnissen, griff der Staat mal durch! Bei denen, die dem Staat angeblich auf der Tasche liegen. Die Medien sorgten mit einem Dauerfeuer dafür, dass diese Sicht in die Köpfe der Menschen gehämmert wurde. Dieses hier erwähnte Beispiel kommt nicht im hier vorgestellten Buch vor. Es zeigt jedoch, wie diese im US-Labor entwickelte Saat ganz und gar von Sozialdemokraten oder Sozialisten - sei es in Deutschland oder in Frankreich - als anscheinend rettenden Strohhalm ergriffen und per Gesetz in die Tat umgesetzt wurde. Wo es doch die eigentlich Aufgabe der Sozialdemokratie gewesen wäre, derlei Sozialkahlschlag zu verhindern ...

Woher die Inspirationen für die westeuropäischen Sozial"reformen" kamen

Nun aber zum Buch "Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit" von Loïc Wacquant. Schon nach wenigen gelesenen Buchseiten beschleicht einen nicht nur ein mulmiges, und immer mulmiger werdendes Gefühl, sondern man ahnt schon sehr bald woher europäische Regierungen der letzten Jahrzehnte (darunter ausgerechnet sozialdemokratische wie die von Labour in Großbritannien und der SPD geführte in der BRD) ihre Inspirationen für Sozial"reformen" her haben: Aus dem Land unbegrenzten Möglichkeiten, den USA! Immerhin muss man ihnen zugestehen ganz so brutal wie die US-Amerikaner haben sie es dann doch nicht getrieben. Was damit zusammenhängt, dass der Sozialstaat in den europäischen Ländern einen ganz anderen Stellenwert besitzt. Während es in den USA im Grunde nie etwas vergleichbares wie diesen europäischen Sozialstaat gab. Dort setzte man eher auf welfare, auf Wohlfahrt. Und den Almosenstaat.

Wiederauferstehung eines Leviathans

Der Autor des Buches, Loïc Wacquant, Soziologieprofessor an der Berkeley University of California und Wissenschaftler am Centre de Sociologie Européenne in Paris, hat in seinem bereits im Jahre 2009 in 1. Auflage und nun in 2. Auflagen erschienen Buches die zunächst in den USA ins Werk gesetzte und dann quasi nach Europa übergeschwappte Ausweitung des Strafrechtsstaats, welcher der sukzessive Abbau des Sozialstaates, die damit verbundene Zunahme sozialer Unsicherheit, voranging beschrieben. Wacquant stellte fest, was einem im ersten Moment womöglich einigermaßen absurd vorkommen will: Nämlich, dass ein Zusammenhang zwischen dem Abbau des Sozialstaates und der Ausweitung eines verstärkter strafenden Staates besteht. Eines "neuen" Strafrechtsstaates namentlich, der hauptsächlich in den USA zu beobachten ist, worin die Gefängnisse dazu missbraucht werden, die Überflüssigen der neoliberalen Gesellschaft aus dem Blickfeld der Gesellschaft zu verbannen. Und dies nachdem auch in den USA etwa in den 1960er Jahren sich die Erkenntnis durchgesetzt hatte, das übermäßig strenges Strafen nicht unbedingt zur Verringerung oder gar einer Verhinderung von Kriminalität führt. Es begann also ein (nicht nur in dieser Beziehung) gesellschafltiches Rollback. Wacquant schreibt in diesem Kontext von der Wiederauferstehung eines Leviathans. Eines, nach Thomas Hobbes, kirchlichen und staatlichen Gemeinwesens. Hobbes lehnte sich dabei an das biblisch-mythologische Seeungeheuer Leviathan an. Gegen dessen Allmacht soll jeder menschliche Widerstand zwecklos gewesen sein. Allein Gott konnte es schliesslich unternehmen, dieses schreckliche Wesen zu töten. Nach Hobbes Leviathan war dieser ein Souverän, der über Land und Leute mit sozusagen eiserner Knute herrschte. Ein Körper, der aus den Menschen besteht, welche in den Gesellschaftsvertrag eingewilligt hatten.

Das im US-Labor Ausprobierte - Von welfare zu workfare

Es dämmert einen als Leser von Wacquants Buches rasch: Was in dessen Vorwort steht, "Die USA" dienten (und tun dies wohl auch weiterhin) "als Labor für die neoliberale Zukunft", stimmt. Wenn wir Augen haben zu sehen, können wir die im US-Labor ausprobierten "Züchtungen" an unseren Gesellschaften an unseren vielleicht im Vergleich zu denen (noch) etwas schwächeren Nachzüchtungen ablesen.

Eine jener US-"Züchtungen", die im weiteren Verlauf Züchtigungen in Form von Sanktionen heraufbeschwören können (für den Fall, dass Menschen nicht spuren wie es die verschärften Gesetze vorsehen) ist in der US-armerikanischen Abkehr von welfare (Wohlfahrt), welche über die Jahre hinweg zunehmend von einem System des workfare abgelöst wurde. Der Begriff Workfare ist in Anlehnung an Welfare entstanden. Er bezeichent laut Wikipedia "ein arbeitsmarktpolitisches Konzept, welches staatliche Transferleistungen mit einer Verpflichtung zur Arbeitsaufnahme verknüpft. Das in den Vereinigten Staaten in den 1990er Jahren entstandene Modell zielt darauf ab, ohne zusätzliche Qualifizierungsmaßnahmen „möglichst viele Transferbezieher dazu zu bringen, eine unsubventionierte Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt anzunehmen". Der deutsche Sozialdemokrat Müntefering drückte es weniger verschwiemelt aus: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen." Das US-amerikanische workfare stand also gewissermaßen Pate für die bundesdeutsche Agenda 2010. Dass die von diesem System unter die Knute genommenen Menschen in den seltensten Fällen wieder auf dem "regulären Arbeitsmarkt" Fuß fassten wurde von den Müttern und Vätern der damit verknüpften Gesetze verdrängt. In zwar etwas abgeschwächter Form ist es mit diesem System in praxi jedoch wie den USA: Bekämpft wird im Grunde genommen nicht die Armut, sondern die Armen.

Würdige, Unwürdige und die "Gefängnisbulimie"

Der Autor hat den Strafrechtsstaat in den USA einer gründlichen Analyse unterzogen. Damit gewinne man, schreibt er auf Seite 41, "unentbehrliches Material für eine historische Anthropologie der sich derzeit vollziehenden Erfindung des Neoliberalismus, denn seit dem Bruch Mitte der 1970er Jahre war Amerika der theoretische und praktische Motor der Entwicklung und weltweiten Ausbreitung eines politischen Projektes, dessen Ziel es ist, alle menschliche Tätigkeit der Vormundschaft des Marktes zu unterstellen". Das bedeutet eben auch die Menschen in "Würdige" und "Unwürdige" einzuteilen. Will sagen: Nützliche und überflüssige Menschen. Millionen Menschen dümpeln in den USA von prekären Job zu prekären Job. Wieder andere landen wegen der eingeführten "Nulltoleranz" schon wegen Bagatelldelikten im Gefängnis. Neben dem die Menschen drückenden und unter Kontrolle stellenden und bei Verstössen gegen die Auflagen sanktionierendem System des workfare kommt für einen Teil der Überflüssigen ein anderes in Anwendung, das prisonfare. Der Autor spricht von einer "Gefängnisbulimie". Seit den 1970er Jahren stieg die Zahl der in den USA Inhaftierten stetig an. Nach der Reform des Sozialstaats in der Amtszeit des Präsidenten Bill Clinton im Jahre 1996 bei der die Ärmsten der Armen noch einmal tiefe Einschnitte hinnehmen mussten, erfolgte überdies eine Verschärfung des Strafrechts. Sicherheitsfirmen hatten Hochkonjunktur. Private Gefängnisse - geradezu einr regelrechter Gefängnisinkomplex entstand - hatten sozusagen Hochkonjunktur. Wacquant nimmt den Leser mit auf eine düstere Reise in das "US-amerikanische Gefängnis-Archipel". Gefangene werden zwischen den einzelnen Bundesstaaten hin und her verschoben. Die Anstalten seien, notiert der Autor, nicht selten bist zum Bersten überfüllt. Einmal ist davon die Rede, wie Neuankömmlinge vor Gefängnissen mit Bussen sogar hin- und hergekarrt werden (müssen), bis endlich wieder Plätze im Knast frei werden. Die frischen Gefangenen dürfen dabei die Busse auch bei brütender Hitze nicht verlassen. Nicht selten sind sie gezwungen darin zu urinieren. In ihrer Platznot griff New York sogar auf Gefängnislastkähne zurück. Unmenschliche Zustände, die den Leser tief beeindrucken, ja: im Innersten bedrücken! Diese Zustände bedenkend, dämmert einen an mancher Buchstelle, woher das kommen mag, dass Gefangene der USA in Guantánamo und anderso wie Vieh oder noch schlimmer behandelt werden. Manches mal möchte man ob des Beschriebenen angewidert und wütend das Buch sinken lassen. Doch nur Mut: Wir sollten diese Zustände und die "Denke" die sich hinter diesem menschenunwürdigen System steht unbedingt zur Kenntnis nehmen. All dies hat auch mit der Geschichte der USA zu tun, wie Wacquant ausführt. Gewiss auch mit der Sklaverei und der Rassentrennung.

Scheinlösungen, der Einfluss der Medien und intellektueller Schwindel

Uns Europäer sollte vor allem schwer zu denken geben, wieso einige unserer Regierungen (und von denen ausgerechnet auch noch sozialistisch, sozialdemokratisch geführte wie die von Lionel Jospin (Frankreich), Tony Blair (Großbritannien) und BRD (Schröder) Anleihen beim US-amerikanischen workfare und prisonfare genommen haben. Gewiss hat dies mit neoliberalen Einflüsterungen seitens Kapital und Großkonzernen zu tun. Wacquant geht besonders auf das Beispiel Frankreich bezogen sehr genau darauf ein. Dabei kommt ihm (und uns) zugute, dass er sowohl in den USA als auch in Frankreich forscht. Hauptsächlich dort, konstatiert er, sei diese US-amerikanische Nulltoleranz-Politik und Wegsperrmentalität stark abgekupfert worden. Auch andere westeuropäische Politiker seien regelmäßig in die USA gepilgert um sich von diesem System überzeugen zu lassen und in der Heimat schließlich als Heilmittel zu preisen. Dabei entbehren diese US-amerikanischen Heilmittel, erfahren wir, hauptsächlich die angeblichen Erfolge auf dem Gebiet der Kriminalitätsbekämpfung meist jeder wissenschaftlichen Untermauerung. Rückgänge von Kriminalität - so etwa die der Stadt New York betreffend, welche dem Bürgermeister Rudolph Guiliani zugeschrieben werden - hätten ganz andere Ursachen. Das Wegsperren sei viel mehr politisch gewollt. Auch gauckelten gewisse Fernsehsendungen die Notwendigkeit und Nützlichkeit dessen tagtäglich vor. Es werde damit auch ein bei den Zuschauern vorhandener Voyeurismus bedient. Denen würden Schreckensszenarien präsentiert. Immer wieder auch über der angeblich an jeder Ecke lauernden Gefahr durch Kinderschänder. Ehemalige Straftäter werden in den USA in manchen Bundesstaaten für jedermann öffentlich gemacht. Förmliche Hetzjagden finden statt. Dabei hat die medial und durch manche Law-and-order-Politiker heraufbeschworene Gefahr überhaupt nichts mit der Wirklichkeit zutun. Längst schwappt Ähnliches nach Europa über. Auch Theorien, wie die dass jede noch so kleine Tat, etwa ein von jemanden zerschlagenes Fenster (Broken-Windows-Theorie) automatisch weitere, sogar schlimmere, Verbrechen auslöse. Dazu zählt auch die Ausweitung des Nehmens von DNA-Proben auch von Tätern, welche keine Sexualstraftaten begangen haben.

Äußerst bedenklich ist, dass derlei Theorien (offenbar auch gegen den Rat von hiesigen Wissenschaftlern, die es aus Praxisstudien besser wissen) aus den USA nach Westeuropa importiert werden! Loïc Wacquant schreibt auf Seite 273 "In Wirklichkeit sind die vier Hauptsätze der neuen Sicherheitsbibel 'made in USA', die nun überall in Westeuropa Verbreitung findet, bar jeder wissenschaftlichen Gültigkeit, und ihre praktische Wirksamkeit beruht auf einem kollektiven Glauben, der jeder realen Grundlage entbehrt. Aber dergestalt miteinander verknüpft, funktionieren sie als weltweite Abschussrampe für einen intellektuellen Schwindel und eine Übung in politischen Taschenspielertricks, die, indem sie einem extensiven Polizeiaktivismus eine pseudo-akademische Beglaubigung erteilen, massiv zur Legitimierung der Wende zum strafrechtlichen Management der sozialen Unsicherheit beitragen, die der Staat durch seinen sozialen und ökonomischen Rückzug allerorts erzeugt".

Ein Sozialstaubsauger, der den menschlichen Abfall beseitigt

Dazu gehört trauigerweise, was Wacquant auf Seite 278 im Hinblick auf die Verhältnisse in Frankreich ("Wegsperr-Verirrung á la francaise") sagt: "Doch der Einsatz des Gefängnisses als eine Art Sozialstaubsauger, der den menschlichen Abfall der derzeitigen ökonomischen Transformation beseitigt und die Schlacke der Marktgesellschaft - die kleinen Gelegenheitsgauner, die Arbeits- und Mittellosen, die Obdachlosen und die Immigranten ohne Papiere, die Drogenabhänigen, Behinderten und psychisch Kranken, die durch die Maschen des ausgleierten Netzes von Gesundheitswesen und sozialer Sicherheit gefallen sind, sowie Jugendliche aus den Unterschichten, die durch die Normalisierung der prekären Lohnarbeit zu einem Leben mit marginalen Jobs und Durchwursteln bestimmt sind- aus dem öffentlichen Raum entfernt, ist eine Verirrung im strengen Sinne des Wortes, eine "abberration", wie sie das Wörterbuch der Académie francaise aus dem Jahre 1835 definiert: eine "geistige Verwirrung" und ein "Irrtum", politisch wie strafrechtlich."

Das Regieren mit der sozialen Unsicherheit: letzten Endes demokratiezersetzend

Zum Ende kommt der Autor mit "Theoretischer Schlusspunkt: Ein Abriss des neoliberalen Staates". Wir erfahren noch einmal wie soziale Unsicherheiten dem neoliberalen System sozusagen zuarbeiten. Wie "workfare" und "prisonfare" dabei ihren jeweiligen perfiden Zweck erfüllen und zusammenkommen (ab Seite 293), sowie welche "theoretische (Nach-)Wirkungen dabei zu konstatieren sind. Und wie mit dieser sozialen Unsicherheit regiert wird, um die Überflüssigen in der Gesellschaft zu binden, aus dem Gesichtsfeld der Gesellschaft zu vertreiben, sie irgendwie zu vernutzen oder im Gefängnis wegzusperren mittelles eines rigorosen Strafrechtsstaates. Viele Menschen kommen aus diesem Teufelskreis nicht mehr heraus. Nicht Wenige stolpern von "workfare"- ins "prisonfare"-System. So oder so geraten sie zwischen eine Art von Mühlsteinen, werden psychisch und physisch zermalmt. Mehrmals im Buch muss man sich fragen: Warum machen die Menschen das eigentlich mit? Wieso begehren sie nicht zu Millionen auf? Das neoliberale System fördert die Schwächung des Staates (in den USA ohnehin von jeher nicht gut angesehen). Jedoch - und das scheinen selbst manche Linke nicht zu bemerken: Der Staat wird vor allem betreffs einer gerechten Sozialpolitik amputiert und seiner Mittel beraubt, die etwa der Bekämpfung von Wirtschaftsverbrechen dienen. Die Weltwirtschafts- und Finanzkrise ist das beste Beispiel: Wer von den daran Schuldigen wurde für Millionen in die Armut gestürzte Menschen zur Rechenschaft gezogen? Das staatliche Gewaltmonopol wird allerdings da und dann verschärft, wenn es um das Niederhalten eventuell aufbegehrenden Massen von Armen geht. Sogar können sich manche Politiker den Einsatz der Armee zur "Aufstandsbekämpfung" denken.

Das Buch zeichnet ein düsteres Bild von der Realität. Es nicht erfunden. Es ist immer da. Nur nicht alle von uns wollen oder können es sehen. Wir alle jedoch sollten nicht wegsehen, sondern uns unsere Gedanken machen und Schlüsse daraus ziehen. Das vom Autor nach gründlichen Forschungen gefertigte Bild denkt in den vergangenen zwei Jahrzehnten neoliberalistischen Wütens zutage getretene Erscheinungen zusammen, die auf den ersten Blick nicht zusammengehören zu scheinen. Derregulierungen spielen eine Rolle und das Ausufern prekärer Tätigkeiten. Das Schwächen oder gar Zerstören von von Sozialsystemen gehört ebenfalls dazu. Besonders ein Rollback zugunsten einer straffixierten Wende in der Strafrechtspolitik muss uns zu denken geben. Das Gefängnis, müssen wir nach der Lektüre von Wacquants Buch erkennen, ist wie schon einmal in längst vergangenen Zeiten - seitens herrschender Politik, von populistischer Begleitung bestimmter Medien sekundiert, gewollt - zur Aufgabe zurückkehrt Teile der Bevölkerung oder problematische Räume in unserer Gesellschaft zu zähmen, die sich der neu entstehenden Wirtschafts- und Moralordnung nicht fügen wollen. Sollten wir nicht endlich aufmerken? Warum, das schreibt Wacquant auf Seite 316: "Die Einführung des neuen Regierens mit der sozialen Unsicherheit offenbart letzten Endes, dass der Neoliberalismus seinem Wesen nach demokratiezersetzend ist."

Lektüre mit Gewinn

Das Buch sei möglichst vielen Menschen ans Herz gelegt und hiermit mit Hintersinn - nämlich den, endlich erkennen zu mögen, um endlich, um mit dem verstorbenen Stéphane Hessel zu sprechen von einem "Empört euch!" zu einem Handelt!, zu kommen. Gewiss ist dieses auf einer wissenschaftliche Studie basierende, dementsprechend verfasste Werk Wacquants nicht zu lesen, ohne, dass es im Hirnskasten knackt. Dennoch: Ich verspreche, die Leserinnen und Leser werden nach der Lektüre einen Gewinn verbuchen. Die vorliegende Sozialstudie gibt nämlich erschreckende Kunde von gegenwärtigen gesellschaftlichen Zuständen. Das Buch zeichnet ein eigentlich unsere Gesellschaft aufschrecken müssendes Bild von einem neuem Regime sozialer Ungleichheit. Und entdeckt uns die Folgen von Globalisierung, Deregulierung und Sozialabbau die der Siegeszug eines eiskalten Neoliberalismus im Verlaufe von zwei Jahrzehnten mit sich gebracht hat und weiter mit sich bringen wird. Sind das Vorboten einer Regierung der sozialen Unsicherheit? Bei einem Blick auf teils düsterer gesellschaftlichen Zustände derzeit, beschleicht einen als Leser dieses Buches fast der Verdacht, ein solches Regieren sei längst auf den Weg gebracht. Der Verlag Barbara Budrich nennt "Bestrafen der Armen" zu Recht ein mutiges Buch. Kein Buch für schwache Nerven. Aber nötig! Wird es auch seinen Leserinnen und Lesern zu Mut verhelfen, die Dinge so nicht länger hinzunehmen? Die Studie Professor Wacquants enthält genügend Handfestes, um dem Neoliberalismus die Maske vom Gesicht zu reißen, um dessen ihm zugrundeliegende menschenverachtende Ideologie kenntlich zu machen.

Das Buch:

Loic Wacquant: Bestrafen der Armen. Zur neuen Regierung der sozialen Unsicherheit. Verlag Barbara Budrich (Opladen - Berlin - Toronto) 2013, 2. durchgesehene Auflage (Aus dem Französischen von Hella Beister). 359 Seiten, Karton, ISBN 978-3-8474-0121-6,eBook: 978-3-8474-0378-4 ,39,90 € (D), , 49,90 sFr (CH), 40,10 € (A)

Originaltitel: Punir les pauvres.

Der Autor:

Loïc Wacquant

Professor für Soziologie an der University of California, Berkeley und Wissenschaftler am Centre de sociologie européenne, Paris unterstützt mit dem Kernelement Partizipation demokratische Vorgehensweisen und nimmt mit der Gleichzeitigkeit lokaler und globaler Bezüge auch den entscheidenden Aspekt der generationalen Gerechtigkeit in den Blick.

Verlag Barbara Budrich

Stauffenbergstr. 7

D-51379 Leverkusen-Opladen

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Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

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