Transformations- statt nur Regierungslinke

Rezension Tom Strohschneider hat ein kluges Büchlein über rot-grün-rot, politische Bündnisse und Hegemonie verfasst, dem eine breite Rezeption im Spektrum von R2G zu wünschen ist

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Transformations- statt nur Regierungslinke

Bild: Cover

Über die Möglichkeiten der institutionalisierten Zusammenarbeit von SPD, Grünen und Linken zu schreiben ist eine ambivalente Angelegenheit.

Einerseits hätten die drei Parteien im Bundestag eine rechnerische Mehrheit von 320 Mandaten und auch in der Länderkammer, dem Bundesrat, verfügen die rot-grün-roten Landesregierungen über 36 der 69 Stimmen zu denen noch 23 Stimmen hinzukommen könnten, wenn die rechnerischen Mehrheiten für rot-grün-rot in den anderen Ländern tatsächlich ausgenützt würden. Anders gesagt: Einer knappen rot-grün-roten Mehrheit stünde theoretisch ein Potenzial von 14 der 16 Länder zur Seite, die jenseits von Union und FDP regiert werden könnten.

Hinzu kommt: Im Unterschied zur Zeit der rot-grünen Regierung Ende der 1990er Jahre, als die Sozialdemokratie mit dem »Dritten Weg« die Vorstellung verband, die Machtfrage zwischen Wirtschaft und Politik sei entschieden, der marktgetriebene Kapitalismus sei mit dem klassischen sozialdemokratischen Instrumentarium nicht mehr zu steuern, weshalb der »rheinische Kapitalismus« an die Zwänge der offenen internationalen Ökonomie anzupassen sei (Dörre, 1999: 7), ist in den beiden auf ihre Art sozialdemokratischen Parteien, SPD und Die Linke, die Notwendigkeit von Verteilungspolitik heutzutage unumstritten.

Ein jüngst von Außenpolitiker/-innen der Grünen und der Linken veröffentlichtes Papier erinnert die SPD daran, dass sie sich bei Rüstungsexporten bewegen müsse. Zusammengefasst: Bewegung allenthalben.

Andererseits ist der „mediale Appell für ein rot-grün-rotes Bündnis (…) längst zum Teil seiner Negation geworden, er gehört als Geräusch, als gratismutige Folklore inzwischen dazu – schließlich ist nicht wirklich damit zu rechnen“ (41), wie Tom Strohschneider, politischer Journalist, vormals bei der Wochenzeitung Freitag und der taz, zwischenzeitlich Chefredakteur der Tageszeitung Neues Deutschland feststellt.

Chronist und gefragter Beobachter von R2G

Dass Strohschneider dennoch eine »Flugschrift«, wie der Hamburger VSA-Verlag die Publikation betitelt, über rot-grün-rot, politische Bündnisse und Hegemonie veröffentlicht, liegt an zwei Dingen:

Für einige Jahre moderierte Tom Strohschneider mit seinem Kollegen Wolfgang Hübner (ebenfalls Neues Deutschland) den hoch frequentierten aber mittlerweile eingestellten Blog »Lafontaines Linke«. Seitdem ist er unparteiischer Chronist und gefragter Beobachter des linken Diskurses, wobei „links“ in diesem Falle auch, aber bei weitem nicht nur die Partei Die Linke, sondern eine breite Vielfalt des links-grün-alternativen Spektrums umfasst, die gemeinhin unter dem aus der Musiktheorie stammenden Begriff »Crossover« gefasst wird.

Aus dieser Position und aus seiner spürbaren Herkunft nicht der parlamentarischen, sondern der Bewegungslinken, lag es nahe, dass ihm die parteipolitische Schrumpfung von rot-grün-rot auf ein „koalitionspolitisch defektes Lager“ (Spier 2013: 174) nicht ausreicht. Stattdessen interessiert ihn die Frage nach der Politik- und Handlungsfähigkeit im linken Lager, die sich seiner Auffassung nach beantwortet „im Spannungsverhältnis zwischen Parteien und sozialen Milieus, zwischen parlamentarischer Logik und gesellschaftlicher Selbstbewegung“ (81).

Das Programm, das Strohschneider auf knapp 94 Seiten erfolgreich absolviert, ist ambitioniert aber zweifellos notwendig, soll die Thematik tatsächlich einmal mit Tiefgang und nicht wie üblich deskriptiv auf der Oberfläche surfend beleuchtet werden.

Rückblick auf »Crossover« und akkumulierte Enttäuschungserfahrungen im links-grünen Lager

Da rot-grün-rot eine Geschichte akkumulierter Enttäuschungserfahrungen ist, kommt eine Betrachtung des linksreformerischen Potenzials nicht aus ohne den notwendigen Blick zurück. Strohschneider nennt dieses Kapitel in ironischer Anlehnung an frühere staatsozialistische Parteilehrbücher: „Crossover. Kurzer Lehrgang der Geschichte“.

Insbesondere für politische Akteure jüngeren Alters bietet dieser Abschnitt eine komprimierte Zusammenfassung der Plattformen und Akteure sowohl des ersten, bereits in den 1990er Jahren entstandenen partei- und zeitschriftenübergreifenden rot-grün-roten Diskurses als auch der aktuellen Orte diskursiver Annäherung wie dem Institut solidarische Moderne, der ursprünglichen Oslo-Gruppe etc.

Der Wert dieser Darstellung, die an verschiedenen Stellen wieder aufgegriffen wird, geht freilich über die Sammlung von Namen und Ereignissen weit hinaus.

Strohschneider sortiert das Spektrum rot-grün-roter Plattformen in einen »sozialen Crossover«, einen »emanzipatorischen Crossover« sowie einen »parlamentarischen Crossover«. Das so entstehende Mosaik zeigt, die Vielfalt rot-grün-roter Diskurse, die zwar fragmentierter aber gegenüber dem Vorläufer aus den 1990er Jahren auch vielfältiger und damit bunter geworden sind.

Und da „keine Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen linksreformerischer Politik in der Bundesrepublik (…) an der Bilanz der rot-grünen Jahre ab 1998“ (44) vorbeikommt, wird ebenso spannend wie nachvollziehbar erläutert, welchen Einfluss die rot-grüne Bundesregierung und die zwischen 1998-2005 von ihr getroffenen Entscheidungen bis heute auf die Crossover-Ansätze ausübt: „Rot-Grün ist zu einem Steinbruch geworden, aus dem sich eine alte Diskussion der Linken neu bedient: Was ist wirklich erreichbar in einer Regierung?“ (45).

Strohschneider geht es in dieser Darstellung weder um die Betrachtung und Bewertung einzelner rot-grüner Entscheidungen, die vor mehr als einer Dekade getroffen wurden oder um ein abschließendes Urteil zu Rot-Grün. Diese sind bereits gefällt und die dazu erschienene Literatur füllt Regale. Sein Fokus ist vielmehr gerichtet auf die blinden Flecken linker Debatten über Regierungsbeteiligungen und je mehr er sich dieser Thematik widmet, umso wertvoller wird das kleine Büchlein.

Tanz an »Roten Haltelinien« und Vergötterung angeblicher Regierungserfolge - zwei Seiten der gleichen Medaille

Zunächst konstatiert er eine fehlende Kultur kritischen Lernens aus früheren Regierungsbeteiligungen, die in „der parteipolitischen Imprägnierung der Öffentlichkeit“, den dort wirkenden „Logiken der Konkurrenz und der Vereinfachung, welche die Komplexität der Sache unterschlagen, oder aber erkenntnisbegrenzenden innerparteilichen Konflikten“ (46f.) begründet lägen.

Die Fortführung erster Ansätze einer systematischen Evaluation von Regierungshandeln und den Problemen, mit denen eine Mitte-Links-Regierung in den bürokratischen Apparaten konfrontiert sei (vgl. Reichersdorfer/Zado 2010), erscheint ihm dafür unumgänglich.

Denn der „Tanz an ‚roten Haltelinien“ ist, wie Strohschneider lakonisch feststellt, letztlich nicht mehr als die andere Seite einer „Vergötzung nur angeblicher Regierungserfolge“ (45).

Die tatsächliche Nutzung einer linken Mehrheit, die für Strohschneider selbstredend ihren Ausdruck nicht allein in einer Umfragemehrheit für SPD, Grüne und Linke findet, besteht aus seiner Sicht darin, dass sich die handelnden Akteure als »Transformationslinke«, statt als »Regierungslinke« verstehen. Das ist mehr als nur ein begrifflicher Unterschied.

Reale Transformationen setzt aus seiner Sicht einen Umbau in Gang, „der weder binnen einer Legislaturperiode zu schaffen ist, noch auf Regierungshandeln begrenzt sein kann“ (83).

Divergierende Interessenlagen der sie stützenden Mehrheiten müsste die Transformationslinke stets im Blick haben und „sich daran messen lassen, ob sie die Bedingung für sozialen und ökologischen Umbau, für die Entstehung von neuen Räumen der Selbstermächtigung, der Selbstorganisierung, von Inseln solidarischer Ökonomie verbessert“ (ebd).

Wer darin bewegungslinke Floskeln zu erkennen glaubt, geht fehl, denn Strohschneiders Ansatz beruht auf dem Paradigma einer „drastischen Entideologisierung von Rot-Grün-Rot“ (82). Die drei Parteien und die sie tragenden Milieus haben aus Strohschneiders Sicht kein gemeinsames Projekt und sind in ihren Milieuinteressen und Klassenlagen zwischenzeitlich so heterogen geworden, dass gesellschaftliche Konflikte heutzutage kleiner sind, begrenzte Klientele und Fragestellungen betreffen, die für eine transformatorische Praxis deshalb nicht zwangsläufig weniger wichtig seien – im Gegenteil. Diese Unübersichtlichkeit im linken Spektrum ist nicht nur zu akzeptieren, sondern kann eine Chance darstellen.

Dies nicht zuletzt deshalb, weil sich die Welt seit 2005 weiter gedreht hat. Deutschland und Europa befinden sich in einer Mehrfachkrise, deren Dimensionen und Konsequenzen die Linke in ihrer Neigung zum Blick zurück häufig noch gar nicht zu erfassen scheint, wie Strohschneider an knappen Beispielen zeigt. Die Frage, wohin die Krise die Linke führt, würde er gern weiter diskutieren. Dass er dieser Neigung nicht folgt, gereicht dem Buch zum Vorteil und macht Lust auf die nächste Veröffentlichung.

Auf dieser Grundlage skizziert Strohschneider unter Bezug u.a. auf Thomas Seibert normative Empfehlungen für linksreformerische Regierungspraxis, die im Kern darauf hinauslaufen, die Instrumente der Partei- und Fraktionsdisziplin im Schrank althergebrachten Politikverständnisses zu verwahren und statt dessen zu akzeptieren, „dass man immer zu sich selbst in Opposition treten kann“, denn „eine Mitte-Links-Regierung, die Kritik entweder als Majestätsbeleidigung oder parteipolitische Blutgrätsche eines Partners begreift, und die sich der Rolle der veröffentlichten Meinung in einem solchen Prozess nicht bewusst macht, wird nichts sein. Außer eine Regierung.“ (84)

So schwierig die Umsetzung dieser Empfehlungen sind, da sie von den Kommunen über die Länder bis zum Bund aufsteigend, an den Grundfesten der parteipolitischen Praxis kratzen, spricht für sie, dass sie weder wohlfeil noch im typisch linken Gestus der selbsterfüllenden Parteienkritik formuliert sind, sondern im Verständnis für die Dynamik und Zwänge, denen linksreformerische Regierungsakteure unterliegen.

Doch ist das alles überhaupt realistisch? Auf diese Frage hat auch Strohschneider keine Antwort. Aus seiner Sicht wäre im vergangenen Herbst das »Kartenhaus« rot-grün-roter Kooperation zusammengefallen, wenn SPD und Grüne tatsächlich „Ja“ zu den linken Offerten gesagt hätten, denn „kaum gebändigt durch eine vorherige Diskussion hätten die strömungspolitischen Fliehkräfte die LINKE in eine Zerreißprobe geführt“ (34).

Weil in den Debatten über rot-grün-rot „zu viel politisches Déjà-vu“ (56) stecke, empfiehlt Strohschneider am Ende des kleinen Bändchens, dem viele Leserinnen und Leser insbesondere aus den Kreisen rot-grün-roter Entscheidungsträger/-innen auf allen Ebenen zu wünschen ist, über den Tellerrand der gegenwärtigen Debatten hinauszublicken. Denn trotz aller Skepsis bleibt Strohschneider optimistisch: Die Aussicht darauf, eine zurzeit vorstellbare politische Mehrheit links der Union könne die Austragung ihrer zweifellos bestehenden Konflikte „aufschieben, umgehen, aussitzen, ist weit unrealistischer als die Chance, dass dies gelingt“. (91)

Linke Mehrheit? Über rot-rot-grün, politische Bündnisse und Hegemonie. Strohschneider, Tom, 2014, Hamburg: VSA-Verlag, 94 Seiten. ISBN: 978-3-89965-596-4


Weitere Infos

Dörre, Klaus 1999, Die SPD in der Zerreißprobe. Auf dem „Dritten Weg“. In: ders./Panitch, Leo/Zeuner, Bodo u.a. (Hrsg.), Die Strategie der „Neuen Mitte“. Verabschiedet sich die moderne Sozialdemokratie als Reformpartei?, Hamburg: VSA-Verlag, S. 6-24.

Reichersdorfer, Johannes/Zado, Julian 2010, Wahlsieg, Mehrheit, und was jetzt? – Überlegungen zur (notwendigen) Wiederentdeckung der Ministerialverwaltung in der Diskussion um progressive Reformen, Manuskript zur Tagung „Linksreformismus“ URL: http://www.linksreformismus.de/lang/Reichersdorfer-Zado.pdf

Spier, Tim 2013, Perspektiven von Rot-Rot-Grün. In: Decker, Frank/Jesse, Eckhard (Hrsg.), Die deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013, Baden-Baden: Nomos, S. 369-388.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin-Immanuel Hoff

Chef der Staatskanzlei @thueringende; Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. #r2g Twitter: @BenjaminHoff

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