Wissenschaft nach Potemkin'scher Manier (1)

Unredliche Medizin 1 Die Serie von gefälschten Studienergebnissen, die es geschafft haben, die Hürde der Publikation in offiziellen Fachzeitschriften zu nehmen, reißt nicht ab.

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Kurzer Rückblick

Im Jahr 2009 wurden 21 Publikationen des Anästhesisten Scott Reuben von der Tufts University School of Medicine in Boston, Massachusetts, zurückgezogen, weil sie gefälschte Daten enthielten. 2010 zogen 11 Journale um die 90 Publikationen von Joachim Boldt, der damals an einem Krankenhaus in Ludwigshafen beschäftigt war, zurück. Boldt hatte ebenfalls Daten gefälscht.

Diederik Stapel hatte 30 Veröffentlichungen in angesehenen Journalen seines Feldes plaziert, die mit großer Gewissheit gefälschte oder komplett erfundene Daten, enthielten . "Stapels Fall reiht sich immerhin in eine nicht enden wollende Serie von Betrugsfällen ein, die meist brisante Forschungsfelder oder hochangesehene Wissenschaftler betreffen."(http://www.freitag.de/wissen/1146-forsch-weggeguckt)

Der Boden des Fasses?

Über Tricksereien von Experten und die Schwierigkeit, sie zu durchschauen hatte ich mich schon mal ausgelassen (https://www.freitag.de/autoren/bertamberg/ernst-enttauschende-wissenschaft) und diese Erfahrung machte auch Prof. Peter Kranke, Arzt an der Würzburger Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie. Er musste 12 Jahre an seiner Kritik festhalten, bevor er bestätigt bekam, dass er kein querulierender Kollegendenunziant war, sondern als Doktorand einem groß angelegten Wissenschaftsbetrug eines Kollegen der gleichen Fachrichtung auf die Spur gekommen war. (http://news.doccheck.com/de/article/212187-gefaelschte-studien-falscher-fujii/?utm_source=DC-Newsletter&utm_medium=E-Mail&utm_campaign=Newsletter-DE-Arzt%20%285x%2FWoche%29-2012-12-11&mailing=42201&dc_user_id=88663dcab865d82323da96ed6deddc43&cide=dce106609&t1=1355246483&t2=54daf8cc47fecf76a75192ab5b2df92b6efcadcc http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/10735823http://www.nature.com/news/retraction-record-rocks-community-1.11434

"Das Ausmaß, in dem Berichte über Studien oder Experimente plötzlich nicht mehr gelten, nimmt zu: Waren es in den neunziger Jahren noch um die 30, ist die Zahl inzwischen auf rund 400 jährlich gestiegen. Medienberater Grant Steen aus North Carolina kommt für den Zeitraum von 2000 bis 2010 auf 180 zurückgezogene Arbeiten mit Forschungen am Menschen. Im Fachbereich Medizin zählte die Amerikanerin Barbara Redman rund 330 Publikationen in den Jahren 1995 bis 2004. Auch in diesem Ausschnitt steigt deren Zahl stetig an. Bei rund 5 Millionen Beiträgen im Untersuchungszeitraum ist das nicht viel, dennoch sind die Folgen oft massiv." http://news.doccheck.com/de/article/209586-retraktion-die-vertuschte-veroeffentlichung/?cide=dce105800

Auf der einen Seite wird immer wieder betont, dass Medizin nach evidenzbasierter Manier gefeit ist vor Fehlbeurteilungen, da verwundert es schon, wenn andererseits bei geringfügigen Abweichungen der Untersuchungsparameter die Zahl der korrekturbedürftigen Studienergebnisse selbst bei randomisierten Studien bis zu 25% betragen soll [http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1182327/?tool=pmcentrez), bei nichtrandomisierten Studien angeblich bis zu 80% falscher Ergebnisse ermittelt werden (ebd.). Die Frage nach der Vergleichbarkeit an sich und nach der relativen Aussagekraft nicht vergleichbarer Studien scheint nicht abschließend beantwortet zu sein.

"Daniele Fanelli von der Universität Edinburgh nahm viele Untersuchungen zum Thema „böswillige oder unabsichtliche Datenmanipulation“ unter die Lupe und fand in seiner Metastudie heraus, dass rund zwei Prozent aller Wissenschaftler schon einmal zugegeben haben, Daten fabriziert oder gefälscht zu haben - mit hoher Dunkelziffer. Auf ähnliche Häufigkeiten kommt auch die amerikanische Medizin-Aufsicht FDA." (ebd.)

"Die Frage nach Kollegen, die Daten erfunden, gefälscht oder geschönt hatten, um die Ergebnisse zu verbessern, ergab eine gewichtete Schätzung von 14,12% . Wurde nur nach Erfindung oder Fälschung gefragt, lag der gewichtete Schätzwert bei 12,34%. Zwischen 6,2% und 72% der Befragten hatten Kenntnis von fragwürdigen Forschungspraktiken. Bei allgemeinerer Fragestellung lag der Wert zwischen 12% und 92%." (http://de.wissenschaftlichepraxis.wikia.com/wiki/Untersuchungen_zu_Datenf%C3%A4lschung_und_schlechter_Wissenschaft)

"Ein Drittel der befragten Wissenschaftler gab an, in den letzten Jahren wenigstens einmal eine Verfehlung der Top-10 "begangen" zu haben." (http://www.heise.de/tp/artikel/20/20276/1.html)

Hohe Dunkelziffer -- wenn wir berücksichtigen, dass nach Fanelli bis zu 72% Prozent der Wissenschaftler Kenntnis von fragwürdigen Forschungspraktiken haben, liegt der reale Anteil vermutlich über 50 %, was nichts anderes bedeutet, als dass Wissenschaft überwiegend als Fake stattfindet.

Weitere Fälle:

"Zum Beispiel ließ die Fa. Wyeth (großer Arzneimittelhersteller; in Deutschland: Pfizer GmbH) im Verlaufe von 6 Jahren (1997-2003) über „eine Firma mit dem programmatischen Namen Design Write“ mehr als 100 „wissenschaftliche Artikel“ u.a. in anerkannten Fachzeitschriften publizieren, die dem Ziel dienten, Hormonersatztherapie im Klimakterium und schon davor einzusetzen. Damit sollte qua Publikationsmasse die Bedeutung anderer wissenschaftlicher Erkenntnisse verdünnt werden, welche die Zunahme von Krebshäufigkeit bei diesen Frauen belegten.

Ferner legt das arznei-telegramm in dieser Publikation dar, dass eben jenes unten in der Anmerkung zum Thema „wissenschaftliche Anerkennung“ erwähnte und in der wissenschaftlichen Szene zur Spitzenklasse zählende Fachorgan Lancet „einer Umfrage zufolge im Jahr 2005/06 41 % des Einkommens über Sonderdrucke erzielt“ habe („Lundh, A. et al.: PLoS Medicine 2010; 7(10): e1000354“). Diese mit zusätzlichen Einnahmen für die Zeitschrift verbundenen Sonderdrucke sind in der Regel Manifestationen von firmengesteuerten und oft mit Ghostwriter-Strategie gesteuerten Einflüssen." (http://praxisvongladiss.de/pdf/Wissenschaftliche%20Anerkennung%20Begriff%20und%20Ghostwriting.pdf)

"Einem Dogma gleich gelten Doppelblindstudien und die Publikation dieser Studien durch anerkannte Wissenschaftler in anerkannten Fachzeitschriften als Kriterien für wissenschaftliche Anerkennung. Nebulös bleibt dabei, wer eigentlich was anzuerkennen habe, wenn man vom Verweis auf Kommissionen absieht, deren Zusammensetzung nicht selten durch Lobbyisten majorisiert wird. Allgemeine Sprachregelung ist, anerkannte Wissenschaftler seien Inhaber universitärer Lehrstühle, die die medizinische Lehre prägen und in wissenschaftlich anerkannten Fachzeitschriften publizierten. Fachzeitschriften könnten dann als wissenschaftlich anerkannte bezeichnet werden, wenn sie über einen durch wissenschaftlich anerkannte Fachleute besetzten Beirat verfügten, wenn sie über die Annahme eingereichter Publikationen nach wissenschaftlich anerkannten Kriterien entschieden und wenn ihnen in der Fachwelt ein konsensualer Standardstatus zukomme. Als Paradebeispiel für eine solche Zeitschrift gilt unter anderen die Zeitschrift Lancet. (...) Unter dem Strich präsentiert sich um den Begriff der wissenschaftlichen Anerkennung eine Szenerie, die sich selber definiert und die sich aus sich selbst heraus regeneriert." (ebd.)

Fehlrepräsentierte Wirklichkeit

Nach Thomas Metzinger hat die neuere Forschung gezeigt, dass die Evoluton in vielen Fällen systematische mentale Fehlrepräsentationen der Wirklichkeit hervorgebracht hat. Es gebe eine "Evolution der Selbsttäuschung". (http://www.meditation-wissenschaft.org/images/stories/folien2010/Metzinger_Redlichkeit.pdf)

Nach ihm haben positive Illusionen, Verdrängungsmecha-nismen und wahnhafte Modelle der Wirklichkeit zwar in vielen Fällen den Fortpflanzungserfolg unserer biologischen Vorfahren erhöht; der Vorteil von adaptiven Wahnsystemen liege darin, dass der Zusammenhalt von Großgruppen erhalten werden könne, eine Stabilisierung interner Hierarchien erfolge, und es sich somit um "funktional adäquate Formen der Selbsttäuschung" handele.

Gegen diese Wahnsysteme hält Metzinger "das ethische Prinzip der intellektuellen Redlichkeit [das] man als einen Sonderfall der spirituellen Einstellung " sehen könne, in ihren Reinformen entstehe die wissenschaftliche und die spirituelle Einstellung aus derselben normativen Grundidee.

Wenn Karl R. Popper sagte:

„Ich bin nicht bereit, eine Idee, eine Annahme, eine Theorie zu akzeptieren, die sich nicht durch Argumente oder die Erfahrung verteidigen lässt“ (…) Man sieht nun sofort, dass diese Prinzip des unkritischen Rationalismus einen Widerspruch enthält; denn da es sich seinerseits weder durch Argumente noch durch die Erfahrung unterstützen lässt, so folgt aus ihm, dass es selbst aufgegeben werden muß. " (aus: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1958; Band II: 281f)

wird klar, dass die Wissenschaft nach Potemkin'scher Manier ein zu bekämpfendes Wahnsystem darstellt, weil es mit dem Prinzip der intellektuellen Redlichkeit aufs schärfste kollidiert. Auch wenn sich dieses System äußerst gut mit Renditeerwartungen global agierender Shareholder verträgt, gut getarnt sich selber definiert und sich aus sich selbst heraus regeneriert, ist Popper zu folgen: Es liegt auf der Hand, dass diese Art von Wissenschaftswahn aufgegeben werden muss, nicht nur in der Medizin. Dazu wird es nötig sein, Wissenschaft neu zu definieren und die Art der Systemerhaltung zu konterkarieren, Argumente und Erfahrung gleich zu wichten.

Wer erinnert sich noch daran, wie er damit traktiert wurde, Spinat zu essen, weil der doch so gesund ist und viel Eisen enthält? Die Mär vom gesunden Spinat beruhte auf einem Kommafehler, der unüberprüft mehrere Generationen von Forschern, Buchauflagen und politischen Systemen überdauert hat. Genug davon.

Dank an A.S.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

bertamberg

Xundheit! Salut! o! genese! Aufs Ganze gehen, bei Erkennen & Tun, Diagnose & Therapie. Alles ist vollkommen, "wenn das nötige gemacht ist." (Goethe)

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