Katastrophe Krankenhaus

Medizin im Alltag "Die wissen, was sie tun" hofft jeder, der wegen medizinischer Versorgung stationär ins Krankenhaus muss. Der Augenzeugenbericht eines Insiders ist desillusionierend.

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„Der Satz des Hippokrates, die Hauptbedingung der Heilkunst sei die, dass sie nicht schade, wird auch in Bezug auf den Körper häufig nicht, in Bezug auf die Seele aber niemals angewandt. Die Regel, dem Körper nicht zu schaden, wurde früher bei Aderlässen nicht befolgt und wird auch jetzt bei Operationen, bei der Gabe giftiger Medikamente und bei vielem anderen nicht befolgt. An den Schaden der Seele aber, der mit jedem Heilverfahren einhergeht, denkt niemand. Und zwar besteht dieser Schaden in der Legitimation der gröbsten Selbstsucht: dass man den Dienst der anderen erwartet, statt selbst dem Menschen zu dienen. " Lew Tolstoi, Alle Tage, München 2010, S. 524

"Röntgenbesprechung Montag kurz vor sieben: die digitalen Ziffern der Atomuhr sind an die Wand gebeamt. Um 07:00:00 stoppt der countdown. Es wird dunkel. Die Bildfolgen eines
nativen Schädel CT erscheinen, vom Radiologen im knappstem Telegrammstil befundet. Auf hartem Gestühl, reihenweise zur Wand hin ausgerichtet sitzen ca. 20 Ärzte. Die erste Reihe gehört den Chef- und Oberärzten. Jeder Eintreffende begrüßt sie nacheinander mit Handschlag. Dispensiert von diesem Ritual sind nur Erkältete und Zuspätkommer. Hastig schließen sie die Tür zum neongrellen Gang, und huschen geduckt zu freien Stühlen. Chronologisch dokumentieren endlose Bilder, was in Ambulanz und Klinik von Freitag Mittag bis gerade eben geröntgt wurde. Die frühe Stunde, das Dunkel des überheizten Raumes, mein schlapper Blutdruck, die staubtrockene Monotonie des Radiologen und die rasche Bildfolge erlauben mir nicht, die Befunde der neuen Patienten auf meiner Station zu erfassen. Zur Besprechung hatte ich die aktuelle Belegungsliste ausgedruckt. Sie bleibt wie immer lückenhaft.


Endlich sind alle Bilder gezeigt. Die Wand wird himmelblau.
Alle blinzeln, das Neonlicht flammt auf. Der Radiologe verlässt grüßend den Raum, die Chefärzte machen mit ihren Stühlen front zu den Ärzten: nun tragen die Kollegen vor, die am Wochenende Dienst hatten. Eine Dienstanweisung lautet: Jeder, der die Ambulanz aufsucht, wird aufgenommen.
Grund dafür ist nackte Ökonomie: die Klinik will ihren Umsatz steigern. Die Kollegen spulen nun die schier endlose Prozession der Patienten noch monotoner und komprimierter ab als der Radiologe: Alter, Name, Diagnose, Station ggf. Verlegung nach... .

Nächster.
Weit wortreicher wird ein altes Übel neu vorgetragen : wer ist eigentlich wofür zuständig. Die Kooperation in der Ambulanz ist notorisch miserabel. Grundsätzlich klebt alle Arbeit am
Internisten. Schließt der eine Erkrankung auf seinem Fachgebiet aus und ruft einen Chirurgen, Neurologen oder Psychiater dazu, wollen diese Kollegen vorab die präzise Diagnose ihres Fachgebiets hören.
Dass sie gerufen werden um eben diese selber zu stellen, sehen sie selten ein. Also erklären sie sich gar zu gerne für „nicht zuständig“. Fast immer läuft das so bei Volltrunkenen: allenfalls näht der Chirurg noch schnell eine Platzwunde, bevor er dem Internisten alles Weitere überlässt. Während Hilfesuchende die Ambulanz fluten, muss der noch Absagen vom Neurologen und Psychiater hin nehmen, ehe er den schreienden, tobenden und oft wütend um sich Schlagenden gegen den Protest der Nachtschwester stationär aufnimmt. Den Rest der Nacht verfolgen ihn dann die Anrufe der Schwester, die den Berserker nicht bändigen kann. So wieder geschehen diesen Sonntag zur morgenfrühen blauen Stunde. „Ja, das muss ich bei der nächsten Leitungskonferenz regeln“, erklärt sonor der Chefarzt. Der Honorarkollege neben mir, seit Jahren regelmäßig im Hause, knufft mich feixend: „Das höre ich schon 2 Jahre. Das ändert sich nie. Deshalb schiebe ich hier keine Dienste. Für dies Organisationschaos halte ich meinen Kopf nicht hin“. Ich nicke - es ist in allen Kliniken dasselbe.

Endlich erreicht der dienstliche Rapport die aktuell in der Ambulanz Wartenden. Der Tagdienst wird sie versorgen. Doch der ist nicht zum Dienst erschienen: Kind krank. „Ein Stationsarzt übernimmt die Ambulanz, seine Arbeit macht der Stationskollege“, erklärt sonor der Chefarzt. Jeder weiß: er verschiebt das Chaos von der Ambulanz auf die Station. Egal, geht nicht anders. Während der Mangel noch rationiert wird, beamt einer die Liste der heutigen Neuaufnahmen an die Wand. Es sind 19 Patienten einbestellt. Alle Betten sind belegt, entlassen wird keiner. Zuständig für diese Liste ist Niemand.
Was tun ? Mathematisch werden die Zugänge den Stationen zugeteilt. Hauptsache, Ordnung im Chaos. Sonor lässt sich neuerlich der Chefarzt hören: „Für die Liste muss Einer verantwortlich sein . So geht das doch nicht“. Wieder knufft mich mein Nachbar. Heute ist Montag und deshalb immer noch nicht Schluss: drei Kollegen sitzen in Zivil da. Alles Honorarärzte die diese Woche anfangen. Neben den Chef- und Oberärzten beschäftigt das Haus 8 Assistenzärzte, daneben sorgen ständig 6-12 Honorarärzte für reibungsfreien Betriebsablauf. Der Chefarzt bittet die neuen Kollegen sich rasch vorzustellen: sie stammen aus Albanien, Rumänien, und der Ukraine. Alle besitzen die deutsche Approbation. Über der Klinik sollte die Europafahne wehen.


Die Neuen werden eingeteilt, dann leert sich der Raum.
Das wird auch Zeit. Genervt hatten die Chirurgen bereits mehrfach an die Tür gedonnert. Vor 15 Minuten sollte Ihre Besprechung bereits beginnen. Die Allgemeine Innere Abteilung der Klink ist subspezialisiert in Gastro-Enterologie und Kardiologie mit Herzkatheterplatz. Weitere Abteilungen sind Röntgen, Chirurgie, Urologie, Gynäkologie mit Geburtshilfe, Neurologe und Psychiatrie. Ich folge den gefliesten Gängen zur allgemeinen Inneren Station. Idealerweise betreuen dort drei Ärzte 35 Betten. Heute muss einer zusätzlich die Ambulanz versorgen. Das bedeutet für alle Betroffenen multitasking.


Genau das üben die Schwestern auf Station bereits. Seit letzter Woche müssen sie acht Schwerstpflegefälle zwischen 86 und 94 Jahren versorgen. Sechs wurden von Pflegeheimen zum Sterben in die Klinik verlegt. Ihre notariell beglaubigte Patientenverfügung lehnt jede lebensverlängernde Maßnahme ab. Sie in gewohnter Umgebung sterben zu lassen kostet das Heim Aufwand und Mühe. Heime sparen an beidem. Also werden Betroffene gegen ihren und den Willen der Angehörigen in die Klinik ausgelagert. Immer findet sich ein Arzt, der die Einweisung ausschreibt. Alternativ wird notfallmäßig verlegt: „man könne die Verantwortung nicht weiter übernehmen“. Diese ebenso häufige wie inhumane Praxis kann keine Klinik personell kompensieren. Durch strengsten Sparkurs der Verwaltung ohnehin beständig in Unterzahl, katapultiert das aktuelle Chaos die Schwestern weit über ihre Belastungsgrenze hinaus.
Am brusthohen Tresen der ihren Arbeitsbereich abschirmt, quetscht sich eine dichte Traube von Menschen. Alle wollen dasselbe : sofortige und bitte recht zuvorkommende Bedienung. Jedes Wochenende werden regelmäßig bis zu dreißig Patienten notfallmäßig aufgenommen. Viele fühlen sich, kaum im Klinikbett, nahezu geheilt. Montags warten dann die Krankenakten derer, die sich bereits selbst entlassen haben, auf bürokratische Verdauung. Manche wollen lieber vom Arzt persönlich entlassen werden. Der soll aber bitte sofort kommen, schließlich hat man schon länger auf ihn warten müssen. Deshalb fehlt jedes Verständnis, wenn der Entlassungsbrief nicht sofort zur Hand ist, oder gar noch Diagnostik betrieben werden soll. Auch mit großem Geschick lässt sich bei solcher Anspruchshaltung Streit nicht immer umgehen. Ein solcher Patient ist Herr P.: er war Sonntag früh als Notfall mit unerträglichen Bauchschmerzen gekommen. Inzwischen fühlt er sich gesund. Er will umgehend den Arzt sprechen, der ihn schnellstens entlassen soll . Weitere vier bilden die Vorhut der Neuaufnahmen. Sie möchten dass ihre Untersuchungen
heute noch beginnen. Deshalb sind sie extra früh gekommen. Hektisches Gedränge zur Aufnahme hatten sie nicht erwartet. Ihre Verwandten, die das Gepäck schleppen, auch nicht.
Vom Arzt wollen sie schon mal Details über die geplante Diagnostik wissen. Und vor allem, wann Mutti/Vati/ Oma/Opa wieder entlassen wird.

Meistens beginnt die Stationsarbeit mit Durchsicht der aktuellen Labordaten und Untersuchungsbefunde. Neue Patienten untersuche ich noch einmal selber und sichte deren Vorbefunde, um Art und Umfang erforderlicher Diagnostik fest zu legen. Heute ist aber nicht meistens. Gut das jede Woche nur einen Montag hat denke ich, und gehe hinter den Tresen. Während die davor Stehenden mich schmaläugig mustern bitte ich sie, ins Zimmer zu gehen bzw. sich auf das nahe stehende Sofa zu setzen. Unter Protest leert sich der Tresen. Jetzt können die Schwestern ungestört arbeiten. Notfälle melden sie heute nicht, also kann ich vordringlich Platz für die Zugänge schaffen. Ich suche mir die Befunde von Herrn P. hervor. Der arbeitslose Hartz IV Empfänger liegt im Einzelzimmer. Dort fläzt sich der dickleibige Mittzwanziger im quitschbunten Jogginganzug beim multitasking auf dem Bett: während die Arztserie im Frühprogramm flimmert, fingert er am Handy. Ein zweites liegt griffbereit. Auf dem Nachttisch stapeln sich Chips und Schokolade, wohl aus dem Klinikshop. Die Begrüßung beweist Vollkaso-Mentalität. Den Blick starr zum Fernseher gerichtet pampt er : „Wieso ich denn jetzt erst käme, das ganze Wochenende (er meint 26Stunden) wäre grad mal „jemand“ zur Visite erschienen. Aber da habe er fest geschlafen. Er war schließlich müde vom durchfeiern. Macht Hunger. Gegen 03:00 dann: Döner am Bahnhof. Der sei ihm nicht wirklich bekommen, sicher Lebensmittelvergiftung: erbrechen, Bauchschmerzen, aber wie ! Lieber gleich ab in die Klinik, hätten die Kumpels auch gemeint. Hätte er gewusst dass sich hier keiner kümmert: nicht mal zu essen habt ihr was Vernünftiges ! Wann kann ich jetzt endlich gehen ? “ „Gegen ärztlichen Rat jederzeit,“ erkläre ich „ hier ist kein Gefängnis. Aber sind Sie nicht mit unerträglichen Schmerzen gekommen? Die sind bislang nicht abgeklärt. Im Röntgen sieht man zwar keine freie Luft im Bauch, aber bislang weiß keiner, wie krank oder gesund Sie sind.“ Solche Sorgen plagen ich nicht : „ich merk doch, ob ich gesund bin oder nicht“, höre ich. Ungelenk unterschreibt er die Erklärung, dass er die Klinik gegen ärztlichen Rat verlässt. Wortlos stopft er seine Sachen in Plastiktüten und verschwindet. Die Tür bleibt offen.
Seinen Fall werde ich später zeitaufwendig bürokratisch bearbeiten müssen. Jetzt melde ich den Schwestern das freie Zimmer und erfahre, dass wir sofort einen 92 Jährigen von der Psychiatrie übernehmen sollen. Das hat der Oberarzt gerade telefonisch angeordnet . Der demente Mann soll Lungenentzündung haben. Die behandelt man mit Tabletten. Das können Psychiater angeblich nicht. Ist das zu verstehen ? Ich soll hier aber nicht denken sondern funktionieren. Vielleicht kann Kaffee meinen Ärger besänftigen. Eben stehe ich in der Küche, da höre ich ein Bett über den Flur rumpeln: der Zugang ist da. Das ging ja flott. Kurz danach hastet Schwester Nadine in die Küche. Blass flüstert sie: „ Herr Doktor, sehen sie bitte schnell nach dem Zugang“. Ich stelle die Tasse ab, und folge ihr zum Patienten. Der bläulich marmorierte 92 Jährige ist unverkennbar verstorben. Ich kann es nicht fassen. Die Schwestern, die den Toten verlegt hatten, sind verschwunden. Ich rufe entsetzt und empört der zuständigen Psychiater an. Der erscheint, kann aber nicht erklären, wie so etwas möglich ist. „.. viel los heute...“ murmelt er und verspricht, den Toten abholen zu lassen, und dessen Angehörige zu informieren. Dann rücken die Psychiatrie- Schwestern wieder an. Nadine kennt Beide als erfahren und zuverlässig. Ihr bleibt dieser Vorfall völlig rätselhaft.


Sie begreift ihn als bedauerlichen Ausrutscher, nicht als Symptom. Das dahinter wirkende System erkennt sie nicht: ständige Überlastung bewirkt bei Menschen, dass sie zwar immer besser funktionieren, dafür aber immer weniger wahr nehmen was sie tun. Menschliche Medizin braucht teilnehmendes Mitgefühl, Funktion distanziert. Je imperativer die ökonomische Fuchtel dominiert, desto inhumaner wird Medizin. Patienten sind keine Kunden, Gesundheit keine Ware, Ärzte und Schwestern kein Service-Personal, Kliniken keine Reparaturbetriebe. Soll ein Gesundheitssystem Gewinn erbringen, muss es funktionell sein. Medizin als zwischenmenschliche Beziehung wird dabei versachlicht. Profit für Wenige macht Alle zu Opfern. Interessanterweise wird die unerbittliche Kälte dieser Entwicklung allgemein ignoriert. Lieber attackieren Ärzte, Schwestern und Patienten einander wechselseitig, als gemeinsam die dafür verantwortliche Politik."

Wie realitätsnah ist es, dass diese Einschätzung widerlegt wird?

http://www.ralf-kollinger.de/wp/wp-content/uploads/2014/05/Tagebuch-Katastrophe-Krankenhaus.pdf

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Geschrieben von

bertamberg

Xundheit! Salut! o! genese! Aufs Ganze gehen, bei Erkennen & Tun, Diagnose & Therapie. Alles ist vollkommen, "wenn das nötige gemacht ist." (Goethe)

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