Die Hoffnung des amerikanischen Magazinjournalismus sitzt breitbeinig an einem Tischchen in der Schaubühne Berlin. Die Füße angewinkelt, die Hemdärmel hochgekrempelt, die Finger umfassen ein Whiskeyglas. Mit dem breiten Kreuz und dem Kurzhaarschnitt könnte er auch als Lkw-Fahrer durchgehen. Am Ende der Lesung wird der 37-Jährige aus Kentucky noch nach seiner glänzend roten Gitarre greifen und ein Lied von Neil Young singen.
John Jeremiah Sullivan hat mit Pulphead ein Buch über die USA geschrieben. In 15 Essays, die in Magazinen wie GQ, Harper’s Magazine und dem New York Times Magazine erschienen waren, zieht er eine Bestandsaufnahme des Landes nach dem 11. September 2001, die so düster nicht klingt, wie es der deutsche Untertitel („Vo
ngt, wie es der deutsche Untertitel („Vom Ende Amerikas“) vermuten lässt. Es sind Geschichten über ein Christenrock-Festival, eine Wrestler-Legende, die Tea Party und Axl Rose.Leicht ließe sich über diese „andere Seite Amerikas“ (so der amerikanische Untertitel des Buchs) von oben herab oder mit Verachtung schreiben. Leser fände das allemal.New Journalism als stilistische VorlageSullivan macht das aber gerade nicht. Er zieht keine seiner Protagonisten ins Lächerliche, mögen sie noch so verschroben, begrenzt oder blindgläubig sein. Er nimmt sie ernst. Und zwar indem er sich ihnen mit einer freundlichen Neugierde annähert. Schon 1960 erklärte die amerikanische Essayistin Flannery O’Connor, warum Autoren aus den Südstaaten dazu neigen, über Sonderlinge zu schreiben: „Das kommt daher, dass wir noch fähig sind, solche zu erkennen.“In den Kulturteilen wird Sullivan schon als Nachfolger von Tom Wolfe, Hunter S.Thompson und David Foster Wallace gefeiert, allesamt Vertreter des New Journalism – des amerikanischen Magazinjournalismus, der den Anspruch vertritt, die literarische Qualität der Novelle als auch deren Stilmittel für reale Geschichten, abgedruckt in Zeitschriften, zu übernehmen. In Deutschland existiert das Format kaum: Texte, die mit bis zu 90.000 Zeichen die Länge eines kurzen Buches erreichen.Sullivan, der in Kentucky geboren und in Indiana aufgewachsen war, schrieb sein erstes Buch über den Sportreporter Mike Sullivan, seinen Vater. Das ist typisch für ihn. Sullivan schreibt vor allem über Dinge, die ihn selbst betreffen. Und das meist in der Ich-Form – für manche deutsche Leser ist das gewöhnungsbedürftig.Die Sprache der FigurenEr wolle sich selbst zum Komplizen mit seinen Protagonisten machen, erklärt er am Abend in Berlin, auch indem er seine Sprache von Text zu Text anpasse. So handhabt er es, wenn er über Axl Rose schreibt, über eine Wrestlerlegende, einen Naturforscher, eine Gruppe Jugendlicher, mit denen er beim Christenrock-Festival am Lagerfeuer hockt oder über seinen Bruder. „Eigentlich mag ich Menschen“, sagt er, und das Publikum lacht.So viele Falltüren die „Ich-Form“ für einen Autor auch bietet, Sullivan umkurvt sie geschickt. Er wirkt glaubwürdig, weil er seine eigene Vergangenheit und seine Schwächen (Zweifel am Glauben, Zweifel an den Zweifeln, diverse halluzinogene Erfahrungen) in den Begegnungen mit den Menchen, über die er schreibt, offenlegt.Am liebsten schreibt er über Leute, die aus einer ähnlichen Umgebung kommen wie er – sowohl Michael Jackson als auch Axl Rose stammen aus Indiana, wo Sullivan aufgewachsen ist. Wenn es dann noch Prominente sind, über die sich die Öffentlichkeit ihr Bild gemacht hat, stachelt das Sullivans Ehrgeiz erst recht an, und er beginnt seine Detektivarbeit. Manchmal über Monate forscht er dann im Archivmaterial nach einem verborgenen Dokument, das noch nicht Einzug in eine Geschichte gefunden hat; sucht nach irgendetwas, das seinen Protagonisten die Maske vom Gesicht reißen und sie menschlich machen kann. Um ihren Beitrag zur amerikanischen Kultur angemessen zu würdigen. So versteht er seinen Auftrag.Den gängigen Bildern etwas entgegensetzenEtwa im Porträt über Michael Jackson, dessen Bild in der Öffentlichkeit als vermeintlichen Kinderschänder, als Monster oder zumindest als merkwürdige, bemitleidenswerte Kunstgestalt Sullivan etwas entgegensetzen will: Jackson als Mensch und Ausnahmekünstler. Und so konzentriert er sich auf weitgehend unbekannte Interviews, die Jackson einem schwarzen Lifestyle-Magazin gegeben hatte, und auf einen Toningenieur von Jacksons Produzenten.Pulphead (Papierkopf) ist gleich aus mehreren Gründen lesenswert: Die Stimme, die anfangs etwas behäbig erscheint, aber auch angenehm klingt, weil sie ohne Zynismus auskommt. Die klugen Beobachtungen, etwa jene in der Geschichte über Reality TV, dass dessen Teilnehmer heute nicht mehr in eine künstliche Situation gebracht werden und ab und an die Kamera vergessen und zu spielen aufhören. „Niemand schauspielert mehr. Beziehungsweise: Klar schauspielern sie, aber es gibt den Moment nicht mehr, in dem sie nicht schauspielern.“ Weil die Reality-Show inzwischen für sie zur eigentlichen Realität geworden sei.Auch die Bilder sind manchmal urkomisch. Einen Auftritt Axl Roses beschreibt er: „Nach jeder Zeile starrt er die Menge aus diesen merkwürdig verwunderten und trotzdem furchtlosen Augen an, die aussehen, als hätte man ihn gerade dabei überrascht, wie er sich in seinem Bau über ein Stück Aas hermacht.“Klang und Rhythmus müssen stimmenWert legt Sullivan vor allem auf den Rhythmus, der sich den Themen anpasst. „Wenn ein Text nicht richtig klingt, habe ich auch kein Interesse daran, ihn zu erzählen“, sagt er und berichtet dann, dass er sich seine Geschichten immer laut vorlese – manchmal erwische er sich sogar dabei, das in unterschiedlichen Akzenten zu tun, je nach Thema. „Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat“, sagt er.An dem Novemberabend in Berlin beginnt er seine Geschichten auf Englisch zu lesen und Lucy Wirth setzt sie auf Deutsch fort. Dann merkt man, wie schwer es war, den Rhythmus und die Betonungen der Wörter ins Deutsche hinüberzuretten.Für das Buch hat Sullivan, der inzwischen von New York zurück in den Süden gezogen ist, nach Wilmington in North Carolina, wo er nahe des Strands mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern wohnt, die Magazingeschichten noch einmal umgeschrieben. Warum er an einer Stelle „little children“ anstatt der Originalform „little fuckers“ geschrieben habe, fragt ihn die charmante und souveräne Moderatorin Johanna Adorján. Das sei wie nach einer Party, erklärt er mit einem Schmunzeln im Gesicht, wenn man sich seines Verhaltens im Nachhinein bewusst geworden sei.Über einen DeutschenDas Gespräch zwischen Adorján und Sullivan dominiert an dem Abend die eigentliche Lesung, was für die Zuhörer interessante Einblicke in die Arbeitsweise des Autors zu Tage fördert: Im Durchschnitt arbeite er vier bis fünf Monate an einer Geschichte, erzählt Sullivan. Zurückgezogen werden seine Texte heute nicht mehr – nicht aber etwa weil sie so gut seien, sagt er, sondern weil die Herausgeber ihm schon Geld gegeben hätten. Allein die extensive Überprüfung der Fakten kostet Geld und Zeit. Einmal, so erzählt Sullivan, sei einer der Faktenprüfer zu ihm gekommen und habe ihn gefragt: „Kannst du dich noch an den Typen erinnern, den du an der Tankstelle interviewt hast?“ Und nach einem Nicken Sullivans jener voller Stolz: „Wir haben ihn.“Sullivan arbeitet schon am nächsten Buch. Über einen Deutschen aus Zittau in Sachsen. Der US-Autor der Stunde meint das ernst. Sein Protagonist soll vor knapp 300 Jahren nach Amerika ausgewandert sein, um sich den Tscherokesen anzuschließen, eine Indianerin zu heiraten und einen utopischen Staat aufzubauen, aber schließlich im Gefängnis gestorben sein.Sullivan sei deshalb zwei Wochen durch Deutschland gefahren, habe in zwölf Städten mit Experten gesprochen und abends seine Lesungen gehalten. Wie ein „Roadmovie“ sei das gewesen, erzählt er. Lesen würde man auch das gerne wieder.
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