RUS I: Der erste Kontakt

Leben in Russland - nach Urlauben in Barcelona und Berlin besuchte ich vor 3 Jahren meine Freundin zum ersten Mal in ihrer Heimat, Volgograd - fast wäre es mein letzter RUS-Besuch geworden

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Voller Klischees

Kosaken | Folklore | Oligarchen | Wodka | Frauen | Armut | ...

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.. knapp 4 Wochen nach Volgograd, eine Reise ins Unbekannte, ins grösste Land der Erde: Russland Россия (sprich: Rassija) in die Russländische Föderation ... über Moskau Москва (Masskwa) nach Volgograd Волгоград (Wolgagrad), dem ehemaligen Stalingrad.

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Durch einige Gespräche und Online-Recherchen vor meiner Reise wusste ich, dass ich eigentlich nichts wusste oder nur viel Halbwissen über dieses Land und seine Menschen hatte .. irgendwie eine Klischee-Mischung aus alt-russischer Folklore ... Don-Kosaken ... Dschingis-Khan ...

http://polpix.sueddeutsche.com/polopoly_fs/1.266275.1357915464!/httpImage/image.jpg_gen/derivatives/900x600/image.jpgden Bolschewisten-Bildern und diffusen Vorstellungen von Russischer Armut und-Reichtum ... dem Frost, dem Schnee, dem Wodka, der unendlichen Weite, den russischen Frauen und den Autos der Marke Lada, also viele Klischees wie sie die SZ 2010 in "Die Rüpel kommen" ganz gut beschrieb.

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Aber was ist das wirklich für ein Land? Welche Menschen leben hier? Wo, wovon und wie leben sie? Was machen sie in ihrer Freizeit? Wie lebt es sich hier für mich?

Eine deutsch-russische Liebe ausgerechnet im ehemaligen Stalingrad?

Gehe nie mit Deinen Regeln in ein fremdes Kloster!

(russisches Sprichwort)

Erste Verunsicherung

Strenge | kein Lächeln | Streit | Polizei | ...

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Am Flughafen Moskau-Domodedowo kam mir alles recht rauh, insgesamt sehr streng vor, die Polizisten der Grenz-Kontrolle prüften und stempelten gruss- und wortlos, ohne eine Miene zu verziehen, der Inlands-Check-In nach Volgograd brauchte viel Zeit, in der ich mich über laute und sehr strikte Gespräche und Telefonate in meiner Umgebung wunderte, fast kam es mir vor, als würden sich alle streiten.

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Am Schalter offenbarten sich meine fehlenden Russisch-Kenntnisse, Englisch konnte niemand. Die Sicherheits-Überprüfungen waren sehr genau ... ich durfte die Erfahrung eines Nacktscanners machen ... Allerdings muss man bei den strengen Maßnahmen bedenken, dass sich auf diesem Flughafen erst am 24. Januar 2011 ein Terroranschlag ereignete, bei dem 36 Menschen getötet und weitere 152 Personen verletzt wurden.

Härten in Volgograd

Platte | immer noch kein Lächeln | Löcher | Schmutz | Armut | wenig Freude

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In Volgograd wurde ich freundlich abgeholt und nach Hause gefahren. Strassen, Landschaft und Häuser erschienen mir dabei grösstenteils recht heruntergekommen, meist sieht man Hütten mit Müll, Hochhäuser oder ältere Plattenbau-Siedlungen.

http://www.photography-now.com/newsimages/zrus137.jpgDie Wohnung meiner Gastgeberin war jedoch sehr schön, gemütlich, stilvoll und modern eingerichtet. Ein paar Regeln musste ich lernen, alles waschen, was man von draussen reinbringt, kein Wasser aus den Leitungen trinken, Dosen und Flaschen nicht zu sammeln, Müll nicht zu trennen, sondern einfach das Fallrohr 15 Etagen tiefer runterjagen ... Alle wohnen gerade mit offenen Fenstern, denn laut Heizplan ist es im Moment schon kalt. Und ein Plan muss erfüllt werden, auch wenn es +20° ist. Regler haben die Heizungen nicht, nur an/aus. Alle zahlen gemeinsam nach m2 unabhängig davon, wieviel sie verbauchen. Der Alltag meiner Freundin ist mit Arbeit, Kind, Schule und Hausaufgaben betreuen ausgefüllt. Also machte ich mich in den ersten Tagen auf, mein Umfeld, Volgogradund die Menschen selbst zu erkunden, ich versuchte es zumindest.

http://u.jimdo.com/www54/o/s697d661d703ecfe2/img/i93c48ff805f7d471/1348557919/std/image.jpgSpazieren gehen, wandern - das macht in Russland keiner, also gibt es auch kein Wort dafür - die Entfernungen wären hier auch zu weit - die Stadt zieht sich 90km an der Wolga entlang - und Fahrräder gibt es auch keine, höchstens als reines Sportgerät.

Also ist man auf Autos angewiesen. Die Strassen sind erbärmlich, überall Schlaglöcher.

Ein Deutscher läuft in Volgograd die Straße entlang und fällt plötzlich in ein tiefes Loch. Als endlich Hilfe eintrifft beschwert er sich: "Warum haben sie denn kein Schild vor der gefährlichen Stelle aufgestellt." Daraufhin antwortet man ihm: "Als sie hier in Russland angekommen sind, haben sie da nicht das große Schild gesehen: Russische Föderation?!" 3

http://img.rufox.ru/files/big2/607285.jpgOder man traut sich ohne grosse Sprachkenntnisse in Busse oder Tram. Am verbreitesten sind aber die Kleinbusse - die auf ihrer Route überall stoppen, wo man will - Marschrutka. Meist hat man es mit alten, vollen Fahrzeugen zu tun, wenn man Glück hat bekommt man aber auch schon mal einen neuen, bequemen Mercedes-Bus. Dafür zahlt man für eine Fahrt fast nichts, 30 Cent .. und lernt aus nächster Nähe Russisches Leben kennen ... meine Freundin hielt mich allerdings für bescheuert ... freiwillig täte sich das kein Russe an ... es geht da auch schon ziemlich heftig zu, Fahrgäste wie Fahrer schreien. Das öffentliche Leben kam mir insgesamt sehr rau vor.

http://u.jimdo.com/www54/o/s697d661d703ecfe2/img/iba2aad4e90122bad/1348395332/std/neues-geld-frisch-gewaschen-korruption-bleibt-eines-der-hauptprobleme-russlands-foto-photoxpress.jpgDie notwendige Registration ausländischer Besucher bei den Behörden erwies sich nach meiner Weigerung Schmiergeld zu bezahlen, als mehrstündige bürokratische Tortur. Ich lernte kopieren auf Russisch делать ксерокс ("djelat' kseroks") -Xerox wie Tempo.

Im Fernsehen verstand ich wenig ... die meisten Filme waren noch über-synchronisiert ... englische Origignaltöne, russisch drüber geredet - Sprach-Chaos auch hier ...eine TV-Show fiel mir auf, so etwas wie Russland sucht den Super-Hellseher, - Экстрасе́нс - Extrasense Kandidaten, die etwa in einer Plattenbau-Siedlung mit 1.000 Wohnungen erspüren müssen, wo gerade einer mit einer Kalaschnikov auf sie zielt oder anhand der Kleidung eines vom Dach gefallenen Jugendlichen erforschen sollen, wer den Jungen umgebracht hat, dessen Fall die Polizei nicht aufnehmen wollte.

http://ginzaproject.ru/images/5536/182xx80/RNUCq4R6lt4.jpgRussisch lesen ging ganz gut, am besten beim Italiener ... hören war ungleich schwerer ... die Sprache wird im Allgemeinen sehr deutlich artikuliert und meist laut und streng, dennoch verstand ich auch ausserhalb des Fernsehens fast nichts und konnte mich auch kaum verständlich machen - wenn man sich allein bewegt, sollte man in der Provinz schon Russisch können ... erst so die 25 Jährigen abwärts hatten hier Englisch in der Schule.

Aber es gibt einige vertraute Worte, картофель (kartofel) – Kartoffeln / бутерброд (buterbrod) – Butterbrot / котлета (kotleta) – Frikadelle (von Kotelett) / Шпинат (Schpinat) – Spinat / мюсли (mjusli) – Müsli ...

andere übernommene Worte verraten wenig Gutes .. / аншлюс (anschljus) – der Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich 1938 / бакенбарды (bakenbardy) – Backenbart / бухгалтер (buchgalter) – Buchhalter / бургомистр (burgomistr) – Bürgermeister / эндшпиль (endschpil) – Endspiel / факел (fakel) – Fackel / фальшь (fal’sch), фальшивый (fal’schiwyj) – Falschheit, falsch, gefälscht / галстук (galstuk) – Krawatte (von Halstuch) / курорт (kurort) – Kurort / квартира (kwartira) – Wohnung (von Quartier) / лагерь (lager’) – Ferienlager, Arbeitslager, Gulag / ландшафт (landschaft) – Landschaft / ледерхозе (lederchose) – Lederhose / лейтмотив (lejtmotiv) – Grundgedanke, Leitmotiv / гастарбайтер (gastarbajter) – Gastarbeiter

und viel militärisches, bürokratisches und technisches Фельдмаршал (Fel'dmarschal) – Feldmarschall / Ефрейтор (Jefrejtor) – Gefreiter/ Капельмейстер (Kapel'mejster) – Kapellmeister / Гаубица (Gaubiza) – Haubitze / Патронташ (Patrontasch)/ Блицкриг (Blitzkrik) – Blitzkrieg

капут (kaput) – erledigt sein ... Gitler kaput kennt jeder Russe

Cafes, Kneipen und Restaurants sind in Volgograd eher selten und für Einheimische meist zu teuer. Englisch versteht auch hier kaum jemand. Menschen trifft am ehesten in der Maschrutka oder beim Einkaufen.

http://www.photography-now.com/newsimages/zrus136.jpgIch ging in Supermärkte - auf Märkte oder zu den Babuschki am Strassenrand traute ich mich (noch) nicht.

Ein Lächeln bekam ich weder von Bedienungen, Verkäufern noch von normalen Passanten. Das probierte Brot (kauft man besser woanders) oder Bier (teuer!) waren eher nicht zu empfehlen, normale Begenungen nicht vorhanden, so richtige Lebensfreude schien weit entfernt bis unmöglich - ohne Lachen oder sonstige, freundliche Aufnahme.

http://u.jimdo.com/www54/o/s697d661d703ecfe2/img/icf652ea2a101d311/1348490607/std/image.jpgDie häufigen Kriegs-Erinnerungen und Militär-Denkmäler verbreiteten zudem eine bedrückende Stimmung auf mich. Ich war eingeschüchtert und hatte bisher wenig Möglichkeiten, zu den Menschen durchzudringen...

So waren für mich die Eindrücke der ersten Tage: Unfreundlichkeit, Härte, Verschlossenheit, minderwertige Lebensmittel, ungenießbares oder überteuertes Bier, wenig Lebensqualität oder -freude sichtbar. Ich war ernüchtert. Und eigentlich innerlich auch drauf und dran, wieder abzureisen.

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© kopaev.org/

Russland ist ein Rätsel umgeben von einem Mysterium, innerhalb eines Geheimnisses
Winston Churchill

Kritische Selbstreflexion

Vorurteile? | Fehler? | Falsche Einstellung? | Offenheit?

Konnte das die Wahrheit über Russland sein? Harte, korrupte, arme Menschen ohne Lebensqualität in Plattenbau-Siedlungen? ... sicher nicht ... Also versuchte ich mir klar zu werden, was ich da erlebte, ob ich nur sah, was ich sehen wollte, ... Nun, zum einen hatte ich wohl einige unglückliche Erlebnisse, zum anderen war ich wohl doch nicht so weltoffen wie ich glaubte. Intuitiv und mit einiger Überlegung versuchte ich eine neue Einstellung und Herangehensweise1

  1. Arbeite an Deiner eigenen inneren Einstellung. Sei offen gegenüber dem Fremdartigen!
  2. Wenn Du eine Verhaltensweise nicht gleich verstehst, dann bewerte sie auch nicht. Versuche stattdessen, Gründe und Hintergründe zu entdecken.
  3. Und vor allem: Denke nicht, dass Deine Art zu denken und zu handeln, die einzig richtige ist. Akzeptiere, dass andere Menschen die Dinge ganz anders sehen und ans Leben ganz anders herangehen können als Du!

Und in der Tat, mit einigem guten Willen und Erlebnissen wendete sich das Blatt meines ersten RUS-Besuches in der Provinz von Volgograd:

RUS II: Der zweite Blick

(ab 4.5.2014)

1 Russenversteher Von Andrea Lütthans und Irina Zlotina.
Broschur. 2012. 192 Seiten. , € 24,80 (D), ISBN 978-3-470-63841-6

2 Norbert Schott: Geschichten eines Deutschen, der seit über 10 Jahren freiwillig in Sibirien lebt

3 Wlada in Russland - Wlada Kolossowa, 24, russisch stämmig - Reisereportage im SPIEGEL

4 Einige Bilder © kopaev.org/

Danke an Norbert Schott, Wlada Kolossowa, dem Russland-Forum und allen Russen, die so freundlich zu mir waren
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Geschrieben von

berlino1010

Russland-Versteher in Ausbildung

berlino1010

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