Reich der Mittelschicht

Rechenkunst Eine europäische Denkfabrik prognostiziert, dass 2030 74% aller Chinesen zur Mittelschicht gehören werden. Die glauben das nicht.

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Am 27.04.2012 veröffentlicht das Institute for Security Studies (ISS) der Europäischen Union den Bericht „Global Trends 2030 – Citizens in an Interconnected and Polycentric World“. Durch ein internationales Wissenschaftssymposium Ende Mai in Peking nimmt auch eine breitere chinesische Öffentlichkeit Notiz davon. Deren ganz besonderes Interesse erregt eine China betreffende Entwicklungsprognose: Im Jahr 2030 gehörten 74% aller Chinesen zur Mittelschicht. Hieran entzündet sich im Netz eine Kontroverse, die besonders um zwei Fragen kreist: Wie realistisch ist das, wenn jetzt erst offiziell 12% aller Chinesen der Mittelschicht zugeordnet werden und diese bei rasant steigenden Wohn- und Lebenshaltungskosten zunehmend Angst vor sozialem Abstieg haben? Und ab wann zählt man in China eigentlich zur Mittelschicht?

„Gemittelschichtet werden“

Mit Sarkasmus kommentiert mancher Nutzer diese Entwicklungsprognose. Genährt durch Fälle von Vertuschung und unkritischer Regierungsnähe chinesischer Experten in den letzten Jahren, ist ein Misstrauen gegenüber Expertenwissen zu beobachten. Die Prognose des ISS hat in diesem Meinungsklima keinen leichten Stand. Nutzer 80kaifang vertraut nur den Rechenkünsten chinesischer Behörden:

Es wird ganz sicher so sein, solange man dann das nationale Statistikamt die Ergebnisse veröffentlichen lässt. Selbst wenn es nicht 85%, sondern 100% wären, würde ich es auch glauben.*

yangyufeitian pflichtet bei:

[…], wenn es soweit ist, dann werden wir einfach gemittelschichtet worden sein.**

songyunshanren überschlägt:

Sollten dann in China wirklich nur noch 20 Millionen Menschen übrig sein? Meine Güte…

Angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Probleme Chinas wird der Pessimismus vieler Kommentatoren verständlicher. Keine großen Hoffnungen macht sich dayawang:

Wenn es keine Korruption und Inflation mehr gäbe, ja, dann ist es wirklich möglich. Aber in Chinas Situation, wo der Unterschied zwischen Arm und Reich immer größer wird, da ist das nichts weiter als eine Illusion!

Haus, Auto, Frau und Kind

2005 wurde in China von offizieller Seite die Zugehörigkeit zur Mittelschicht so definiert, dass Haushalte mit einem Jahreseinkommen zwischen 60.000 und 500.000 RMB darunter fallen (gegenwärtig etwa 7.700 bis 64.300 Euro). Wenngleich der Hongkonger Soziologieprofessor Lü Dale Berufszugehörigkeit und Bildungshintergrund für sehr viel wichtigere Kriterien hält, so ziehen auch chinesische Nutzer in erster Linie den materiellen Wohlstand bei der Bewertung heran. Tomi_yingyu_joy hat klare Vorstellungen:

Ein Haus muss man haben, Wohnung zählt nicht. Und ein Auto im Wert von ca. 500.000 Renminbi [64.300 Euro]. Zwei bis drei Kinder, auf der Bank ein Sparguthaben von mehr als 5 Mio. RMB [643.000 Euro]. Die Frau kann sich ganz um Haushalt und Kinder kümmern, das Einkommen des Mannes ernährt die ganze Familie, zwischen 50.000 RMB [6.4000 Euro] und 200.000 RMB [25.700 Euro] pro Monat.

Er schließt pessimistisch:

Ich glaube, dass es in China keine Mittelschicht gibt.

Im Juli 2012 zuerst erschienen bei:

stimmen-aus-china.de

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Geschrieben von

chinaschau

Autor: Oliver Pöttgen | chinaschau@web.de | fachchinesisch.tv

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