Brüsseler Spitzen - EU ignoriert Verbraucher

Energiekosten Industrieunternehmen beklagen hohe Energiekosten: Die EU-Kommission fordert in ihrem Maßnahmenkonzept mehr Wachstum und internationale Wettbewerbsfähigkeit

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Brüsseler Spitzen - EU ignoriert Verbraucher

Foto: Sean Gallup/ AFP/ Getty Images


Brüssel, 22.5.2013 (dk)

Das Wehklagen der großen Industrieunternehmen über steigende Energiekosten ist bei der EU deutlich vernommen worden: Nun fordert die EU-Kommission in einem Maßnahmenkonzept mehr Wachstum und Erhöhung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit für die europäische Wirtschaft.

Kernthema des Strategiepapiers, welches die Autorin Cerstin Gammelin via Süddeutsche Zeitung jüngst zitierte, bildet die Senkung der Energiepreise, vorrangig der Strompreise, um Prosperität für Arbeitsplätze und ökonomisches Wachstum zu schaffen. Dabei soll die Förderung von Zukunftstechnologien dem Ziel, günstigere Energie zu erzeugen, nachgeordnet werden.
Die EU erwägt beim Brüsseler Gipfel eine breite Kostensenkung für die Industrie. Doch wo werden die Verbraucher entlastet?

Zum heutigen Mittwoch, 22. Mai 2013 beginnt das EU – Gipfeltreffen in Brüssel, wo die beteiligten Staats – und Regierungschefs u. a. die Kernpunkte dieses Strategiepapiers besprechen werden. Der Entwurf ist bereits zwischen den europäischen Regierungen abgestimmt. Vorab forderte die EU – Kommission bereits greifbare Maßnahmen, um eine attraktivere Energieversorgung für Industrie und Haushalte zu gewährleisten.

Brüsseler EU – Gipfel favorisiert Strategiewechsel bei Energiepreisen

Dieses Vorhaben offenbart einen grundlegenden Strategiewechsel der verantwortlichen EU – Regierungschefs: Anstelle der Innovationsförderung tritt nun die Standortsicherung qua Versorgungseffizienz. Hier gibt die EU den Forderungen der Industrie nach, deren Vertreter, wie der Verband der europäischen Industrie, kontinuierlich klagten, dass die hohen Energiepreise in Europa es den Unternehmen immer schwerer machen würde, die globale Wettbewerbsfähigkeit aufrecht zu erhalten und Arbeitsplätze zu generieren. Angesichts einer Rekordjugendarbeitslosigkeit vor allem in Ost – und Südeuropa, aber auch in Großbritannien, Irland und Frankreich stellt die Arbeitsmarktsituation parteiübergreifend das größte Argument für die Kostenentlastung der Industriebetriebe dar. Einzig Politiker der europäischen Grünen bleiben bei ihrer klassischen Innovationslinie und bemängeln die neue Positionierung der EU – Kommission bereits als „Rolle rückwärts“.

Doch die jüngsten Zahlen drücken sowohl liberal – konservative wie sozialdemokratische Regierungen in eine gemeinsame Ruderbank: Gestern (21.5.13) beschloß die deutsche Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) gemeinsam mit ihren spanischen Amtskollegen die Aufnahme von 5000 spanischen Jugendlichen in den deutschen Arbeitsmarkt. Doch der Brain Drain spanischer qualifizierter Arbeitskräfte geht auch nach Übersee: Ob Mikrobiologen, Raumfahrtingenieure oder Informatiker: Die junge spanische Intelligenz wandert, so sie kann, in die USA, nach Brasilien oder Kanada aus. Das entlastet zwar kurzfristig den spanischen Steuerzahler und hilft den Familien der jungen Akademiker – doch auf lange Sicht liquidiert Spanien damit seine Wettbewerbsfähigkeit, indem der Fachkräfte – Exodus keine Grundlagen für das eigene Land bildet und eine Wissenswüste hinterlässt. Schon jetzt sprechen wie gestern mit der deutschen Tagesschau oder mit der britischen BBC nicht nur spanische Medien von einer „generación perdida“, einer „lost generation“, die Spanien über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte ins wissenschaftliche wie standortwirtschaftliche Abseits zu manövrieren droht.

EU: Entlastung der Industrie für Standortsicherung und Arbeitsmarkt

Doch das, was augenscheinlich in Spanien, immerhin der fünftgrößten Wirtschaftsnation der EU, passiert, geschieht in Polen, Tschechien, Griechenland oder Portugal schon lange. Und auch der ehemalige Musterknabe der EU, Irland, beklagt den bekannten Exodus junger Fachkräfte in die USA, wo, wie bis Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts üblich, sprachliche wie familiäre Gründe einen Karrierestart in den USA oder Kanada vereinfachten. Ein EU – weiter, jahrelanger Brain Drain, gekoppelt mit zunehmender Unattraktivität als Wirtschaftsstandort, mangelnde Steuereinnahmen gepaart mit steigender Belastung der Sozialkassen bilden die Zutaten eines mortal coils, den die EU-Regierungen erkannt haben und nun abwehren wollen.

Erste Maßnahme also: Standortsicherung, damit verbunden Senkung der Stromkosten, Beibehaltung fossiler Energieträger zur Energieerzeugung. Dann Kopplung der Ausbildungsplätze, Forschungstransfer und Arbeitsplatzausbau europäischer Unternehmen. Schließlich Senkung der Sozialausgaben mittels ökonomischer Konsolidierung und Erhöhung der Steuereinnahmen. Und nach Berechnungen des europäischen Industrieverbandes zahlen Unternehmen in Europa bis zu drei Mal höhere Energiepreise als Firmen in den USA. Demnach haben erneuerbare Energien sowie der Handel mit Zertifikaten für den Ausstoß von Kohlendioxid die Preise in die Höhe getrieben. Folge: Die jüngste Abstimmung des europäischen Parlaments in Straßburg zum, gekappten bzw. gekippten Emissionshandel.

Brain Drain und Wettbewerb: Alternative im Abseits

Es dürfte für Vertreter innovativer bzw. grüner Wirtschaftsmodelle schwer werden, durch diesen gordischen Knoten zu lavieren, ohne ihn zu zerreißen. Die Industrielobbyisten fordern die EU dazu auf, die Klimaziele zu überdenken und Energietechnologien zu fördern. Die Zeit sei reif für eine resolute Strategie gegen hohe Preise. Die EU-Kommission präsentierte hinsichtlich dieser Forderungen zuletzt sowohl aus Industrie- als auch aus Verbrauchersicht alarmierende Zahlen:

Demnach sind laut Eurostat die Strompreise für europäische Unternehmen in den vergangenen sieben Jahren im EU-Durchschnitt um 37 Prozent gestiegen, während sie in den USA sogar leicht sanken. Die Verbraucherpreise schraubten sich im gleichen Zeitraum um 22 Prozent nach oben. In vielen EU-Ländern müssen Menschen mit niedrigem Einkommen demnach ein Viertel ihres Monatsbudgets für Strom, Heizung und Benzin aufwenden. Rechnet man die teils hohen Miet – und Versicherungskosten für Rente, Gesundheit und Pflege hinzu, ist eine Wertschöpfung und nachhaltige Wohlstandssicherung bei vielen Bürgern nicht mehr zu realisieren.

Private Haushalte: Kein Auskommen mit dem Einkommen

Doch genau hier, bei Wohlstandssicherung und Nachhaltigkeit sehen andere Energiepolitiker die neuen EU – Pläne kritisch: So erklären die Energieexperten der Grünen, dass Unternehmen heute weniger für Energie zahlen müssen als in den Jahren 2007 und 2008. Das, so die Kritiker, läge vor allem daran, dass beispielsweise in Deutschland die Kosten für den Ausbau erneuerbarer Energien ausgerechnet auf die Privathaushalte verteilt würden. Sollte es also wie geplant zu weiteren Vorteilen für die Industrie kommen, müssten private Verbraucher viele Milliarden Euro für den geplanten Netzausbau möglicherweise alleine zahlen.

In der EU-Kommission gibt es zudem Pläne, die energieintensive Stahlindustrie stärker zu unterstützen. Die Mitgliedsstaaten wollen nach Informationen der Süddeutschen Zeitung Steuern und Abgaben über zwei Jahre einfrieren oder aber Ausnahmen energieintensiver Unternehmen von Abgaben erwirken. Dabei geht es vor allem um Kosten für den Ausbau der Netze, an denen die Unternehmen beteiligt sind. EU – Energiekommissar Günther Oettinger plädiert zudem ausdrücklich für eine Initiative zur Förderung von Schiefergas. Dagegen laufen allerdings auch konservative Kräfte Sturm, zuletzt die Bierbrauer, die um das Reinheitsgebot bangen.

"Dass Atomkraft förderfähig wird, ist verantwortungslos" (Rebecca Harms)

Der energiepolitische Sprecher der Grünen/EFA, Claude Turmes, kritisiert das “politische Getöse” um die Energiepreise als “irreführend und unwirksam”: “Wer auf den Energiepreis einwirkt, ohne die Energieinfrastruktur zu modernisieren, vergrößert nur die Abhängigkeit von Energieimporten und verschleppt die notwendige Erneuerung der Kraftwerke und Netze in der EU. Die EU-Politik sollte besser auf die Energieeffizienz einwirken und damit die Kosten für den Endkunden herabsetzen.

Schiefergas ist keine Lösung für die Energieprobleme der EU, sondern eher ein trojanisches Pferd: Diese Energieform ist nicht nur gesundheitlich und ökologisch sehr risikoreich, auch ihre Wirtschaftlichkeit ist sehr fraglich. Der Boom in den USA hat oft mehr neue Probleme geschaffen, als alte gelöst. Wir sollten in Europa nicht in dieselbe Falle tappen”, so Turmes.

Die Grünen im Europäischen Parlament warnen aktuell eindringlich vor einer “Rolle rückwärts in die Energievergangenheit”. “Ein Frontalangriff gegen die Klima- und Energiepolitik der vergangenen Jahre wäre auch ein Affront gegen die europäische Bevölkerung, die mehrheitlich weder Atomkraft noch Schiefergasförderung unterstützt. "Der Plan die Subventionsvorgaben der EU so zu ändern, dass auch Atomkraft förderfähig wird, ist verantwortungslos”, erklärte Rebecca Harms, Vorsitzende der Grüne/EFA-Fraktion.


Oettinger, Fracking und Fossile Energieträger: Alles auf Anfang!

Im Fazit bedeutet das, was EU Kommissar Günther Oettinger bahnbrechend für die Industrieversorgung fordert: Alles auf Anfang! Und bislang ist noch keine ausdrückliche und vor allem direkte Entlastung der privaten Haushalte und Verbraucher in Sicht: Bis das Pendel der sozial – und arbeitsmarktpolitischen Verbesserung qua Entlastung der Großindustrie binnen mehrerer Jahre auch auf die Haushalte zurück schlägt, haben diese im Alltag die Last der Strom – und Energiepreise auszuhalten.

Und trotz der allgemeinen, genannten Preissteigerungen ist die eingeschlagene Energiewende wohl noch lange nicht vollzogen: Die Mitgliedsstaaten hatten sich einmal vorgenommen, bis zum Jahr 2020 den Anteil erneuerbarer Energien auf 20 Prozent zu erhöhen. Schon Ende 2012 ruderten die Kommissionsexperten der EU zurück und räumten vor dem Gipfeltreffen in der belgischen Hauptstadt ein, dass die EU weit davon entfernt sei, dieses Ziel bis 2020 zu erreichen.“ Laut Studien von Greenpeace und WWF würde das Verfehlen der EU – Klimaziele Milliardenausfälle verursachen – alleine in Deutschland über 17 Milliarden Euro.

Gegen den Strom – Brüsseler Spitzen

Das sind Brüsseler Spitzen, an denen scheinbar zu kurz geklöppelt wurde. Wir werden beobachten, was vom EU – Gipfel übrig bleibt, doch Eines ist jetzt schon offensichtlich, nämlich das Schisma der Verantwortlichkeit: Wenn die Großindustrie laut und vehement jammert, sicher mit berechtigten Gründen, dann kann auch ein insgesamt schwerfällig organisierter EU – Apparat schnell und leichtfüßig laufen. Aber wenn Klimaschutz, sauberer Strom und alternative Energie gefordert wird, sollen dies die Verbraucher bitte selber zahlen.

Während sich die Industrie gerade von ihren Auflagen entfesselt, nehmen die Bürger, aber auch kleine und mittelständische Unternehmen weitere Bürden auf – ohne Aussicht auf Verbesserung. Hier sind die Verbraucherschützer gefragt, ihre Lobby zu stärken und ihre Klientel mit politisch passende Modellen in den EU – Entlastungsmodus einzubinden.


Dieser Beitrag wurde am 22. Mai 2013 auch auf dem Energieportal www.enQuery.de veröffentlicht




Hintergrund: Brain Drain

Als Braindrain (Schreibweise im Deutschen auch Brain-Drain, englisch = brain drain, wörtlich „Gehirn-Abfluss“ im Sinne von Talentschwund, somit der Abwanderung der Intelligenz einer Volkswirtschaft) bezeichnet man im Gegensatz zu Braingain die volkswirtschaftlichen Verluste durch die Emigration besonders ausgebildeter oder talentierter Menschen aus einem Land. Dies betrifft vor allem Akademiker, Künstler, Unternehmer und Facharbeiter.


Viele (nicht alle) wirtschaftliche und technologische Blütezeiten gehen auf Einwanderungswellen zurück, viele Niedergänge auf Auswanderung insbesondere der talentierteren Köpfe verfolgter Minderheiten. Daher gibt es weltweit einen gewissen Wettbewerb um die klügsten Köpfe, mit erheblichen Nachteilen für die Länder, die nicht die Mittel haben, ihre Talente zu halten, und erheblichen Vorteilen für die anderen Länder und für die betroffenen Personen.

Vielen Dank an Cerstin Gammelin, SZ - Autorin, für wunderbare Recherche und an Sönke Jessen und Amir Ayazi von enQu.de für wissenschaftliche Unterstützung
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Daniel Khafif

Vgl. Sprach- und Literaturwissenschaftler, Semiotiker, Kunsthistoriker. Redaktionsleiter enQuery.de - Magazin für Energiepolitik.

Daniel Khafif

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