Jugend im Tränengas

Politisch Chinesische Schüler demonstrieren gegen den Bau einer Chemiefabrik und widerlegen Vorurteile gegen ihre Generation.

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Video: Eindrücke von den Protesten in Shifang

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Der „Shifang-Zwischenfall“

Eigentlich sollte im südwestchinesischen Shifang Ende Juni 2012 mit dem Bau einer Fabrik zur Kupferbeschichtung begonnen werden, einem gewinnträchtigen Prestigeobjekt des Unternehmens Hongda und der Lokalregierung. Man kommt jedoch nicht weiter als bis zum Grundstein: Die Einwohner fürchten die umwelt- und gesundheitsschädlichen Folgen des Projekts und gehen während der ersten Julitage zu Zehntausenden auf die Straße.

Nach heftigen Ausschreitungen mit der Polizei und landesweiten Schlagzeilen stoppt die Lokalregierung den Bau am 03. Juli. Interessenkonflikte dieser Art kommen in China oft vor, doch selten erhalten sie in den Medien so viel Aufmerksamkeit. Was macht die vergleichsweise kurzen Proteste in Shifang dann so außergewöhnlich? Vielleicht liegt das an diesem Slogan, der landesweit zu einem geflügelten Wort wurde:

Für die Menschen von Shifang: Wir können Opfer bringen, wir sind die post-1990-Generation.*

Rückgrat

Opfer zu bringen, das brachte der Volksmund bis dato mit den nach 1990 Geborenen wenig in Verbindung. Die Jugendlichen (als Folge der Ein-Kind-Politik meist Einzelkinder) galten als verhätschelt, selbstfixiert, materialistisch und politisch desinteressiert. Von einer „verlorenen Generation“ war schon die Rede. Gewaltig rüttelt nun der „Shifang-Zwischenfall“ an diesen Vorurteilen. Dort war auf einem Spruchband zu lesen:

Gehen wir heute nicht raus, dann können wir morgen nicht mehr rausgehen.

Ein Abiturient und Teilnehmer der Proteste weiß,

dass Bürgerbewusstsein und starkes soziales Verantwortungsgefühl unser Antrieb sind.

Schüler und Studenten waren das Rückgrat der Demonstrationen in Shifang. Ihr mittels Internet organisierter Protest lässt manche Kommentatoren nun umdenken und euphorisch von einer „neuen demokratischen Kraft“ sprechen, mit der in Zukunft politisch zu rechnen sein müsse. Chinas Bloggerpapst Han Han prophezeit:

Diese Leute sind die Herren der Zukunft, sie sind jetzt schon da.

Rote Garden

Aber es gibt auch mahnende Stimmen. Die staatseigene Zeitung Global Times sieht die Gefahr, dass Jugendliche instrumentalisiert werden und fühlt sich an das Wüten der „Roten Garden“ während der „Kulturrevolution“ erinnert.

Die Aufgabe von Schülern ist zu lernen.

Vor voreiligen Schlüssen warnen chinesische Soziologen gegenüber der Deutschen Welle:

Jetzt schon zu beurteilen, ob die post-1990-Generation zum Rückgrat der nächsten Welle landesweiter Proteste werden wird, das wäre verfrüht. Die Mehrzahl der Abiturienten und Uni-Absolventen folgt nach wie vor dem traditionellen Weg“: Auslandsstudium oder Anstellung im gut bezahlten öffentlichen Dienst.

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* Je nach Geburtsjahr werden Chinesen umgangssprachlich einer „post-X0-Generation“ zugeordnet, die jeweils mit Vorurteilen und Klischees zu kämpfen hat. Besonders für die nach 1980 und 1990 Geborenen hat sich diese Bezeichnungsform eingebürgert.

Im September 2012 zuerst erschienen bei:

stimmen-aus-china.de

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Geschrieben von

chinaschau

Autor: Oliver Pöttgen | chinaschau@web.de | fachchinesisch.tv

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