Read & Meet mit Jakob Augstein

Gespräch Jakob Augstein im Gespräch über sein Buch "Sabotage"

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Goedzak: Herr Augstein, für Sie ist die Mitte nur ein schwarzes Loch, in dem verschwindet, wer zu ihr strebt. Das droht der SPD, sagen Sie, und empfehlen ihr, wieder linker zu werden.

Augstein: Genau.

Goedzak: Gelingen könnte dies in einer Allianz aus SPD und Grünen als linksbürgerlichem Korrektiv – und mit der Linkspartei als linkem Stachel im eigenen Fleisch. Wenn man Ihr Buch liest, gewinnt man allerdings den Eindruck, dass Sie der Linkspartei genau das empfehlen, wovor Sie die SPD warnen, nämlich „mittiger“ zu werden.

Augstein: Nein, die Linken sollen schon links sein. Aber sie müssen in dieser Gesellschaft politik- und koalitionsfähig bleiben. Wenn man morgens aufsteht und sagt: „Wie beerdigen wir heute das parlamentarische System?“, dann kommt man in diesem System auf Dauer nicht sehr weit. Die meisten Leute, die hier leben, finden das parlamentarische System mit allen Vor- und Nachteilen, die es hat – und um die Nachteile geht es in meinem Buch – im Prinzip richtig. Wenn Sie aber die Haltung haben, dass das parlamentarische System an sich defizitär ist und überwunden werden muss und die Wahrheit dahinter liegt, dann wird es schwierig, mit den meisten Politikern, Parteien, Institutionen und Medien in dieser Gesellschaft zu kommunizieren. In meiner idealen kleinen Traumwelt ist die SPD die große zentristische Partei der Linken und hat sozusagen als bürgerliches Korrektiv die Grünen an ihrer Seite und als linkes, sozialistisches Korrektiv die Linkspartei. Die SPD sieht das offensichtlich nicht so. In der Linkspartei sehen das in Ostdeutschland viele so. Die ostdeutschen Linken unterscheiden sich ja von den westdeutschen Linken erheblich.

Goedzak: Als Beispiel für die Fragwürdigkeit der Konzepte der Linkspartei sagen Sie, sie wäre gegen den bürgerlichen Parlamentarismus. Damit weisen Sie natürlich auf eine weltanschauliche Konstante dieses linken Denkens hin, aber ist es nicht in der Alltagspraxis der Politik auch dieser Partei so, dass eine ähnliche Kritik an diesem System, wie Sie sie auch in Ihrem Buch äußern, geübt wird?

Augstein: Klar, aber es gibt natürlich in der Linkspartei Leute, die im Prinzip etwas anderes wollen. Und die kommunistische Plattform heißt ja nicht umsonst so. Man sollte diese Strömung in der Partei nicht überbewerten. Steinbrück hat Wahlkampf gesagt, die Linkspartei bestehe aus drei Parteien, Westlinken, Ostlinken und kommunistische Plattform. Ich halte das für eine Überbewertung. Die Linkspartei ist im Wesentlichen eine ostdeutsche Regionalpartei, eine links-sozialdemokratische Kraft. Das ist ihre Rolle, ihre Identität und ihre Funktion. Ohne Lafontaine ist die Linkspartei ein bisschen farbloser, weil es außer Gysi keine großen politischen Führungsfiguren gibt. Aber sie ist politisch relevanter, weil sie stabiler ist. Sie ist eine stabile politische Kraft in Ostdeutschland und hat sich jetzt in Hessen etabliert. Man kann sagen, je langweiliger die Linkspartei wird, desto weniger Grund gibt es für die SPD, nicht mit ihr zu koalieren. Aber das ist alles immer aus der Sichtweise eines bürgerlichen Linken gesagt, als der ich mich empfinde. Wenn Sie die Haltung vertreten, man müsse hier noch mal ganz von vorn anfangen mit dem Gesellschaftssystem, dann sind meine Überzeugungen natürlich schrecklich revisionistisch.

Goedzak: Ich habe den Eindruck, dass Sie zu viel Fundamentalismus in der Partei sehen und weniger die alltagspolitischen Konzepte, die von vielen Leuten artikuliert werden. Von Kipping beispielsweise. Und selbst Lafontaine, der bei Ihnen ganz schlecht wegkommt und der für meine Begriffe von Ihnen sehr klischeehaft beurteilt wird, ist einer, der immer seine sozialdemokratischen Konzepte durchgezogen hat und genau deshalb letztendlich dort gelandet ist, wo er dann gelandet ist. Wäre er nicht eigentlich ein Vorbild für die Einstellung, raus aus dem schwarzen Loch Mitte zu kommen?

Augstein: Inhaltlich ja, aber bei Lafontaine waren seine persönlichen Rache- und Abrechnungsgelüste gegenüber der SPD unübersehbar und das stand ihm schon sehr im Weg, denn Lafontaine und auch die SPD-Leute haben das alte Spiel aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts gespielt, als sich linke Sozialdemokraten und rechte Sozialdemokraten bis aufs Messer bekämpften. Das ist alles sehr hinderlich, und rückwärtsgewandt und kostet Zeit und Energie.

Goedzak: Lafontaine hätte also an seinem Platz in der SPD bleiben sollen?

Augstein: Nein, er hat der Linken in Deutschland einen großen Dienst erwiesen als er die Westausdehnung der Linkspartei ermöglichte. Aber er hätte seinen persönlichen Wunsch nach Abrechnung zurückstellen sollen. Es gibt ja auch in der SPD viele Leute, die mit dem Wandel der Sozialdemokratie große Identitätsprobleme haben, denen kam Lafontaines Unversöhnlichkeit sehr gelegen. Beide Seiten konnten ihre Hacken eingraben und auf den anderen weisen. Das ist gut für die eigene Identität – aber schlecht fürs politische Ergebnis. Darum ist es gut, dass Lafontaine weg ist.

Goedzak: Aber das ist ja dann kein Vorwurf an Lafontaine, sondern an seine alte SPD, die ewig übelnimmt.

Augstein: Wie auch immer. Es geht nicht darum, wer Recht hat. Wir haben wichtigere Fragen als Lafontaines Eitelkeit oder die der Genossen in der SPD. Ich bin nicht Lafontaine und auch kein SPD-Funktionär, also kann ich sagen: Ein Glück, dass das Kapitel abgeschlossen ist. Er hat die Linkspartei gegründet, vielen Dank und jetzt weiter nach vorne.

Goedzak: Mir geht es auch nicht um Lafontaine. Ich will noch mal auf eine Ihrer Formulierungen von vorhin, die auch im Buch steht, eingehen. Die Grünen als bürgerliches Korrektiv der SPD und die Linke als linkes. Ihre Äußerung zu den Grünen, die Sie als dezidiert bürgerlich bezeichnen, und wie Sie sie als bürgerliche Partei charakterisieren, im Unterschied zur FDP etwa, das fand ich sehr beachtlich. Das wird so in dieser Eindeutigkeit und Schärfe kaum mal gesagt. Die Grünen selber leugnen das im Grunde genommen immer noch. Sie haben einige Zitate gebracht, wo das anklingt, wo gesagt wird, warum nicht, sind wir eben bürgerlich auf eine andere Art und Weise. Das schon, aber die große grüne Basis zum Beispiel will das ja überhaupt nicht hören. Deshalb finde ich es gut, wenn das mal so auf den Punkt gebracht wird. Das ist natürlich für diese politische Geometrie auch sehr interessant.

Augstein: Für mich ist „bürgerlich“ kein schlimmes Wort. Wir leben in einer bürgerlichen Gesellschaft. Die Mehrheit der Leute ist bürgerlich. Wenn die Grünen eine linksbürgerliche Partei sind, dann spricht das überhaupt nicht gegen sie, das ist ja auch eine Frage der ökonomischen Grundlagen. Die meisten Grünen sind vergleichsweise gut situiert und vertreten Werte, die mit diesem Leben korrespondieren. Der große Unterschied zur FDP besteht darin, dass sie die bürgerliche Existenz mit einem moralischen Anspruch verbinden. Sie exkulpieren sich nicht wie die Neoliberalen mit dem Verweis auf den Markt, dessen Entscheidungen angeblich per se gut sind. Das ist die große Wasserscheide zwischen diesen beiden Gruppierungen, die sonst sozioökonomisch deckungsgleich sind. Wenn sie Professor an einer Uni sind oder sie sind mittelständischer Unternehmer, dann können sie mit dem gleichen Set an sonstigen Werten und Verhaltensweisen Grüner sein oder FDP-Liberaler. Das sehen Sie den Leuten nicht an, aber die innere Verfasstheit, die Werteskala ist eine andere. Woher sie die dann haben, aus der Kindheit oder weil sie ein Buch gelesen haben – wer weiß.

Goedzak: Für mich ist es auch keine Beleidigung für eine Partei, sich als bürgerlich zu bezeichnen. Ich bin aber nicht ganz einverstanden mit der genauen Definition der besonderen Art von Bürgerlichkeit, wie Sie sie auch jetzt wieder geäußert haben und wie sie im Buch steht. Ich glaube, dass die Grünen eigentlich prädestiniert sind, Interessenvertreter für Teile – wie die Linke sagen würde - des Kapitals zu sein, die zum Beispiel neue technologische Entwicklungen vertreten, die man als „Grünes Kapital“ bezeichnen könnte. Darin liegt für mich der Hauptunterschied. Gar nicht mal so sehr im moralischen Wertesystem.

Augstein: Auch ein interessanter Gesichtspunkt.

Goedzak: Es wäre wirklich gesellschaftlich wünschenswert, wenn diese Interessenvertretung ernst genommen würde und diese Bereiche der Wirtschaft, der Industrie und der Technologieträger mehr befördert würden. Das trifft sich ja durchaus mit Themen wie dem Ressourcenschutz vereinbar.

Augstein: Da bin ich aber sehr skeptisch. Ich habe mich mal ein bisschen mit den Fragen zu „Grünes Wachstum“, „Nachhaltige Ökonomie“ usw. beschäftigt….

Goedzak: Es gibt aber auch das Thema Lebensqualität. Wie wird konsumiert und dergleichen. Der grün-bürgerliche Konsum ist natürlich auch ein Konsum. Mit einem großen Auto zum Bioladen fahren… Das ist durchaus fragwürdig, aber trotzdem deutet sich da eine Tendenz an, die zu entwickeln wünschenswert wäre.

Augstein: Ich finde interessant, dass Sie jetzt die Lebensgrundlagen betonen. Das finde ich spannend, da gehe ich mit. Für mich ist aber das Wertekorsett sehr wichtig. Die ideellen Grundlagen, nach denen sich Leute verorten. Ich wüsste gerne, wie groß der Anteil der Partisanen der Grünen ist, die Vertreter eines „Grünen Kapitals“ sind. Oder ob es nicht doch sehr viele im Staatsdienst sind, die im Grunde nicht Kapitalvertreter, sondern höhere Angestellte oder Beamte sind.

Goedzak: Das wäre ja auch eine Möglichkeit, sich diesen Leuten anzudienen. Es war schon im Wahlkampf zu bemerken, dass bestimmte Leute aus der Stammwählerschaft der Grünen mit Forderungen nach Steuererhöhung usw. überhaupt nicht klar gekommen sind. Da habe ich Episoden erlebt, wo Leute tief enttäuscht waren, die sich als langjährige Grünenwähler bezeichnet haben und der Meinung waren, sie würden von der eigenen Partei abgezockt.

Augstein: Glauben Sie denn, dass die Grünen wegen der Steuererhöhungsandrohung so vergleichsweise schlecht abgeschnitten haben?

Goedzak: Das hat eine Rolle gespielt. Das ist ein Zeichen für eine Tendenz gewesen, die es auch bei der SPD gab, nämlich ein bisschen linker und sozialer zu tun. Das wurde in der Stammwählerschaft, also der bürgerlichen, die Sie beschrieben haben, die auch etwas zu verlieren hat, nicht mehr ganz so freudig mitgetragen. Die Grünen haben früher immer gerne gesagt und sagen es gelegentlich auch heute noch: Wir sind nicht rechts, nicht links, sondern vorn. Sonst stimme ich der These zu, dass es nur rechts oder links gibt, dazwischen ist nur ein schwarzes Loch, in dem man versacken kann, wenn man sich nicht entscheiden mag. Aber bei den Grünen würde ich sagen, dass sie in gewisser Weise Recht haben. In einer altmodischen Art rechts und links zu sein – CDU oder Teile der FDP, Nationalliberale - so rechts sind sie nicht, andererseits sind sie aber auch nicht links.

Augstein: Naja, ich finde schon, dass die Grünen im Kern und im Herzen eine linke Partei sind, weil sie eine utopistische Partei sind, eine reformerische Partei, eine emanzipatorische Partei. Das sind ja alles Grundwerte der Grünen. Und das sind alles linke Werte. Ich glaube, das ist in den Genen der Grünen eingeschrieben. Wenn man das entfernt, stirbt die Partei. Sie stoßen immer wieder darauf, in der Migrationspolitik, Staatsbürgerpolitik, Datenschutzpolitik

Goedzak: … Genderpolitik…

Augstein: Es kann sein, dass das bürgerlich-linke Denken und das bürgerlich-konservative sich mit der Zeit verändern. Das sehen wir ja. Unsere Gesellschaft ist heute viel liberaler als sie vor zwanzig Jahren war. Das sollten wir auch nicht vergessen. Wir Journalisten, gerade einer linken Zeitung, wir müssen auch immer ein bisschen so tun, als wäre alles ganz schrecklich. Das stimmt aber nicht so ganz. In Wahrheit ist unsere Gesellschaft heute deutlich angenehmer als sie vor fünfundzwanzig Jahren war. Damals bot die Alfred-Dregger-CDU einem reaktionären Denken noch eine politische Heimat. Da stimmte das Feindbild. Auch bei Franz Josef Strauß stimmte es noch. Heute ist die viel beweglicher. Sie vertritt immer noch die Interessen der Besitzenden – siehe die Bankenpolitik – aber sie ist ein Moving Target. Sie müssen schon sehr gut zielen und schnell schießen, um sie überhaupt noch zu treffen, denn plötzlich ist sie für die Abschaffung der Wehrpflicht und den Mindestlohn und die Staatsbürgerrechtsreform.

Goedzak: Die Anspielung auf das, was man „Klassenkampf von oben“ nennt, wird im Buch ja ausführlich unter dem Stichwort „Zynismus“ dargestellt.

Augstein: Es ist nur diffiziler als früher. Die Fronten verlaufen verdeckter und die Schlachtplätze liegen mehr im Nebel. Auch bei der NSA-Affäre zeigt sich, dass das den Leuten schwieriger zu vermitteln ist.

Kay.kloetzer: Das ist doch nicht angenehmer!

Augstein: Nein, es wäre aber trotzdem einfach falsch, die Fortschritte und Veränderungen zu leugnen. Es gibt genug Sachen, über die man sich ärgern und reden muss und es gibt auch Sachen, die gab es vor fünfundzwanzig Jahren noch nicht, die sind aber heute ein Problem. Es gibt eine Reihe von Phänomenen und alltagskulturellen Sachen, die heute deutlich weniger auffallen als früher. Wir haben eine Zivilisierung der Gesellschaft.

Goedzak: Schon richtig, aber Sie sprechen von vielen Tabubrüchen, bringen Zitate, die darauf hinweisen. Es wäre nicht falsch zu vermuten, dass das Indizien für einen Knick in der Entwicklung sind, für eine Art Rollback in bestimmter Hinsicht.

Augstein: Das gibt es sicherlich.

Goedzak: Ich möchte noch auf ein anderes Thema zu sprechen kommen. Sie haben mit den Grünen auch das Wort „Konservatismus“ in Verbindung gebracht, was ja auch eher selten passiert in politischen Diskussionen. Und Sie haben an anderen Stellen im Buch auf den Konservatismus der Arbeiter angespielt. Linken-Konservatismus. Es ist offensichtlich so, dass man das Konservative ein bisschen differenzierter definieren muss. Der Konservatismus der einen sich konservativ nennenden Partei ist vielleicht etwas anderes als solcher Konservatismus. Und das, was ich jetzt mal proletarischen Konservatismus nenne, die proletarische Spielart, über die Sie geschrieben haben, dass die auch nicht wollen, dass sich etwas ändert, das könnte man vielleicht als einen Impuls zur Bewahrung „souveräner Körperlichkeit“ nennen. Der Körper ist ein ganz wichtiges Thema, man hat den Eindruck, wenn man die Einleitung und das letzte Kapitel liest, dass es Ihr eigentliches Anliegen war, auf das Thema zuzusteuern. Und es kommt das Stichwort Arbeit ins Spiel. An einer Stelle, in der es um Gewerkschaften und SPD-Politik geht. Und Sie stellen es dar als eine altmodische Gewerkschaftsutopie, weil sich die Politik der Gewerkschaften bis zu dem Einbruch 2003 hauptsächlich darauf gerichtet war, Arbeit und Beschäftigung der Leute zu sichern. Und dann kommt das Habermas-Zitat zum Thema, der von der „Emanzipation der Arbeit von Fremdbestimmung“ als Anliegen der Linke oder eher proletarischen Linken. Ich würde Habermas nicht Recht geben. Das ist für meine Begriffe eine seltsame Fehlformulierung. Er hätte schreiben müssen: „Emanzipation der Körperlichkeit von der Fremdbestimmung in der Arbeit“. Das ist nämlich etwas anderes. Ihr offensichtliches Hauptthema - „Rückkehr des Körpers in die Politik“ z. B. ist eine Ihrer Formulierungen - die durch die Klammer von Einleitung und Schlusskapitel der tragende Gedanke des Buches war, wird für meine Begriffe zu wenig ausgeführt. Es ist erstmal nur ein Zusammenbringen der Begriffe „Körper“ und „Gewalt“ in der Politik. Darüber schreiben Sie. Es wäre wichtig gewesen, das Thema Körperlichkeit auch mit dem Begriff „Arbeit“ in Verbindung zu bringen.

Augstein: Da haben Sie Recht.

Goedzak: Überhaupt müsste mehr dazu gesagt werden, was Körperlichkeit eigentlich ist. Das wird an verschiedenen Stellen angedeutet. Die Piraten wollen den Körper ganz rausnehmen und dazu kommen entsprechende Beispiele. Aber vielleicht ist ja in all den sozialen Auseinandersetzungen auch ein Kampf um Körperlichkeit, um Selbstbestimmung und Freiheit von Körperlichkeit, zu führen, die aus verschiedensten Gründen immer wieder neu in Frage gestellt werden.

Augstein: Das ist ein extrem spannendes Thema. Ich glaube, dass ich erst während des Schreibens gemerkt habe, wie spannend dieses Thema wäre. Dafür gab es für mich dann keine Zeit und keine Gelegenheit mehr und es kann auch sein, dass ich das gar nicht gekonnt hätte. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich dem als Autor gewachsen gewesen wäre. Ich habe mich dieser Frage, die Sie da gerade aufgeworfen haben, schreibend angenähert. Ich habe diese Frage mit der Arbeit deshalb ganz bewusst ausgelassen, weil sie in ein anderes Buch geführt hätte. Das wäre dann nicht mehr eine Bestandsaufnahme unserer aktuellen politischen und sozioökonomischen Entwicklung und Bedingungen gewesen. Das wäre wirklich eine sozialwissenschaftliche Studie geworden. Das wäre vom Journalistischen gekippt und gedreht ins Wissenschaftliche, deshalb bin ich mir auch nicht sicher, ob ich das könnte. Was ich gemacht habe, ist im Prinzip politisches Feuilleton. Und wenn man den Schritt weitergeht, den Sie jetzt sagen, den ich auch sehe und ich glaube, dass Sie Recht haben, dann würde man vom Feuilleton in die Wissenschaft gehen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich das kann und ob ich das gewollt hätte. Vor allem deshalb, weil es ein anderes Buch gewesen wäre, und mir kam es zielgerichtet auf etwas an. Mir ging es nicht so sehr um die Frage Körper, Gewalt, Arbeit. Mir ging es um die Frage, wie funktioniert unser parlamentarisches System. Das ist nicht rein feuilletonistisch-journalistisch, das ist eher politikwissenschaftlich als sozialwissenschaftlich oder soziologisch. Mir ging es ja um das parlamentarische System und seine Schwächen in diesem entkörperlichten Kapitalismus. Und ich glaube, dass das parlamentarische System da unterstützungsbedürftig ist. Es braucht Impulse von außen, die es sich selber gar nicht liefern kann. Und da kommt dann die Frage des Körpers für mich rein. Ich finde das echt eine zentrale Frage, weil es ein Kategorienbruch ist. Wenn man den Körper in die Politik bringt, bricht man die Kategorie, weil Politik eigentlich die Vervollkommnung des Diskurses ist, die gelungene Kommunikation, der gelungene Interessenausgleich – das ist quasi Politik und der Körper ist eine andere Kategorie, eine andere Dimension. Das war das, was mich interessiert hat. Ich glaube trotzdem, dass Sie Recht haben. Da ist eine Weggabelung. Ein anderer Weg, den man mal gehen müsste.

Kay.kloetzer: Mir kam die gleiche Frage wegen der Arbeiterbewegung. Die Arbeiterbewegung gibt es im Grunde nicht mehr, und das hängt schon damit zusammen, dass die Arbeit, wie wir sie bis vor fünfzig Jahren kannten, so nicht mehr existiert, dass die Form, sich zu organisieren, dadurch eine andere ist. Sofern es sie überhaupt gibt. Deshalb finde ich auch, dass die Frage nach dem Körper in der Politik eine große Rolle spielt.

Goedzak: Ich finde aber, dass es durchaus eine direkt politische Dimension hat. Die Arbeit ist ja nicht, wie du sagst, verschwunden, sie ist nur woanders hin. Es gibt auf dieser Welt nach wie vor das große Thema körperlicher Arbeit und des Körpers unter bestimmten Arbeitsbedingungen. Das globale Kapital, wenn ich das mal so sagen darf, geht nach wie vor mit dieser körperlichen Arbeit um, bloß nicht mehr hier, und deshalb redet hier auch keiner mehr darüber. Das ist unbedingt eine Frage der Diskurse und der Politik, die ja nicht nur im gesellschaftlichen Diskurs organisiert und entwickelt wird, sondern eben auch die Rahmenbedingungen für Wirtschaft, Interessen und letztendlich auch für Arbeit und Produktion organisiert. Das liegt schon auch politisch beieinander. Deshalb ist das Einbeziehen in ein Buch zu so einem Thema nicht so fernliegend. Als ich das letzte Kapitel, im Freitag abgedruckt, las, habe ich mich schon darüber gefreut, dass überhaupt mal jemand das Thema Körper in den Diskurs einbringt. Das war auch der Urimpuls mit Ihnen dieses Gespräch hier zu führen. Das ist wie gesagt für mich eine eminent politische Sache, auch darüber zu reden. Über Arbeit und andere Aspekte, die den Körper betreffen. Nicht nur die Gewalt und die Frage nach der Rückkehr des Körpers in die Politik als Träger von Sabotageakten oder gewalttätiger Auseinandersetzung.

Kay.kloetzer: Kann es sein, dass das Scheitern der Piratenpartei bei der letzten Wahl auch damit zu tun hat, dass sie nicht fassbar ist, weil sie eben nicht körperlich ist?

Augstein: Das glaube ich nicht. Ich glaube, das Hauptproblem der Piratenpartei ist schon personelle und institutionelle Schwäche. Sie müssen als Partei handlungsfähig sein und sprechfähig sein. Für beides brauchen sie Institutionen und Figuren und das haben die nicht gehabt. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass die Programme und die Ideen da sind. Eine Partei kann sich ja nur dann bilden und gründen – das sehen Sie ja auch bei der AfD –, wenn es irgendein Anliegen gibt. Die Piratenpartei hatte ja ein Thema, aber war dann nicht in der Lage, damit etwas zu machen. So etwas kann natürlich passieren. Wir beobachten ja nicht nur gelingende Experimente, sondern auch scheiternde. Schade. Aber ob die jetzt für immer gescheitert sind, weiß man ja auch noch gar nicht. Der Markenname ist etabliert, um jetzt mal in der Wirtschaftssprache zu bleiben. Den gibt es, jeder kennt das Signet, jeder weiß ungefähr, wofür die stehen. Das ist ja alles da. Jetzt haben sie eine Hülle und müssten sie füllen. Immerhin das ist gelungen. Das ist nicht wenig. Der BüSo und anderen schrägen Parteien, die seit meiner Kindheit immer bei den Bundestagswahlen dabei sind, ist es nicht gelungen. Das hat bei den Piraten geklappt. Die Presse hat auch mitgemacht. Einerseits hat sie zwar immer sehr geschimpft und sich lustig gemacht, andererseits hat sie teilgenommen an der Bekanntmachung dieser Partei. Man bräuchte fünf Marina Weisbands. Sie brauchen für eine Partei ja gar nicht so viel. Das ist ja ganz lustig. Wenn sie drei, vier Leute hätten, die echt gut sind und das durchziehen und die einigermaßen diszipliniert sind, würde das schon reichen. Es geht ja nicht darum, den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf zu organisieren. Aber das ist eben auch interessant: Selbst diese vier, fünf Leute gibt es nicht.

Calvani: Sie brauchen doch mehr als vier, fünf Leute. Die brächten vielleicht erneut erste Erfolge.

Augstein: Na solche Figuren, die nach außen strahlen. Wenn Sie mal überlegen, wer die FDP nach außen trägt?

Calvani: Diese vier, fünf Leute, die nach außen die Partei tragen, können inhaltlich doch kaum noch arbeiten, weil sie dafür dann sicher nicht auch noch Kapazitäten haben.

Augstein: Ich glaube, die Piraten hätten nicht mal diese vier, fünf Leute.

Calvani: Und wenn sie sie hätten, hätten sie damit erst mal nur Erfolg nach außen.

Kay.kloetzer: Ich habe denen wirklich gern beim Streiten zugeguckt, aber mehr auch nicht.

Calvani: Das ist ein guter Punkt: Beim Streiten zuschauen.

Mir ist an Ihrem Buch aufgefallen, dass es ein sehr medial fixiertes Buch ist.

Augstein: Was heißt das?

Calvani: Ein sehr unpersönliches Buch. Insbesondere, wenn ich dieses Buch in die Reihe der Bücher stelle, die wir im Rahmen von Read&Meet schon besprochen haben. Nehmen wir Ingo Schulzes Buch. Das ist ein Buch, bei dem ich nicht nur mitdenken, sondern auch mitfühlen konnte. Hier habe ich kaum etwas gefühlt, obwohl Sie den Finger in viele Wunden legen. Richtiger Finger, richtige Wunde, aber es tut nicht weh, wenn man es liest. Selbst solche Momente, in denen man das Gefühl hat, jetzt dreht sich die Welt gerade ohne einen selbst weiter, Momente, in denen jemandem etwas aufgeht, in denen etwas klar wird, selbst diese Momente zitieren Sie noch aus anderen Medien. Ganz prägnant fand ich das Beispiel des Stadtjungen, der mit seiner Familie die Ferien immer auf dem Land verbringt und sich dort mit einem anderen Jungen anfreundet. Und die Freunde des Jungen auf dem Land, deutlich ärmer als die in der Stadt, sterben an Tuberkulose, während der Stadtjunge niemanden kennt, der an Tuberkulose sterben musste, und er wundert sich schon als Kind darüber. Kennen Sie solche Momente nicht?

Augstein: Nein, die kenne ich nicht. Die kennen Sie aber auch nicht.

Calvani: Natürlich nicht. Das ist nur ein Beispiel.

Augstein: Das ist eine Geschichte aus der Kindheit von Norberto Bobbio, die sich in den zwanziger Jahren abgespielt hat. Für ihn ging es darum zu erklären, warum er links ist, und was er darunter versteht. Das ist einfach ein schönes literarisch beschriebenes Bild, das sehr eindringlich ist.

Calvani: Eben. Genau das meine ich.

Augstein: Bobbio ist eine sehr eindringliche Figur. Aber ich verstehe jetzt, was Sie meinen. Ich habe solche Sachen natürlich erlebt, aber…

Calvani: Dass Sie solche Szenen bringen, zeigt mir, dass Sie wissen, dass es solche Szenen braucht.

Augstein: Ja, es gibt solche Szenen im Buch und ich habe sie auch erlebt, aber… das ist eine interessante Frage. Ich glaube, dass ich mich scheuen würde, über meine eigene Betroffenheit zu schreiben. Das fände ich nicht gut, weil meine Betroffenheit mein Arbeitsantrieb ist. Das würde ich ungern enthüllen, weil ich irgendwie…

Calvani: … Angst hätten, sich anzubiedern?

Augstein: Ja, ich fürchte, dass man das als Anbiederung auffassen würde. Ich habe Angst, man würde mir das nicht glauben. Das Risiko will ich nicht eingehen.

Calvani: Im Gegenteil. Mir fällt es schwer zu glauben, wenn diese Momente fehlen.

Augstein: Interessant. Die Gerichtsreportagen, die ich in Berlin Mitte der Neunziger geschrieben habe - ich habe ja wirklich wochenlang im Landgericht Moabit gesessen -, die haben mich echt bedient, muss ich sagen. Da habe ich mehr gelernt, als ich verkraften konnte.

Calvani: Da Sie es ansprechen: Schon die erste Seite des Buches Sieben Schüsse in Glienicke zog mich mitten ins Geschehen. Sie tasten sich darin im Grunde durch einen Nebel und das überträgt sich bei der Lektüre genau.

Augstein: Aber das hier ist eine andere Art von Buch.

Calvani: Na klar, aber nicht nur der Gegenstand auch der Blick auf das Beschriebene ist ein anderer.

Augstein: Das ist doch klar, ich bin ja nun auch älter und meine Funktion ist eine andere und mein Interesse ist ein anderes. Ich habe als Gerichtsreporter gesehen, was passiert, wenn man nichts tut, wenn man die Leute sich selbst überlässt. Das Grauen und das Ende. Politik hat den Job, das zu verhindern. Aber das kann man nicht immer mit dem Betroffenheitsgestus machen. Das ist auch nicht mein Charakter.

Calvani: Jetzt vereinfachen Sie doch sehr. Man muss nicht auf Betroffenheitsgestus machen, wie Sie sagen, wenn man seinen persönlichen Blick miteinbezieht.

Augstein: Aber ich finde schon, dass man dem Buch die Wut und den Ärger anmerkt. Wenn man das auch nicht merkt, dann wäre ich ein bisschen enttäuscht.

Calvani: Mhmja, aber abstrakt.

Augstein: Das ist natürlich auch ein Schutz, aber wahrscheinlich haben Sie Recht.

Calvani: Eine andere Möglichkeit, den eigenen Blickwinkel zu personifizieren, wäre vielleicht, nicht nur mehr Körper in die Politik, sondern auch in den Journalismus zu bringen.

Augstein: Wie geht das denn?

Calvani: Sie schreiben beispielsweise darüber, wie darüber geschrieben wurde, wie Sarrazins Lesungen abgelaufen sind, während Sonneborn dort aufgekreuzt ist und eine Frage gestellt hat. Wenn einer etwas schreibt und ein anderer etwas dagegen schreibt, entsteht bei mir immer öfter der Eindruck, beide bespielen dieselbe Bühne, verkaufen das Schauspiel und es ändert sich im Grunde kaum etwas. Wenn aber Sonneborn dort antanzt und vor Ort seine Frage stellt, hat das Ganze für mich eine völlig andere Qualität. Warum geht das nicht häufiger?

Augstein: Die Frage verstehe ich nicht. Ich war nun mal nicht dabei.

Calvani: Gehen Sie denn irgendwann mal irgendwohin? Oder wollen Sie das überhaupt? Ich habe eher das Gefühl, dass Sie lieber medial agieren. Also andere schreiben über etwas, das Sie dann wiederum zitieren.

Augstein: Mehr rausgehen? Mehr vom Schreibtisch aufstehen und rausgehen? Mehr echtes Leben reinholen?

Calvani: Ja. Vor Ort Eindrücke gewinnen, Fragen stellen und Einwände vorbringen und sofort die Atmosphäre verändern und nicht von zu Hause einen Artikel schreiben, der dann am nächsten Tag in der Zeitung erscheint.

Augstein: Die Frage finde ich extrem spannend, weil sie ein Thema berührt, über das ich komischerweise auch erst nach dem Buch nachgedacht habe. Das zeigt, dass man solche Bücher in der Tat vor allen Dingen für sich selber schreibt, um irgendwas besser zu verstehen. Dabei geht es um die Grenze zwischen Journalismus und Aktivismus. Das ist ein zentrales Problemfeld und ein ganz wichtiges Thema. Es kann sein, dass künftig einzelne Figuren wichtiger werden, die unabhängig von Institutionen agieren können. Zum Beispiel jemand wie Stefan Niggemeier. Die Grenze zwischen Journalismus und Aktivismus könnte verschwimmen. Früher gehörte es zum journalistischen Ethos, diese Grenze aufrecht zu erhalten – auch gegen den eigenen Zweifel, weil Journalismus ohnehin immer auch politisch wirksam ist oder es sein möchte. Bei Glenn Greenwald wüsste ich nicht, ob er politischer Aktivist oder Journalist ist. Jemand wie Jeff Jarvis ist vielleicht Journalist und Aktivist und Wissenschaftler. Wallraff war übrigens auch ein solcher Journalisten-Aktivist, er hat den politisch-journalistischen Aktivismus geradezu erfunden, aber das ist lange her. Heute müsste er sich als sich selbst verkleiden.

Calvani: Aktivismus ist mir immer noch weniger ungeheuerlich als diese mittelbare politische Wirkung, die Journalismus auf jeden Fall hat. Dann doch lieber mit offenem Visier.

Augstein: Ob Journalismus wirklich so viel Wirkung hat? Ich glaube, die meisten Journalisten überschätzen sich dramatisch. Eigentlich denken sie, dass die Welt darauf wartet, was sie zu sagen haben. Dabei kommt die Welt auch so ganz gut klar.

Goedzak: Wenn Steinbrück angerufen hätte und gesagt hätte: Komm‘ doch mal zu uns ins Schattenkabinett und halte da eine Rede?

Augstein: Mich würde niemand fragen.

Calvani: Die Frage, die sich mir sofort stellte, als ich den Titel zum ersten Mal gesehen habe und auf die ich bis zur letzten Seite des Buches keine Antwort bekommen habe, ist: Wie sabotieren Sie denn?

Augstein: Ich schreibe.

Calvani: Mehr nicht?

Augstein: Das ist mein Beruf.

Calvani: Ich dachte, es wäre ein Plädoyer zum Handeln?

Augstein: Ja, das ist es auch. Aber meine Aufgabe ist es, das Plädoyer zu halten - nicht es umzusetzen. Wenn Sie das immer gleichsetzen, dann ist das das Ende des Journalismus und der Publizistik überhaupt.

Calvani: Heißt das, dass Sie nicht sabotieren können?

Augstein: Ich empfinde meine Arbeit als Sabotage am Denksystem. Das kommt Ihnen vielleicht lächerlich vor. Aber es ist mein Anspruch an mich selbst. Abgesehen davon, in dem Buch geht es nicht in erster Linie darum zu sagen: Leute, ihr müsst jetzt alle Strommasten absägen, dann kommen wir in die bessere Gesellschaft. Mir geht es darum, dass Sie es sich selber erlauben, aus dem Korsett dieser Denkenge herauszukommen. Harald Welzer hat zum Beispiel gesagt, man soll nicht wählen gehen. Das halte ich für falsch. Ich bin der Meinung, man soll wählen gehen. Aber das war im Prinzip eine Art von Sabotage, was er da gemacht hat, er hat einen gedanklichen Strommast umgesägt, wenn ich das so sagen darf. Wenn er sagt: „Geht nicht wählen!“, führt dazu, dass ganz viele Leute darüber reden und nachdenken. Ich halte das zwar für falsch, aber es ist ein gutes Beispiel dafür, dass Sie auch verbal sabotieren können. Das ist vielleicht auch das Unbefriedigende an dem Buch, ich bin ja der Meinung, dass da ein Paradox vorliegt. Ich habe am Ende auch versucht, das klar zu definieren und zu beschreiben. Denn ich finde, wenn einer einen Strommast umsägt, dann muss schon auch die Polizei kommen und denjenigen verfolgen, das ist eine Straftat, das geht halt nicht. Trotzdem kann es aber sein, dass es richtig ist, dass er einen Strommast umgesägt hat.

Calvani: Es geht um eine Strahlwirkung?

Augstein: Ja, genau. Und das erreicht Harald Welzer, indem er sagt: „Geht nicht wählen!“

Calvani: Dabei bleibt dann aber wieder der Körper außen vor. Um den Körper geht es doch insbesondere.

Augstein: Das stimmt, in dem Fall bleibt der Körper außen vor. Aber im Prinzip ist jede Form von Demonstration, die behindert, Sabotage. Was die in Stuttgart gemacht haben, ist ja Sabotage.

Calvani: Mhm. Sie schreiben im Gespräch mit Kraushaar über die Ohnmächtigen. Das kenne ich aus meinem aktuellen persönlichen Umfeld weniger, obwohl es sie ganz sicher gibt, aber was ich verstärkt wahrnehme, ist eine extreme Entpolitisierung. Ich weiß nicht, wie das zu ändern ist, wenn Sie sagen, es ist schon schwierig, die Leute dazu zu bringen zuzuhören. Meinen Sie tatsächlich, dass es mit Sabotage möglich ist, jene zu erreichen?

Augstein: Das ist die zentrale Frage.

Calvani: Und wie lautet Ihre zentrale Antwort?

Augstein: Meine zentrale Antwort ist, dass es falsch ist, darauf zu hoffen, eine Antwort zu finden, dass man sie aber unbedingt suchen muss.

Calvani: Und suchen sollen die Anderen?

Augstein: Nein, wir alle tun das. Wir, Sie, ich mit meinem Buch und meinen Artikeln, wir machen das. Wir haben in dem Augenblick verloren, in dem wir aufhören, darüber zu reden. Es ist ein Kinderdenken, zu sagen: Es gibt eine Antwort und wenn die Antwort gefunden ist, ist das Problem weg. So funktioniert das Leben nicht. So funktioniert auch Ihr Leben nicht, so funktioniert auch Ihre persönliche Entwicklung nicht. Sie bleiben am Leben, solange Sie Fragen stellen. Es wird nie eine Antwort geben. Solange Sie reden, sind Sie am Leben, sobald Sie schweigen, sind Sie tot. Die Gesellschaft lebt, solange sie über diese Fragen streitet.

Calvani: Es fängt schon vorher an, ein Problem überhaupt politisch wahrzunehmen.

Augstein: Genau, dass die Ansprache verweigert wird. Dass sie nicht mehr antworten, nicht mehr reagieren, dass sie gar kein Problem sehen, dass sie sozusagen sanft entschlafen sind. Das ist die schlimmste Variante. Deshalb müssen wir versuchen, das Gespräch am Leben zu erhalten. Darum geht es.

Calvani: Sie zitieren Seeßlen - Sie zitieren ja eine Reihe von Leuten, man könnte dem Buch fast schon Namedropping vorwerfen – mit der Frage, ob der Diskurs der Wahrheitsfindung dient.

Augstein: Das ist eine ganz rührende Vorstellung, die aber nicht stimmt. Und das schreibt Seeßlen ja auch. Der Diskurs dient allen möglichen Zielen und vielleicht kommt durch Zufall die Wahrheit dabei raus. Die Leute reden immer auf sieben Ebenen gleichzeitig. Nehmen sie das Beispiel der Debatte über die NSA-Überwachung. Der Eine redet in Wahrheit über Antiamerikanismus, der Nächste redet über Terrorismusgefahr, der Nächste redet über Bürgerrechte, der Nächste redet über gefährdete Identität. Deshalb funktionieren auch diese ganzen Diskurse immer nicht. Sie können wie bei einem Baumkuchen diese Großdebatten in einzelne Schichten unterteilen und eigentlich müssten Sie immer sagen: Bevor wir reden, worüber reden wir genau? Was ist das eigentliche Thema? Das Hauptproblem bei diesen Diskursen besteht darin, dass die Leute diese Frage nicht ehrlich beantworten.

Calvani: Der Witz ist ja, dass Sie Politikern genau dazu raten.

Augstein: Ich?

Calvani: Ja, tatsächlich. Beispielsweise schreiben Sie, es hätte sich Westerwelles Pressesprecher einschalten müssen.

Augstein: Das war ein Witz, das war ironisch.

Calvani: Das Gleiche bei Steinbrück. Ich weiß bis heute nicht, was das Problem war. Steinbrück ist befragt worden, ob man als Bundeskanzler genug verdient, und er hat nein gesagt. Fertig. Da bin ich ja froh, wenn mal einer wahrheitsgemäß antwortet, während Sie sagen: Wie kann der nur?! Verstehe ich nicht. Was wollen Sie denn jetzt, sollen Politiker die Wahrheit sagen oder nicht?

Augstein: Er wollte Bundeskanzler werden. Dann soll er sich so verhalten, dass er Bundeskanzler wird.

Calvani: Aber einfach auf eine Frage zu antworten, eine sachliche Information zu geben: „Ja, ich finde das ist zu wenig Geld.“… Ich weiß nicht, wo das Problem ist.

Augstein: Das Problem ist, dass er das in der Situation so nicht sagen darf. Er hatte das Thema Geld schon an der Hacke.

Calvani: Wieso darf er das nicht sagen? Ich finde, er muss es sogar sagen, wenn er so denkt.

Augstein: Als er diese Frage beantwortet hat, musste er sich schon dafür rechtfertigen, dass er als Sozialdemokrat für eine fünfstellige Summe in Bochum einen Vortrag hält. Wenn mir jemand soviel Geld bieten würde für ein bisschen Anreise und anderthalb Stunden Diskussion, würde ich sagen: „Das ist zu viel Geld.“ Und ich will nicht Bundeskanzler werden.

Calvani: Das sehe ich anders. Ich finde, wenn er schon so ist, dann soll er es wenigstens sagen.

Augstein: Gut. Und dann ist es ihm um die Ohren geflogen.

Calvani: Das habe ich bis heute nicht verstanden.

Augstein: Da verstehe ich Sie nicht. Dann ist er der Falsche für das Bundeskanzleramt. Aber da ist es schade um die SPD, schade um eine andere Europapolitik, schade um eine andere Steuerpolitik. Nur weil Steinbrück so eitel war. Das ärgert mich.

Calvani: Ich habe mich darüber aufgeregt, dass diese Sache so hoch geschrieben worden ist.

Augstein: Da bin ich ja völlig Ihrer Meinung, das ist aber ein anderes Thema. Die Presse ist doch bei dieser Bundeskanzlerin wie verdurstet. Die deutsche Bundeskanzlerin ernährt die Presse wie durch einen Tropf, mit ganz kleinen Dosen und die Presse sitzt da so…

Calvani: Was Sie für eine Vorstellung von Merkel haben!

Augstein: Sterbenslangweilig. Keine Geschichte. Keine Reaktion. Keine Zitate. Keine Emotionen. Keine Fehler. Sie ist aus Pressesicht die Hölle, weil sie sozusagen gar nicht da ist. Und dann kommt so einer wie Steinbrück und dann schreit die Presse: Hurra! Endlich! Da ist einer! Und dann stürzen sie sich auf jede Geste, die er macht. Nicht weil die so böse sind, sondern weil sie sich freuen, dass endlich mal was passiert.

Calvani: Also, wer nicht genügend Themen findet, über die man journalistisch berichten kann, hat ein Problem, ehrlich gesagt. Dass das nur an Merkel liegt…

Kay.kloetzer: Im Kabarett beispielsweise ist Merkel nur äußerlich darstellbar. Da sind kaum Inhalte, mit denen man umgehen kann.

Calvani: Ich bin keine große Merkel-Freundin, aber so mächtig ist Merkel nicht, dass sie im luftleeren Raum agieren könnte.

Augstein: Es geht nicht um Macht, es geht um die öffentliche Darstellung oder den Mangel an Darstellung.

Calvani: Interessant an dieser Stelle ist, dass Sie schreiben, dass es die Pflicht der Opposition ist, sich als Einheit nach außen darzustellen.

Augstein: Finde ich, ja.

Calvani: Das beißt sich ungeheuerlich damit, dass Sie zum Beispiel ans Ende des Kapitels Hoffnung, das mir überhaupt nicht eingeleuchtet hat, die Piratenpartei aufführen mit der Willensbildung als permanenten Prozess. Nun müssen Sie mir mal sagen, wie beides zusammen geht. Wie kann man sich nach außen permanent als Einheit darstellen, aber andererseits die Willensbildung ständig im Fluss halten, auf Feedback reagieren und Positionen korrigieren? Das passt ja nicht zusammen.

Augstein: Das stimmt, da haben Sie Recht, das ist eine logische Schwäche. Das ist nicht konsistent gedacht. Ich glaube, dass da auch zwei unterschiedliche Wertesysteme in mir kollidieren. Ich bin einerseits pragmatisch genug um zu sehen, dass bestimmte institutionelle Mechanismen gewährleistet sein müssen, um die Macht zu übernehmen. Und dazu gehört eben, dass man sich nicht ständig gegenseitig angreift und andererseits habe ich eine idealistische Sehnsucht nach einem diskursiven politischen Prozess. Aber ich finde die Frage wichtig: Wie vereint man diese unterschiedlichen Positionen, wenn wir aus werteorientierten Gründen den diskursiven politischen Prozess wollen, anderseits aber feststellen, dass er in dieser Gesellschaft gar nicht mehr durchsetzbar ist, weil die Gesellschaft es gar nicht mehr duldet, weil jeder diskursive Prozess dekonstruiert wird? Was bedeutet es, dass nur noch Leute wie Angela Merkel erfolgreiche Politiker sein können? Wollen wir das eigentlich? Nein, das wollen wir nicht. Wie verhindern wir das? Keine Ahnung. Ich weiß nicht, wie man dieses System schlagen kann. Das ist das Interessante bei Merkel. Daher rührt ja auch meine Merkel-Fixierung, weil ich glaube, dass sie eine sehr einflussreiche Figur für die politische Kultur unseres Landes ist. Wenn Sie sich die Merkel-Rezeption angucken, dann gibt es eine einheitliche Sicht auf die Bundeskanzlerin. Völlig egal, ob Bild, Spiegel, Zeit, Freitag, Junge Welt, alle sagen über diese Bundeskanzlerin inzwischen das Gleiche, was ja erstaunlich ist. Das war früher nicht so. Alle haben inzwischen begriffen, wie ihre Machttechnik funktioniert. Und alle sind sich darin einig, dass sie keine eigene politische Agenda hat, außer der, an der Macht zu sein. Das bestreitet niemand. Auch in der FAZ würde das keiner bestreiten. Die Leute divergieren erst dahinter. Die einen sagen dann, das ist richtig so, die anderen sagen, das ist nicht richtig so. Das war früher anders, als man diese Frau noch nicht so richtig kannte – und es hat lange gedauert, bis die Leute sie kennen gelernt haben, auch die Journalisten – gab es auch unterschiedliche Haltungen zu der Frau. Das ist aber inzwischen nicht mehr so. Alle haben inzwischen begriffen, wie die tickt. Und nun stellt das ein Problem dar für künftige politische Vermittlung in diesem Land, denn Merkel ist natürlich ein Vorbild. Wenn ich ein junger Politiker wäre, dann würde ich sagen: So muss man es machen. Sie ist das Role Model für jede Form von Politik. Das ist verheerend. Vor allem, wenn sie dann noch mal so ein letztes Aufbäumen von so einem alten Politikertyp wie Steinbrück haben, der es bei jeder einzelnen Frage schafft, das heutige öffentlichen Rezeptionsverständnis vor die Wand zu werfen.

Calvani: Ich sehe das nicht so.

Augstein: Das ist aber so passiert! Das ist keine Bewertung, das ist eine reine Beschreibung dessen, was wir erlebt haben in den letzten Monaten.

Calvani: Das hat jetzt nicht mehr unmittelbar mit dem Buch zu tun, aber ich fand in dieser Hinsicht das Kanzlerduell ganz bezeichnend. Da war es tatschlich so, dass ich dachte: Was soll man denn jetzt mit Merkel machen? Diskutieren?

Augstein: Aber das Kanzlerduell hat Steinbrück gewonnen.

Calvani: Ja, und das lag an Raab, weil er ihm sehr deutlich gezeigt hat, dass er es mag, wenn Leute sagen, was sie denken.

Augstein: Ja.

Calvani: Dagegen nahmen sich die anderen Moderatoren ziemlich mager aus.

Augstein: Stimmt schon, aber gewählt wurde er trotzdem nicht.

Calvani: Das stimmt, aber deshalb lässt sich noch lange nicht von Merkel darauf schließen, dass nur ihre Strategien erfolgreich sein können, weil auch ihre Strategien nur auf fruchtbarem Boden gedeihen können.

Augstein: Ich gehe jede Wette mit Ihnen ein, dass in allen Parteien, Institutionen, Büros, Redaktionen ein neues Bild von erfolgreichem öffentlichen Management geprägt wird durch diese Frau. Wir haben da einen Kulturwandel zu verzeichnen. Es gab schon damals, als Schröder und Fischer abgewählt wurden, ein Aufatmen. So ein feministisch-modern-emanzipatorisches Aufatmen: Jetzt sind endlich diese Kerle weg, diese Jungs mit ihrer Jungenpolitik.

Calvani: Haben Sie das damals so empfunden?

Augstein: Das stand so in den Zeitungen.

Calvani: Ich lese selten Zeitung.

Augstein: Die veröffentlichte Meinung hat das so dargestellt. Leute wie Bernd Ulrich von der Zeit haben dann gesagt: Jetzt treten wir in eine neue Form von Politik ein. Dann war immer die Frage: Gibt es jetzt weibliche Politik? Aber man hat irgendwann gemerkt, dass das mit weiblich oder männlich gar nichts zu tun hat, das ist ein anderer Politikstil, der genderneutral ist. Vielleicht fällt es Frauen leichter, das zu machen. Ich wette mit Ihnen, das ist noch nicht hinreichend erkannt, was das bedeutet für die Frage, welche Leitbilder haben, was lernen wir von unseren Rollenvorbildern. Das ist ein echter Paradigmenwechsel.

Calvani: Um das mal kurz zu überprüfen: Dann müsste auch Kohl so ein Leitbild gewesen sein.

Augstein: Kohl? War er ja auch zu seiner Zeit. Kohl war ein traditionellerer Politiker, er war ja ein traditioneller Politikertypus, er hatte traditionelle Machttechniken. Er hat den Leuten Geld gegeben. Er hatte das Gefühl, er steht selber über dem Gesetz. Er war groß und gemütlich. Er hatte trotzdem noch politische Visionen, für die er auch gekämpft hat. Das ist ja schon ein ziemlich rundes dreidimensionales Bild eines wirksam werdenden Menschen, aber doch auch ein relativ klassisches Bild, weil es relativ klassische Formen der Machtausübung waren. Leute mit Gewalt an die Wand pressen. Das macht Merkel anders.

Calvani: Und genauso, wie es sich von Kohl zu Merkel gewandelt hat, kann es sich auch wieder von Merkel zu etwas anderem wandeln.

Augstein: Das ist ja eine interessante These. Ich glaube das ja nicht.

Calvani: Es muss ja so sein, sonst hätte sich die Wandlung von Kohl zu Merkel auch nicht vollziehen können.

Augstein: Doch. Das nennt sich Modernisierung. Ich glaube, dass Merkel der modernere Politikertyp ist als Kohl. Merkel hat das Kohlsystem adaptiert auf unsere heutige Zeit. Sie ist die Frau, die da sitzt und dem französischen Präsidenten im Gespräch – das habe ich irgendwo mal gelesen – sagt: „Ich bin nicht so mächtig wie du!“ Und dann geht er raus und fühlt sich ganz mächtig, aber das Gegenteil ist der Fall.

Calvani: Das würde ich aber leider weiblich nennen! Obwohl mir das dummerweise völlig abgeht.

Kay.kloetzer: Genau. Das würde ich auch weiblich nennen. Und ich denke, dass das in allen Machtpositionen jetzt so ist, wie auch bei Firmenchefs. Früher hat der Sohn des Betriebsleiters im Vertrieb angefangen und dann dies und das in den verschiedenen Abteilungen gemacht, dadurch alle Seiten kennengelernt. Und jetzt kommen die von der privaten Handelsschule und haben mit dem, was sie tun, keine innere Verbindung mehr. Das ist sicher erfolgreicher, weil sie dadurch auch härter sind beim Sparen. Deshalb glaube ich, dass das noch ein paar Jahre funktionieren könnte, aber nicht für ewig, weil pures Sparen allein nicht zum Erfolg führt.

Calvani: Ja, der Meinung bin ich auch. Irgendwann wird es enden. Ich habe noch was an der immensen strukturellen Unordnung des Buches zu meckern, aber ich schiebe das auf später. Ich muss jetzt mal.

Kay.kloetzer: Sie haben geschrieben, die wirksamste Idee könnte die sein, die niemals realisiert werden muss. Das ist ein Großgrundproblem, dass es gar nicht mehr um die Ideen geht, was zu dem, was Sie eben zu Steinbrück gesagt haben, passt. Ich lese z. B. nicht mehr gern Interviews, weil nichts mehr drin steht, weil sie so geglättet sind, dass es mich nicht mehr interessiert. Um Ideen geht es darin auch nicht mehr. Es gibt im Moment keinen theoretischen Überbau für das, was wir gerade erlebe. Sie zitieren Marx und schreiben, dass wir uns wohl wieder daran gewöhnen müssen, dass er Recht hatte. Und ich frage mich dann schon, warum eigentlich 1989/90 und danach alles so zur Seite gewischt wurde. Mit dem Sozialismus wurden die Theorien, die es gab, komplett weggewischt. Ich habe mich manchmal gefragt, ob der Westen froh war, durch die Einheit oder den Zusammenbruch des Sozialismus einfach so weitermachen zu können. Sie schreiben ja oft, dass Dinge schon seit dreißig, vierzig Jahren so sind. Das heißt, die Entwicklung war absehbar, als die Mauer fiel. Der Westen hat aber überhaupt nicht versucht, irgendetwas zu nutzen. Es war eher so: Wehe dem Sieger. Jetzt haben wir gewonnen, jetzt machen wir so weiter. Es bedeutet aber einen Verlust.

Augstein: Ich glaube, viele Leute würden Ihnen bei den Prämissen widersprechen. Es gibt Leute, die würden sagen: Wieso? Das hat doch dem Westen super genutzt. Erstens gibt es den Osten nicht mehr und zweitens ist der Westen immer reicher geworden. Dass der Reichtum sich ungleich verteilt, ist eine andere Frage, aber – und das finde ich das Interessante – es regen sich wenige Leute darüber auf. Das westliche System ist unfassbar erfolgreich. Es wurden unheimlich viele Werte geschaffen und Stabilität. Nach innen jedenfalls, nach außen nicht. Insofern hatten die Leute nicht das Gefühl, dass sie etwas zu lernen hätten. Die Leute im Westen hatten nicht den Eindruck, dass es im Osten etwas gab, was man hätte retten müssen. Das war die große Kränkung der Ostdeutschen, die irgendwann gemerkt haben: Unsere Vergangenheit ist wertlos und ausgelöscht. Ich habe das hier sehr unmittelbar miterlebt, die Nihilierung von Biografien, politischen Biografien, künstlerischen Biografien. Es bleibt einfach nichts übrig. Vielleicht ein rühriger DEFA-Film aus den Fünfzigern. Das hat die Leute im Osten geschockt.

Mit der Finanzkrise haben die Leute im Westen kurz innegehalten und gedacht: Hoppla, so ganz risikofrei scheint das ja auch nicht zu sein, was wir hier machen. Aber jetzt fünf Jahre später, ist dieser Impuls verschwunden. Die Restauration hat gesiegt.

Das ist eigentlich nur dadurch erklärbar, dass sehr starke und sehr gut organisierte Interessen das Thema beerdigt haben. Die Bild am Sonntag bringt ja nicht umsonst ein großes Interview mit der Fabrikantin Schaeffler, in dem sie sich gegen den Mindestlohn ausspricht. Das war bemerkenswert: da konnten Sie das Foto einer Milliardärin sehen, mit schöner Frisur und Schmuck und tollem Lächeln und darunter erklärt sie warum 1800 Euro im Monat zu viel ist.

Kay.kloetzer: Diese Mischung aus Manipulation und Gedankenlosigkeit ist hochgradig gefährlich, weil die Leute, die das lesen, auch nicht wissen, was das jetzt ist, darüber vielleicht nicht nachdenken, jedoch spüren, dass etwas nicht stimmt.

Augstein: Jedenfalls kann man schon auf den Gedanken kommen, es müssen ein paar Strommasten fallen, um die Leute an die Widersprüchlichkeit unseres Systems zu erinnern.

Kay.kloetzer: Aber das ist doch Absicht! Weil die Leute dann darüber reden, dann geht die Neiddebatte, die oft geschürt wird, obwohl es sie gar nicht gibt, wieder los.

Augstein: Das hat mit Neid nichts zu tun, das hat eher was mit Ekel zu tun.

Kay.kloetzer: Jeder sagt dann: Guck doch mal, wie die aussieht und redet gar nicht mehr über den Mindestlohn, um den es eigentlich geht.

Wenn Journalisten zu nah an der Macht sind und versuchen Macht auszuüben, was eigentlich nicht ihre Aufgabe ist, frage ich mich, ob das Vorsatz ist. Oder ob es ihnen unterläuft. Wie ist es möglich, dass die Wirtschaft so in die Medienhäuser eingreifen kann.

Augstein: Das tut die Wirtschaft nicht. Ich glaube, das machen die freiwillig. Die Leute wollen auf der Gewinnerseite stehen. Und die Gewinnerin ist halt Frau Schaeffler mit ihren Milliarden und der Hartz IV-Empfänger in Greifswald ist der Verlierer. Das Elend nervt und das Gejammer auch, und sie orientieren sich nach oben und nicht nach unten.

Kay.kloetzer: Auch da gab es ‘89 die Chance. Aber das kann doch nicht sein, dass alle…

Augstein: Wieso? Wir reden hier von einer ganz großen mental-sozialen Entwicklung. Das sind alles Kohls Kinder, das sind alles Leute in meinem Alter, die in Westdeutschland in der Kohlära aufgewachsen sind. Das ist natürlich ein anderes Wertekorsett gewesen. Die sind da reingewachsen. Sie müssen bedenken, die Leute, die jetzt in den Medien den Ton angeben, sind zwischen 35 und 55. Überlegen Sie mal, wann die sozialisiert worden sind. Die sind nicht mehr in den Siebzigern sozialisiert worden, als man noch andere Werte vorgelebt bekommen hat.

Kay.kloetzer: Das Erinnern ist, wie Negt sagt, wichtig. Viel zu viel ist vergessen. Gewerkschaftsstreitgeschichte z. B., wobei man daran noch öffentlich erinnern kann, wenn man es will. Aber daran zu erinnern, dass die DDR gar nicht so furchtbar war, wie viele glauben, funktioniert nicht, weil es dafür noch zu früh ist. Marx dagegen geht ja jetzt wieder.

Augstein: Ach, doch. Das mit der DDR geht schon. Das hat sich inzwischen auch dadurch verändert, weil die DDR und ihre Erinnerung zu 100 Prozent assimiliert sind. Deshalb kann man darüber jetzt wieder relativ entspannt reden. Das Thema ist so derartig abgelegt, dass das auch der Westen gar nicht mehr als Infragestellung oder Angriff oder Kritik begreift.

Kay.kloetzer: Wobei es bei vielen Sachen gar nicht darum geht, dass es DDR war, sondern dass es nicht der Westen, also nicht die BRD war. Man müsste es nicht mal DDR nennen. Die Begriffe haben sich ja gewandelt. Der Begriffswandel, den Sie ansprechen, könnte für mich auch eine Ursache dafür sein, dass Leute entpolitisiert werden, weil Begriffe, die sie hören, eine andere Bedeutung haben, nicht mehr stimmen oder anders stimmen. Das wäre die Aufgabe der Medien, Begriffe wieder mit der Bedeutung aufzuladen, die sie mal hatten.

Augstein: Ja, das versuchen wir ja auch, aber das ist schwierig, weil sie gegen andere Kräfte arbeiten müssen. Ich glaube aber, dass das eines der Hauptprobleme ist, welche Preise die Politik für die Leute bereithält, die dorthin gehen. Wenn sie viel Geld verdienen wollen, sind sie da falsch, das hat auch Steinbrück festgestellt. Dann gehen sie in die Wirtschaft. Also Geld ist es nicht. Gibt es wirklich Macht in der Politik? Wenn jemand heute bei Google arbeitet und dort Sprecher ist, hat er wahrscheinlich mehr Einfluss als in der Politik. Und wenn Sie sich dann noch den Niedergang des Begriffs des „Öffentlichen“ überlegen, was eben das Erbe der Kohl-Ära ist, dann weiß ich nicht. Wenn meine Kinder in die Politik gingen, fände ich das schön. Aber ich glaube, das ist eine Ausnahme. Die meisten Leute würden sagen: Um Gottes Willen! Mach‘ etwas Anständiges, geh‘ in die Wirtschaft, werde Künstler, aber lass‘ bloß die Finger von der Politik.

Kay.kloetzer: Das sind keine Jobs, die man in der Berufsberatung vorgeschlagen bekommt. Eigentlich muss man dafür geboren sein. Man muss Politik ertragen können.

Augstein: Ja, klar. Wir machen uns lustig über Christian Lindner, der direkt nach der Schule bei den JuLis war und dann Berufspolitiker im eigentlichen Sinne wurde. Darüber spotten dann die Leute, weil er das echte Leben angeblich nicht kennt. Das halte ich für falsch. Der Mann ist Berufspolitiker. Und es handelt sich hier um einen komplizierten Beruf. Die SPD-Journalistin Susanne Gaschke hat das vor kurzem in Kiel erfahren. Die Zeitungen haben das ziemlich nüchtern behandelt, indem sie ihr gesagt habe: „Mädchen, so einfach ist das eben nicht. Du kannst nicht Journalistin sein und dann wirst du plötzlich Oberbürgermeisterin und denkst, das geht so glatt durch?“ Auf so eine Idee kann man eigentlich auch nur kommen, wenn man Journalist ist.

Calvani: Ich finde diesen Schritt nicht so falsch.

Augstein: Aber Sie sehen doch was passiert ist.

Calvani: Gaschke ist nur eine Person, jemand anders hätte es vielleicht anders gemacht. Ich halte Lindner für einen überschätzten Politiker, jedenfalls wenn politischer Erfolg nicht nur darin bestehen soll, ein wählbares Bild nach außen abzugeben. Und ich habe offen gestanden auch etwas dagegen, wenn Politiker nie einer anderen Arbeit nachgegangen sind als der des Berufspolitikers. Ich gehöre tatsächlich zu denen, die in dieser Hinsicht Ressentiments pflegen.

Augstein: Ich glaube, dass der Beruf zu kompliziert ist. Das ist ein Profijob, weil sie vor allen Dingen nicht technische oder inhaltliche Sachen lernen müssen, sondern sie müssen diese mentalen Fähigkeiten haben. Frau Gaschke hatte die offenbar nicht. Darum waren die Reden, die sie im Zusammenhang mit ihrem Abgang gehalten hat auch so sonderbar.

Calvani: Damit hat sie sich sehr angreifbar gemacht. Vielleicht bräuchte es einfach nur noch mehr, die das Wagnis auf sich nehmen.

Augstein: Immerhin hat sie es als Journalistin geschafft, Kieler Oberbürgermeisterin zu werden. Sie ist natürlich auch mit einem Bundestagsabgeordneten verheiratet, sie war jahrelang in der SPD. Sie ist nicht völlig fremd gewesen.

Kay.kloetzer: Ich möchte noch mal zurück zur Sprache, die gehört für mich nämlich zum Körper, der in die Politik eingebracht werden muss. Da sehe ich die Gefahr, dass sich Zynismus noch verstärkt. Man kann das im Internet sehr gut beobachten. Was früher ein sogenannter „Aufreger“ war, der in Medien gespiegelt wurde, ist jetzt sofort mit einer Karikatur oder einem Foto und Sprechblase im Netz. Diese Art der Aufbereitung ist oft ziemlich komisch und gut. Bleibt aber im Banalen oder Stadium der Ironie hängen. Und dadurch gibt es für Vieles keine Sprache mehr, der Diskurs bleibt aus. Und ich denke, dass Sprache auf ganz lange Sicht Wirklichkeit verändern kann. Sollte sie aber verloren gehen…

Augstein: Wir brauchen wieder die Sprache der Kinder. Das ist auch meine Meinung. Wir brauchen die naive Sprache, wir brauchen auch die pathetische Sprache.

Kay.kloetzer: Pathos zum Beispiel. Das Empört euch! könnte in Deutschland gar keiner schreiben, weil keiner dieses Pathos hat. Ich habe mich beim Lesen Ihres Buches sehr wohl gefühlt in der Hoffnung: Jetzt kommt die Anleitung zum Handeln.

Augstein: Da bin ich der Falsche. Ich bin kein Politiker. Ich bin nur Beobachter. Ich bin nur Journalist. Ich denke und ich rede und ich schreibe.

Calvani: Sie sind auch Mensch, Mann und Bürger, sagen aber immer: Ich bin ja nur Journalist.

Augstein: Wieso? Das verstehe ich nicht. Meine Handlung besteht darin, mich öffentlich zu ärgern, das ist mein Job.

Kay.kloetzer: Das ist schon viel.

Calvani: Das machen Sie als Journalist. Und was machen Sie als Bürger?

Augstein: Sagen wir mal: so wie ich den Journalismus betreibe, fließen mein professionelles und mein bürgerliches Engagement hin und wieder zusammen.

Calvani: Da hat mir ein Kapitel in Ihrem Buch sehr gefehlt, um genau darüber nachzudenken. Ich bin auch nicht z. B. gegen die Praktiken der NSA auf die Straße gegangen, ich vermute, ihr auch nicht. Und ich fände es eine Überlegung wert, warum wir’s nicht machen.

Kay.kloetzer: Journalismus ist Teil der Aufklärung. Und das Schlimme ist, dass Nachrichten im Fernsehen oft manipuliert erscheinen - durch die Wahl der Bilder. Ich habe neulich eine Demo gegen Rassismus erlebt. Die Autonomen, auch aus anderen Städten, waren auf dem Marktplatz richtig laut. Da ist aber kaum jemand stehen geblieben, um ihnen zuzuhören.

Augstein: Neulich habe ich eine Lesung in Göttingen gemacht und dann kamen Störer, die mich für einen Antisemiten halten. Mich hat das einerseits verletzt, weil ich mich da falsch verstanden fühle. Aber andererseits habe ich mich gefreut. Ich fand den Protest richtig.

Calvani: Was fanden Sie richtig?

Augstein: Dass die ihre Meinung kundgetan haben. Ich habe gesagt: Lasst uns darüber reden. Das wollten die nicht. Die haben ihr Flugblatt einfach vorgelesen. Ich fand das Unsinn, das können wir ja selber. Ich wollte lieber reden, dazu konnte ich die aber nicht bewegen. Das ist der Punkt: Wenn das Gespräch endet, endet alles. Das Gespräch ist das Ziel. Das ist das Wichtigste. Das hat übrigens auch was mit dem Freitag zu tun. Es geht um das Gespräch. Das ist der höchste Wert. Wenn Sie zurückgucken in unsere stundenlangen Netzdiskurse, dann werden Sie auch sehen, dass das eine absolute Konstante in meinem Denken ist. Das Gespräch selber hält einen am Leben und hält auch die Bindung aufrecht. Als diese Studenten in Göttingen mit mir nicht reden wollten, war das für mich die schlimmere Kränkung und der viel schlimmere Angriff, als dass sie die Veranstaltung gestört haben. Jeder soll eine Veranstaltung stören. Aber niemand soll das Gespräch verweigern.

Nächstes Mal: Read & Meet mit Gisa Klönne über ihren Roman Das Lied der Stare nach dem Frost

Vielen Dank an Jakob Augstein, Kay.kloetzer und Goedzak
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Calvani

Die Wirklichkeit ist immer nur ein Teil der Wahrheit

Calvani

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden