Eine Polemik über die Sorgen des Sozialstaats

Relative Armut Die Verteilungskämpfe um altes Brot zwischen Armen und Ärmsten haben erst begonnen. Derweil verweisen die Gewinner gerne auf das Elend in anderen Teilen der Welt

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Eine Tafel in Berlin
Eine Tafel in Berlin

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Armut in Deutschland ist doch nur relative Armut! Wie könnte es uns wirklich schlecht gehen? Wer im Land der Exportweltmeister mit ständigem Wirtschaftswachstum leben darf, kann ja nicht schlecht dran sein. Folglich kann und soll sich niemand, der ALG II oder Grundsicherung bezieht, angesichts der Übel in der Welt beschweren! Konsequent urteilen die »Wirtschaftsweisen« also, dass absolute Armut in Deutschland praktisch ausgeschlossen ist.

Leider ändert der Unterschied zwischen absoluter und »lediglich« relativer Armut nichts an den Lebensbedingungen hierzulande. Wer hier arm ist, ist eben hier arm. Dass in (nicht allzu) fernen Teilen der Welt viel zu viele Menschen - und leider auch viele Kinder - verhungern, ist ein schlimmes zusätzliches Problem dieses zu überwindenden Systems, aber der Verweis darauf hilft weder dem Ketten-Befristeten noch dem Hartz IV-Empfänger - und schon gar nicht der Rentnerin, die einmal in der Woche um Essen betteln muss.

Wer sich immer wieder Sorgen um den demographischen Wandel in Deutschland macht - also um die Überalterung unserer Bevölkerung - der muss konsequenterweise eine Mindestrente einführen, die substantiell über dem Armutsniveau liegt. Denn das Problem der Überalterung ist nicht die geringere Zahl der Rentenversicherungspflichtigen - es ist ja genug Geld vorhanden. Das Problem des demographischen Wandels äußert sich dort, wo Rentner*innen vor ehrenamtlichen Helfern die Hände aufhalten müssen, um Nahrung zu bekommen. Seit Umsetzung der Agenda 2010 hat sich die Zahl der bedürftigen Rentner, die Hilfe bei der Tafel suchen, verdoppelt. Mittlerweile ist jeder Vierte in den Schlangen vor den Tafeln eine Rentnerin oder ein Rentner - insgesamt 350.000 deutschlandweit. Die ehrenamtliche Arbeit ist aller Ehren wert, aber die Tafeln sind nicht die Lösung, sondern Teil des Problems.

Wer sich immer wieder Sorgen darum macht, wie sich Arbeitslose wieder in Beschäftigung bringen lassen, der sollte Arbeitslose nicht mit Sanktionen und unnützen »Weiterbildungsmaßnahmen« gängeln, sondern die Binnenwirtschaft - und so den Arbeitsmarkt - mit einem starken Mindestlohn in Gang bringen. Seit der Agenda 2010 hat sich in Deutschland einer der größten Niedriglohnsektoren Europas etabliert. 22% der Erwerbstätigen sind Geringverdiener, die niemals über finanzielle Rücklagen verfügen werden und deren Rente sie in die Grundsicherung treiben wird.

Wer sich immer wieder Sorgen um »gute Arbeit« macht, der kann nicht zulassen, dass die Beschäftigten eines großen Unternehmens in der Lohnentwicklung gegenüber den Vorständen hintanstehen müssen. Die Lohnzurückhaltung - also das Surplus des Arbeitswerts, das nicht an den Arbeiter in Form einer Lohnerhöhung zurückgegeben wird - beträgt in dieser Republik mittlerweile 75%. Unsere gesamte Volkswirtschaft müsste also ein Dreivierteljahr laufen, in welchem jeder Gewinn nur der Belegschaft zugute kommt, um diesen Umstand wieder zu beheben.

Wer sich immer wieder Sorgen um soziale Ungleichheit macht, der darf sie nicht soziale Ungleichheit nennen. Es ist eine Ungleichheit der ökonomischen Mittel und der Chancen in der Bildung. Wer ökonomisch im Nachteil ist, ist nicht deshalb sozial im Nachteil.

Wer sich immer wieder Sorgen um Armut macht, darf Armut nicht relativieren. Denn: Wer Armut relativiert, hat nicht verstanden, was Armut ist.

Das Gute aber ist: Ökonomische Ungleichheit wächst immer nur bis zu einem bestimmten Punkt, an dem die hegemoniale Ideologie nicht mehr über die nackten Tatsachen hinwegtäuschen kann. Und wenn der Ungleichheit nicht begegnet wird, bevor dieser Punkt erreicht ist, dann hat sich in der Geschichte eine Lösung etabliert, um die Verhältnisse wieder umzukehren - eine Lösung mit französischem Namen und scharfer Klinge.

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