Ohrenkuss - Wie alles anfing

Downsyndrom Die Autoren des Magazins Ohrenkuss greifen interessante Themen auf. Der Redaktion wurden Prämierungen und Auszeichnungen zu teil.

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Michael Häger demonstriert den Ohrenkuss: Da rein ... da raus. Photo: Copyright Redaktion Ohrenkuss

http://2.bp.blogspot.com/_RU2uAR-jPr8/S6jQu57UBaI/AAAAAAAAH5Q/ZRCpgOFj3Ic/s400/kuss.jpgZu meiner Kindheit sagte man noch unbedacht Neger zu farbigen Menschen. Jedenfalls dann, wenn wir dieses Wort von unseren Eltern zuvor gehört und somit verinnerlicht hatten. Zumindest traf dieses Nicht-Bedenken wohl in der Regel auf uns Kinder zu. Demzufolge hielten wir damals den heute negativ besetzten Begriff für völlig normal. Doch die Dinge bleiben nicht so wie sind sind…

Die sind krank. Punkt

Ähnlich unbedacht übernahmen wir später, schon in der frühen Schulzeit, bezüglich dem Aussehen anderer Mitmenschen Bezeichnungen, über die man heute heute gewiss nur mit Kopf schütteln würde. Wenn wir zu jener Zeit, wohl etwas verwirrt angesichts dieser andersartig wirkenden, uns zuweilen, meist in der Gruppe begegnenden Menschen, Erwachsene über diese befragten, erhielten wir unterschiedliche Antworten. Manche der Erwachsenen sagten uns, es handele sich um mongoloide Menschen. Und Mongolismus sei eben eine Krankheit. Punkt. Oder einfach: Die sind krank. Andere hielten diese Menschen schlicht für bekloppt. Was uns verstörte. Näher nachzufragen, getrauten wir uns nicht. Den meisten Erwachsenen wäre das wohl auch unangenehm gewesen. Das war zu spüren.

Andere Kinder ließen sich sogar dazu verleiten, die "Mongoloiden" zu verspotten. Man sagt: Kinder können grausam sein. Und es stimmt. Mongoloid bedeutete nichts weiter als dem Mongolen ähnlich. Betreffs dieser Krankheit wurde ebenfalls die Bezeichnung trisomaler Schwachsinn verwendet.

Das Down-Syndrom

Unterschiedliche Begriffe für ein und dieselbe Krankheit, die mehr oder weniger einmal entweder hier oder dort gang und gäbe waren. Inzwischen gehören sie der Vergangenheit an. Nicht nur aus Rücksichtnahme auf das Volk der Mongolen. Man spricht heute betreffs dieser genetisch bedingten Entwicklungshemmungen und Veränderungen des Erscheinungsbildes eines Menschen vom Down-Syndrom. Benannt nach dem britischen Arzt J. L. H. Down. Menschen mit Down-Syndrom haben 47 Chromosomen, eines mehr als die anderen. Bei ihnen ist das 21. Chromosom dreimal vorhanden. Weshalb man auch von einer Trisomie 21 spricht.

Katja de Braganca kam in Madrid die Idee zum Projekt OHRENKUSS

Im Allgemeinen gingen zunächst auch Experten davon aus, dass Kinder mit Down-Syndrom nicht lesen, geschweige denn schreiben können. Vorkommende, scheinbare Gegenbeweise wurden auch von Humangenetikern in der Regel so erklärt: Die Betreffenden hätten die Texte wahrscheinlich irgendwo abgeschrieben. Umso mehr staunte die Humangenetikerin Katja de Braganca, die 1987 auf einer Tagung in Madrid einem interessanten Vortrag mit dem Thema “Lesen und Schreiben - Lernen bei Kindern mit Down-Syndrom” lauscht: Plötzlich bleibt ihr Blick auf einer Overhead-Projektion haften. Darauf zu lesen ist die Geschichte von Robin Hood, geschrieben von einem Jungen mit Down-Syndrom. Katja de Braganca ist damals spontan begeistert. Hauptsächlich von dem witzigen Schreibstil des Autors. Auf der Stelle erinnert sie sich an die Zeit ihrer Diplom- und Doktorarbeit am Bonner Institut für Humangenetik, in der sie viele Menschen mit Down-Syndrom kennengelernt hatte. Unter ihnen befanden sich viele Jugendliche. Und es war durchaus vorgekommen, dass bei Gesprächen mit denen plötzlich jemand äußerst stolz etwas Geschriebene präsentierte. Katja de Braganca verband beide Erlebnisse. Eine Idee begann Gestalt anzunehmen: Eine Zeitschrift, gemacht von Menschen mit Down-Syndrom. Die Idee wurde in die Tat umgesetzt. Die Zeitschrift erhielt den Namen OHRENKUSS. Er ist leicht erklärt. Auf dem oben stehenden Photo zeigt Ohrenkuss-Autor Michael Häger, was mit “Ohrenkuss…da rein, da raus” gemeint ist: Mit dem Zeigefinger der linken Hand zum linken Ohr hin. Und mit dem Daumen der rechten Hand vom rechten Ohr weg zeigen:

Da rein, da raus. Was das bedeutet? Vieles geht in den Kopf hinein. Das meiste geht aber auch wieder hinaus. Nur das Wichtigste bleibt drin. Und dies ist ein OHRENKUSS.

OHRENKUSS fand inzwischen viele Unterstützerinnen und Unterstützer

Vor Jahren sorgte Alfred Biolek , der Katja de Braganca in seine Talkshow eingeladen hatte dafür dass das Projekt OHRENKUSS einem breiteren Publikum bekannt wurde. Nicht zuletzt dadurch gewann OHRENKUSS zahlreiche Förderer und hat inzwischen viele Unterstützerinnen und Unterstützer landauf landab. Und den Autoren und der Redaktion von OHRENKUSS macht die Arbeit jedesmal wieder aufs Neue Spass. Der Erfolg gibt dem Projekt recht und macht unablässig Lust, die Arbeit weiter fortzusetzen. Die Volkswagen-Stiftung föderte das Magazin. Das Projekt wurde prämiert. Es erhielt u. a. eine Auszeichnung im Wettbewerb “Demokratie leben”, seitens des damaligen Bundestagspräsidenten Wolfgang Thierse.

Den OHRENKUSS zu lesen ist jedesmal wieder ein außergewöhnliches Erlebnis

Die in dem Magazin versammelten Texte kleiden eine auf den ersten Blick ungewohnte Autoren-Sicht auf die Welt und die Dinge des Lebens in oft tief berührende Worte, welche einem als Leser so sicherlich noch nie gekommen sind und uns deshalb in die Lage versetzen können, manches - scheinbar Gewohntes - mit ganz anderen Augen völlig neu zu erblicken.

Die OHRENKUSS-Autoren schreiben ihre Texte selbst auf dem Papier oder am Computer oder diktieren sie

Auf die Schreibweise wird kein Einfluss genommen. Die Texte werden somit auch nicht verbessert. Sie erscheinen dann im Heft genauso wie sie von den Autoren erdacht und geschrieben wurden. Gerade dies verleiht den Texten einen ganz besonders außergewöhnlichen Charakter und hinerläßt bei den Rezipienten des Magazins einen nachhaltigen, wie gleichermaßen nachdenklich stimmenden Eindruck.

In diesen Zustand kann sich jede(r) versetzen und dabei gleichzeitig auch noch ein tolles Projekt unterstützen. OHRENKUSS kann abonniert werden. Das Abonnement des halbjährlich erscheindende Magazins, von Anfang bis Ende gemacht von Menschen mit Down-Syndrom, kostet 19,60 Euro pro Jahr (zzgl. 2 Euro für Porto und Versand).

Warum mir am Anfang dieses Textes eingefallen ist, dass wir als Kinder nichts dabei fanden, farbige Mitmenschen Neger zu nennen? Ganz einfach: Weil Dinge sich ändern und Menschen zu neuen Erkenntnissen kommen können…

Photo: via Redaktion "Ohrenkuss"

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

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