Ich will ins Kanzleramt. Ich will Politik erleben. Ich will Angie. Und zwar hautnah. Das wollen an diesem Sonntag zusammen mit mir ungefähr 80.000 andere Bürger, am gesamten Wochenende 146.000. Die Schlange vor dem Kanzleramt, das zum Tag der offenen Tür geladen hat, wird immer länger, dabei ist es erst mittags um zwölf. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel will am Nachmittag durch ihren Dienstsitz in Berlin führen.
Seit dem Umzug von Bonn nach Berlin 1999 findet einmal im Jahr dieser Tag der offenen Tür im Kanzleramt, im Bundespresseamt und 14 weiteren Ministerien statt. Dann darf das Volk hinter die Kulissen schauen, wenigstens wird es damit gelockt. Und das Volk kommt.
In der Schlange trifft man Besucher aus der gesamten Republik und verschiedenen Milieus:
iedenen Milieus: Dreadlockträger, Rentner, junge Familien, Studenten und natürlich, unvermeidbar, Touristen. Nach einer Stunde habe ich es auf den Ehrenhof vor dem Kanzleramt geschafft. Ein kleines Orchester – das Stabsmusikkorps der Bundeswehr – empfängt mich mit seicht gespielter Marschmusik, wie man sie von Staatsbesuchen kennt.Ich geselle mich zu der Menschentraube vor dem Eingang des Kanzleramtes. Auf einmal wird alles ruhig. „Jetzt kommt sie!“, rufen manche ehrfürchtig. Aber Angela Merkel lässt auf sich warten. Trotzdem geht keiner weg.Die längste Hymne der WeltDie Veranstaltung soll die Menschen für Politik begeistern, steht auf der Webseite des Kanzleramtes. Schließlich ist Wahlkampf, aber kaum einer hat das bisher mitbekommen. Hier soll nun also Bürgernähe inszeniert werden, aber ich spüre nur das Gedränge und verschiedene Hände an meinem Hintern. Um mich herum reden die Leute nicht über Politik, sondern meist über private Angelegenheiten. Ein Pärchen wundert sich über die Schwangerschaft einer Freundin: „Wie, die kriegt schon wieder ein Kind?“Das Orchester spielt immer noch. Und da ist sie! Angela Merkel schreitet im türkis-farbenen Kostüm zu der auf dem Ehrenhof errichteten Bühne, umgeben von Security und den Schaulustigen. Sie kämpft sich händeschüttelnd durch die Masse.Als sie auf der Bühne steht, grüßt sie ihre Besucher, die ihr wie einem Popstar zujubeln. Sie fragt den Orchesterleiter: „Bis zu welchen Temperaturen spielt ihr eigentlich?“ Oder: „Welches Land hat die längste Nationalhymne?“ Argentinien, antwortet der Mann. Und so belanglos geht es weiter. Die Sonne scheint. Hauptsache, keine Politik. Alle sind wie beseelt.Nach zehn Minuten geht Merkel zurück zum völlig verstopften Eingang des Kanzleramtes. Hastiges Fotografieren. Autogrammkarten. „Angie“-Rufe. Und: „Frau Doktor Merkel!“ Die Kanzlerin kann nicht auf alle reagieren.Weiter im Programm.Alle schaffen es, sich durch den Eingang zu zwängen. Zuerst begegnet einem in diesem Betonbau eine überlebensgroße Bronzeskulptur, Die Philosophin von Markus Lüpertz. Über die Treppe geht es an den berühmten Gemälden, die Merkels Vorgänger zeigen, vorbei in einen grünen, hellen Innenhof.Die heilige UnterschriftIch suche weiter verzweifelt in der Menschenmasse nach Angie. Wenn überhaupt, dann bekommt man vereinzelte Körperteile von ihr zu sehen. Die Besucher werden ungeduldiger. Die einen beschweren sich, man habe kein vernünftiges Foto schießen können, weil sich die professionellen Fotografen immer vordrängeln würden. Ein junges Mädchen dagegen zeigt ihren beiden Freundinnen stolz Merkels Unterschrift auf ihrem Unterarm. Sie will sich jetzt nicht mehr waschen, selbst wenn die Schrift nicht so schön sei. Auch ein kleiner Junge ruft seinem Vater zu, er habe eine Unterschrift erbeutet.Der Vater, außer sich vor Freude, steht dicht neben mir und schreit mir ins Ohr: „Was?“ Dann läuft er los: Vater, Mutter und Kind schauen andächtig auf die Karte mit Merkels Porträt und der Signatur.Auf dem Innenhof, der auch als Landeplatz fungiert, steht ein blauer Hubschrauber des Bundesgrenzschutzes. Die nächste Station. Angela Merkel nimmt wieder ein Mikrofon in die Hand und sagt Sätze wie „Mit dem Hubschrauber kommt man dann schneller ans Ziel, aber der ist auch sehr laut.“ Aha. Dann verabschiedet sie sich mit den Worten „Ich geh dann jetzt zur Bühne im Kanzlergarten. Wer mitkommen will...“ Es klingt ein bisschen süffisant. Sie weiß natürlich, dass ihr die Menge auch dorthin folgen wird. Man könnte Merkel charmant finden, sogar witzig, stünde sie nicht so steif herum und spräche sie nicht so monoton.Stoffbeutel mit KugelschreibernEndlich hat der Tross die letzte Bühne erreicht. Angela Merkel wirkt ein bisschen planlos. „Was machen wir denn jetzt?“, fragt sie die Moderatorin. Es entsteht eine kurze Pause, bis ihr die Moderatorin eine Brücke baut. „Haben Sie da überhaupt noch Zeit für sich selbst?“, fragt sie – langsam wird es wirklich Zeit zu gehen.Plötzlich wird Merkel doch noch ansatzweise politisch – als sie Vertreterinnen der Initiative „Bands auf festen Füßen“ begrüßt, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Merkel betont, dass zivilgesellschaftliches Engagement für Deutschland wichtig sei, und fordert die Besucher dazu auf, Ehrenämter zu übernehmen. Klingt irgendwie gut, passt aber nicht zu dieser Veranstaltung.Nach anderthalb Stunden verabschiedet sich die Kanzlerin, und auch die Bürger haben genug gesehen. Die Menge löst sich auf. Die Inszenierung ist vorbei, Wahlkampf wurde tunlichst vermieden. Die Leute scheint das aber nicht zu stören, sie sehen ganz zufrieden aus. So gesehen waren die 650.000 Euro für die beiden Tage der offenen Tür wirklich „gut angelegtes Geld“, wie ein Regierungssprecher vorher verkündet hatte. Außerdem gab es ja auch etwas Bleibendes: Stoffbeutel mit Kugelschreibern und Gummibärchen.