Mitte-Links und das Schill-Trauma von Scholz

Hamburg Mit dem rigiden Vorgehen von Olaf Scholz gegen die Lampedusa-Flüchtlinge und bei der Gefahrenzone wiederholt die SPD Fehler aus 2001 und untergräbt Mitte-Links-Diskurse

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Mitte-Links und das Schill-Trauma von Scholz

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Absolute Mehrheiten bei Landtagswahlen sind im Fünf-Parteien-Systems Deutschlands die Ausnahme geworden. Von 16 Bundesländern werden nur zwei von einer Partei allein regiert – Bayern und Hamburg.

Dass die hamburgische SPD bei der Bürgerschaftswahl 2011 nicht nur das Rathaus zurückerobern, sondern auch noch auf einen Koalitionspartner verzichten konnte, wurde auf Seiten der Sozialdemokratie als eine Genugtuung empfunden und zugleich als die Wiederherstellung des Normalfalls. In der SPD-Erzählung ist Hamburg eine quasi natürliche Hochburg. Sieht man einmal von der Regierung des sogenannten Hamburger Blocks aus CDU, FDP und Deutscher Partei (DP), 1953 bis 1957, ab, stellte die SPD von 1946 bis 2001 ununterbrochen den Ersten Bürgermeister. Seit 1957 regierte die Sozialdemokratie an der Alster entweder allein oder im Bündnis mit der FDP. Zwischen 1993 und 1997 ging sie eine Koalition mit der populistischen STATT-Partei ein, bevor sie 1997 erstmals mit den Grünen koalierte, obwohl die bereits seit 1982 in der Bürgerschaft vertreten waren.

Der CDU war es für zehn Jahre und bei drei Wahlen gelungen, die SPD aus dem Senat zu verdrängen, zeitweise allein zu regieren und durch die Bildung der dann vorzeitig gescheiterten ersten schwarz-grünen Koalition machte sie der SPD die im Bundesgebiet als deren ebenfalls ‚natürlicher‘ Koalitionspartner angesehenen Grünen abspenstig . In den Augen der sozialdemokratischen Strategen war dies ein Betriebsunfall mit katastrophalen Folgen, doch konnte es sich nur um ein Übergangsphänomen handeln.

Das Schill-Trauma von Olaf Scholz

Der Regierungswechsel 2001 von Rot-Grün zum Bündnis aus CDU, FDP und den Rechtspopulisten um den schillernden früheren Richter und Hardliner Ronald Schill war ebenso wie die Rückkehr der SPD in das Rathaus das Ergebnis einer Wechselstimmung, mit der die jeweils regierenden Parteien abgestraft werden sollten. Während bei der Wahl 2011 die CDU für eine als den Interessen des Hamburger Bürgertums zuwiderlaufende Schulreform, mehr aber noch für den als Desertation empfundenen Rückzug des die hanseatische CDU prägenden Bürgermeisters Ole von Beust bestraft wurde, erntete die SPD 2001 das Ergebnis einer als verfehlt angesehenen Innenpolitik.

Wer also verstehen will, weshalb der weiterhin populäre Erste Bürgermeister Hamburgs, Olaf Scholz, bei aller ansonsten zur Schau gestellten hanseatischen Toleranz und Gelassenheit in den vergangenen Monaten im Umgang mit den protestierenden Lampedusa-Flüchtlingen und jüngst mit der Befürwortung der sogenannten Gefahrenzone als innenpolitischer Hardliner agiert, muss zurückgehen bis zur Wahl 2001 und die besondere Rolle des Themas Kriminalitätsbekämpfung im damaligen Wahlkampf in den Blick nehmen.

Bereits seit der Wahl 1997 hatte sich das Thema Innere Sicherheit als bedeutsames Thema der Stadtpolitik aufgebaut. Die offenen Drogenszenen am Hamburger Hauptbahnhof und im Schanzenpark sowie singuläre Ereignisse bzw. Personen wie der Fall des stets in Resozialisierungsmaßnahmen entsandten Intensivstraftäters Dennis oder die Ermordung des Lebensmittelhändlers Dabelstein durch ebenfalls bereits einschlägig polizei- und justizbekannte Täter dienten als Folie medialer Berichterstattung über eine als unzureichend und zu liberal empfundene Sicherheitspolitik des Senats.

Der mediale Diskurs fand seine Entsprechung im Amtsrichter Ronald Schill, der sich – Bezug nehmend auf die in den 1990er Jahren unter dem Titel „Zero Tolerance“ auch in Deutschland breit reflektierte Polizeistrategie des New Yorker Bürgermeisters Rudi Giuliani – mit drakonischen Urteilen als Gegenpol empfahl. Während dem Senat Laisser-faire und eine aus Gutmenschentum resultierende lasche Haltung unterstellt wurde, punktete Schill mit einfachen Botschaften wie "Härte zeigen" und dem Versprechen "Ich halbiere die Kriminalität binnen 100 Tagen".

Subjektiv empfundene Unsicherheit im öffentlichen Raum

Kurzum, der medial befeuerte und stadtpolitisch reflektierte Sicherheitsdiskurs bestätigte die von William Thomas bereits 1965 publizierte Annahme, dass menschliches Handeln weniger von der objektiven Situation als von deren subjektiver Deutung abhängt: Wenn eine Situation als real definiert wird, hier die Bedrohung der individuellen und kollektiven Sicherheit durch eine unzureichende Sicherheitspolitik, ist sie in ihrer Konsequenz auch real. Andere empirische Untersuchungen zu den Ursachen von Unsicherheit im öffentlichen Raum zeigen, dass die oft thematisierte Kriminalität nur eine unter mehreren Faktoren ist, die zu subjektiver Unsicherheit führen. Vernachlässigt wird, dass die primären Ursachen in Alltagsirritationen liegen, wie vermüllte Straßenzüge, mangelnde Reinigungs- und Instandhaltungsmaßnahmen an öffentlicher Infrastruktur oder als bedrohlich empfundene Personengruppen.

Gerade weil, wie Bösebeck zeigt, Alltagsirritationen häufig Indikatoren für weitreichendere ökonomische, soziale oder kulturelle Defizite in den Kommunen sind, Dauerprobleme darstellen, bei denen häufig die Verursacher nicht direkt adressierbar sind und die Beseitigung von den als zuständig empfundenen öffentlichen Stellen oftmals erst verspätet erfolgt und in ihrer Bedeutung nicht erkannt wird, erzielte die Giuliani-Strategie so große Aufmerksamkeit. Die ihr zugrunde liegende und in der Stadt- und Sozialforschung breit kritisierte »Broken-Windows-Theorie« geht von der Annahme aus, dass ein vergleichsweise harmloses Phänomen, wie beispielsweise ein zerbrochenes Fenster in einem leer stehenden Haus, um das sich niemand kümmert, Ausgangspunk für die Verwahrlosung eines ganzen Stadtquartiers sein könnte. Verknüpft damit ist die Annahme von sogenannten delinquency areas, also bestimmten kriminalitätsgefährdeten Gebieten. Die Zero-Toleranz-Strategie war insoweit auch mehr eine Kontroll- als eine Kriminalitätsstrategie, mit der rigoros gegen Bagatell-Delikte vorgegangen wurde. Die Thematisierung der Ahndung des Verstoßes gegen Ordnungswidrigkeiten als Kriminalitätsbekämpfung sorgte, wiederum im Sinne des Thomas-Theorems für ein Absinken der subjektiv empfundenen Bedrohungssituation.

Brechmitteleinsatz als sozialdemokratische Innenpolitik

In Hamburg übertrug der bis 2001 regierende und durch den zunehmend hysterischer werdenden Innere-Sicherheits-Diskurs sowie die stark ansteigenden Zustimmungswerte für den mittlerweile mit einer Protestformation als Partei kandidierenden Ronald Schill unter Druck gesetzte SPD-Bürgermeister Ortwin Runde die Aufgaben des Innensenators Ende Mai 2001 an Olaf Scholz. Dieser griff unter dem Motto „Ich bin liberal aber nicht doof“ und unter kritikloser Übernahme der Broken-Windos-Theorie und Zero Tolerance-Strategie an der zum Symbol gewordenen Drogenszene am Hauptbahnhof rigoros durch. Ein von Innensenator Scholz bevorzugtes Instrument gegen Drogendealer, die bei Polizeikontrollen die Drogenpäckchen zu verschlucken suchten, war der umstrittene Einsatz von Brechmitteln. ein Verfahren, das für einen Afrikaner tödlich endete und später vom Europäischen Gerichtshof als menschenrechtswidrig verurteilt wurde.

Doch auch diese Umkehrung und Deliberalisierung rot-grüner Innen- und Sicherheitspolitik änderte nichts. Wahlen können zwar durch kurzfristige Ereignisse entschieden werden, doch ein langfristig entstandenes Image sowie eine als real empfundene Situation können nicht binnen weniger Wochen oder Monate geändert werden. Gefragt nach den wichtigsten politischen Problemen Hamburgs sahen 52% der von Infratest dimap vor der Wahl befragten Hamburger die Kriminalität auf Platz 1. Mit einem Abstand von mehr als 20 Prozentpunkten folgte das Thema Arbeitslosigkeit (30%), danach Wirtschaft (17%) und Bildung (13%).

Mit 19,4% Zustimmung gelang der Schill-Partei der Einzug in die Bürgerschaft und nachdem 680 Stimmen den Ausschlag für den FDP-Einzug ins Parlament gegeben hatten, konnte die CDU unter von Beust die SPD – obwohl diese gegenüber 1997 leicht zugelegt hatte –in die Opposition schicken. Noch bei der Wahl 2008 lag die CDU beim Kompetenzfeld „Kriminalitäts- und Verbrechensbekämpfung“ mit 52% weit vor der SPD (28%). Und auch im aktuellen HamburgTREND von Infratest dimap liegt die CDU mit 37% in diesem Kompetenzfeld vor der SPD (30%).

Der Irrtum einer offenen Flanke in der Innenpolitik

Trotz allem hat der frühere Innensenator und heutige Bürgermeister Olaf Scholz aus den Erfahrungen von 2001 ersichtlich nur die Schlussfolgerung gezogen, dass die SPD in der Innen- und Sicherheitspolitik keine offene Flanke zeigen dürfe. Dies geht soweit, dass selbst die Hamburger Morgenpost in einem Kommentar bemerkt: „Seitdem reagiert die SPD nervös bis panisch auf innenpolitische Themen. (…)So demonstrierte die SPD ausgerechnet in jener Zeit Härte, als die Bilder ertrunkener Lampedusa-Flüchtlinge um die Welt gingen. Während die Hamburger die hier gestrandeten Flüchtlinge mit Solidarität überschütteten, musste sich der SPD-Senat der Unmenschlichkeit bezichtigen lassen. Ein sehr ungeschicktes Vorgehen. Dann die Gefahrengebiete mit riesigem Polizeiaufmarsch – ebenfalls ein traumabedingter Reflex ohne viel Sinn, aber mit viel negativer Wirkung. Schon bemerkenswert, wie nachhaltig der irrlichternde Schill die Politik dieser Stadt prägt.“

Mehrheitliche Zustimmung zur Gefahrenzone aber Polizeimaßnahmen nützen Scholz nichts

Die Hamburger Bürgerinnen und Bürger hingegen scheinen zumindest die Einrichtung der Gefahrenzone in der Hamburger Innenstadt – eine 2005 eingeführte und bundesweit einmalige Maßnahme, mit der im konkreten Falle von ca. 78.000 Menschen zeitweise relevante Grund- und Freiheitsrechte eingeschränkt wurden – zu goutieren. Im aktuellen HamburgTREND von Infratest dimap halten 58% der zwischen dem 9. und 13. Januar 2014 befragten Hamburger Wahlberechtigten die Gefahrenzone für angemessen, während 40% sie für übertrieben erachteten. Die größten Zustimmungswerte für die Gefahrenzone kommen von Anhängern der CDU mit 76%, gefolgt von Anhängern der SPD (63%) und der FDP (56%). Mehrheitlich abgelehnt wird die Gefahrenzone von Anhängern der Grünen (64%) und insbesondere denen der Partei DIELINKE (82%). Letztere hat sich in der Bürgerschaft für das gesetzliche Verbot dieses Instruments ausgesprochen.

Dass Bürgermeister Scholz hingegen mit verschärften Polizeimaßnahmen punkten könnte verneint wiederum die Mehrheit der Hamburger (53%), während 42% dies bejahen. Allein die Anhänger der CDU sehen mit 52% zu 44% verschärfte Polizeimaßnahmen als wirksames Instrument, während die Anhänger der anderen Parteien dies mehrheitlich verneinen (SPD: 49% zu 47%, FDP: 70% zu 28%, Grüne: 72% zu 24%, LINKE: 77% zu 19%).

Scholz weiterhin populär

Der Popularität von Bürgermeister Scholz hat die aktuelle Entwicklung nur bedingt geschadet. Mit seiner Arbeit sind weiterhin 69% der Hamburger einverstanden. Gegenüber dem Vergleichswert von Januar 2012 sind dies nur 5% weniger. Profilieren konnte sich dagegen die Vorsitzende der LINKEN in der Bürgerschaft, Dora Heyenn, die mit einem Bekanntheitsgrad, der nur knapp hinter dem ehemaligen CDU-Gesundheitssenator und heutigen Fraktionsvorsitzenden der Bürgerschaft, Dietrich Wersich, liegt, einen Zustimmungsgrad von 19% erreicht. Wersich liegt mit 20% Zustimmung zu seiner Arbeit in einem vernachlässigbaren Bereich davor.

Bei der fiktiven Frage, wie die Parteianhänger sich im Falle einer Direktwahl des Ersten Bürgermeisters verhalten würden, liegt der Amtsinhaber Scholz mit 69% weit vor dem vermutlichen Herausforderer Wersich (13%). Selbst die Anhänger der CDU würden sich mit 50% zu 31% mehrheitlich für Scholz entscheiden, ebenso die der FDP (44% zu 27%). Die höchste Zustimmung erreicht Scholz naturgemäß bei den SPD-Anhängern mit 94% zu 2%, aber auch bei denen der Grünen (73% zu 8%). In der Wahl zwischen Scholz und Wersich würden die Anhänger der LINKEN zwar mit 42% zu 19% Scholz präferieren, aber anders als bei allen anderen Parteien sagen 25% der linken Anhänger, dass sie keinem von beiden ihre Stimme geben würden.

Soziale Stadtentwicklung und Mitte-Links

Die »Rote Flora«, an deren Veräußerung sich jüngst heftige Proteste entzündeten, ist mehr als nur ein linkes Traditionsgut. Sie ist mit den Esso-Häusern zu einem Symbol für eine Stadtpolitik geworden, die bezahlbaren Wohnraum und sozialen Ausgleich vernachlässigt, statt dessen der Segregation, also der zunehmenden Teilung der Stadt in Quartiere von Armen und besser gestellten Schichten, Vorschub leistet. Es überrascht deshalb nicht, dass die Partei DIE LINKE im aktuellen HamburgTREND beim Thema „für bezahlbaren Wohnraum sorgen“ mit 11% den höchsten Kompetenzwert aller Oppositionsparteien erhält und beim Thema „für soziale Gerechtigkeit sorgen“ mit 13% nur einen Prozentpunkt hinter der CDU liegt.

Es könnte sein, dass Olaf Scholz zwar die Flanke der Inneren Sicherheit schließt, aber den Fehler von 2001 wiederholt: ein Thema, das die Bürgerinnen und Bürger stark verunsichert zu vernachlässigen. Nur dass es sich diesmal nicht um subjektiv empfundene Kriminalitätsbedrohung handelt, sondern um die objektive Öffnung der Schere zwischen Arm und Reich und die Verunmöglichung für finanziell schlechter gestellte Gruppen, angemessenen und bezahlbaren Wohnraum zu finden. Profitieren würde davon keine Protestpartei nach dem Modell Schill, sondern DIE LINKE, die seit 2008 an der Alster parlamentarisch etabliert ist.

Die absolute Mehrheit hat Olaf Scholz nach der Infratest dimap-Erhebung vom Januar dieses Jahres bereits verloren. Die SPD in Hamburg ist keine linke Partei – auch die Wählerinnen und Wähler der Hansestadt ordnen die SPD als eine Partei der Mitte ein. Doch nach rechts kann die SPD nichts gewinnen – die CDU hat sich von ihrem Absturz 2011 bislang nicht erholt. Die Law-and-Order-Strategie von Scholz ist insoweit nutzlos, kurzsichtig und vernachlässigt die Beziehungspflege, die eine derzeit noch starke SPD in den wirklich relevanten Themen hamburgischer Stadtpolitik gegenüber Grünen und Linken pflegen sollte. Hamburg ist ein Prototyp für die jüngere Entwicklung des deutschen Parteiensystems, in dem zunehmend häufiger zweistellig gewonnen und verloren wird. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass bei einer Verschärfung des stadtpolitischen Klimas auf dem Gebiet der Stadtentwicklungs- und Sozialpolitik, Olaf Scholz und seine SPD selbst ein Bündnis mit den Grünen nicht mehr reichen könnte um regieren zu können. Es ist insoweit offenbar, dass die Stigmatisierung der LINKEN als parlamentarischer Arm und Zentrum linker Gewalt in Hamburg neben der offensichtlichen Unsinnigkeit dieses mit der BILD-Hamburg geteilten Vorwurfs, geeignet ist, das politische Klima zwischen den Parteien nachhaltig zu beschädigen.

Infratest dimap 2014: HamburgTREND Januar 2014 im Auftrag des Norddeutschen Rundfunks. http://www.infratest-dimap.de

Pinzke, R. 2014: Schill, Scholz und das Trauma Sicherheit, in: Hamburger Morgenpost vom 11.01.2014:

Thomas, W. 1965: Person und Sozialverhalten. Neuwied und Berlin.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin-Immanuel Hoff

Chef der Staatskanzlei @thueringende; Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. #r2g Twitter: @BenjaminHoff

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