Wie ein Demagoge Netzaktivisten bekehrt

Norbert Lammert Der Kirchentag hatte führende Netzaktivistinnen und -aktivisten eingeladen: Bloggerinnen, Piraten, Campact-Gründer. Doch Lammert bügelte sie platt, bis sie applaudierten

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Bloggerin Katrin Rönicke (Mitte) und Campact-Gründer Felix Kolb (links).
Bloggerin Katrin Rönicke (Mitte) und Campact-Gründer Felix Kolb (links).

Anfang 2009 bis Ende 2012 beim "Freitag" und jetzt auf dem Kirchentag: Katrin Rönicke. Bis Weihnachten hatte sie hier eine Gender-Kolumne. Jetzt bloggt und podcastet sie freischaffend, unter anderem bei der FAZ, wo sie fürs Bloggen auch bezahlt wird.

Die Gründerin der feministischen Initiative "Lila" war bei den ersten "digitalen Großdemonstrationen" mit den Hashtags #zensursula und #aufschrei dabei, verschenkte später ihre twitter-Follower an ein Kinderbuchportal und sucht jetzt nach neuen Wegen, Frauen und Außenseiter-Positionen im Netz sichtbar zu machen und damit, wenn möglich, auch Geld zu verdienen. Nach Katrins Überzeugung gibt es dazu noch viele Möglichkeiten. Sie kennt zum Beispiel einen Kollegen, der mit Podcasts über den flatr-Button relativ viel Geld einnimmt, "weil einfach seine Arbeit gut ist." Die von der Grünen Jugend politisch geprägte Bloggerin ist überzeugt, dass Bloggen Veränderung bewirkt: "Indem wir unsere Ideen und Geschichten in die Welt tragen, sind sie aus ihr nicht mehr wegzudenken."

Ähnlich optimistisch waren auch Dr. Felix Kolb, Gründer der Netzkampagnen-Plattform "Campact", und der Pirat Sebastian Seeger. Der Hamburger Freibeuter war kurzfristig für Martin Delius aus Berlin eingesprungen, dessen Frau den Vorsitzenden des Flughafen-Untersuchungsausschusses angeblich aus gesundheitlichen Gründen nicht zum Kirchentag lassen wollte.

Gerade mal zwei Stunden hatte Sebastian seit der Absage von Martin Zeit gehabt, sich innerlich vorzubereiten, um anschließend sofort gegen ZEIT Vizechef Bernd Ulrich als Koreferent anzutreten. Das ging nicht ohne Blessuren ab. Sebastians Statements waren spontan und schlagfertig, aber durchweg erwartbar, ohne Aha-Effekt für die Zuhörerinnen und Zuhörer, die heftig applaudierten, als er feststellte, dass er gerade den Faden verloren habe und wohl besser aufhören sollte.

Dabei ist Bernd Ulrich stets mutig, aber im Disput kaum durchsetzungesfähig. Der Zeit-Redakteur, den Freitag-Leserinnen und -Leser 2011 beim Freitag-Salon zum Thema Afghanistan erleben durften, hatte dort seine liebe Mühe, beim Sperrfeuer von Ex-Oberstarzt Reinhard Erös überhaupt zu Wort zu kommen. Todesmutig deutete er auf dem Kirchentag die gesamte Netz-Kommunikation vom Phänomen des Shitstorms her - als "permanenten Krieg der Unsichtbaren gegen die Sichtbaren". Die unentwegte Selbstzerstörung der Netzgemeinde fresse sich in unser aller Leben hinein, weil auch die traditionellen Medien aus Überlebensangst der Meinung seien, auf dieses Trittbrett steigen und dieselbe Sau mit durchs Dorf jagen zu müssen, statt besonnen dagegenzuhalten.

Sebastian warf er vor, dass die Piraten nach einem vielversprechenden Aufbruch durch diese Shitstorm-Dynamik in die Destruktivität abgedriftet wären. "In der Mischung aus Transparenz und Internet ist eine unfassbare Zerstörung von Personen abgelaufen" hielt der Journalist den Piraten vor. "Das läuft bei allen anderen Parteien genauso, nur dort im Hintergrund, bei uns dürfen Sie zusehen", erwiderte der Freibeuter.

Nach diesem Schlagabtausch und den Interviews mit Katrin und Felix, bei denen sich die Akteure immerhin noch über das Ziel einig waren, trat ein Hardliner der alten politischen Kaste auf und hatte ohne Koreferrenten die Bühne ganz für sich allein: Bundestagspräsident Norbert Lammert.

Zunächst rammte Lammert in einem Eingangsstatement ein paar Prämissen als Pflöcke in die Erde, an denen danach niemand mehr vorbei kam. Als erstes stellte er klar, dass es in der Politik kein Recht und kein Unrecht gibt, sondern nur unterschiedliche Interessen. Wer sich an einer Abstimmung beteiligt, räume genau das damit ein, so Lammert.

Heraus kämen dann Entscheidungen, die weder richtig noch falsch seien, sondern gültig. Dass heute das Internet für plebiszitäre Entscheidungen bessere Möglichkeiten schaffe, als sie den alten Griechen oder der Westminster Demokratie zur Verfügung standen, sei zutreffend. Das heiße aber noch nicht, dass plebiszitäre Demokratieformen repräsentativen überlegen sein müssten.

Aus der Prämisse, dass es kein Richtig oder Falsch gebe, sondern nur Interessen, folgert Lammert schließlich, dass es bei plebiszitären Initiativen immer um partikulare Interessen Einzelner gehe, um Vorgarten-Politik. Im Gegensatz zu Volksvertretern repräsentierten die Akteure von Plebisziten nicht die Allgemeinheit, sie seien nur sich selbst und dem eigenen Wohl verpflichtet. Dementsprechend sei die Botschaft von Volksbefragungen an die Politik immer dieselbe: "Macht für die Allgemeinheit, was ihr wollt und wo ihr wollt, aber bitte nicht bei mir in meinem Vorgarten!"

Wegen dieses egoistischen Charakters hätten von den 6.000 Verfahren der letzten 10 Jahre mehr als zwei Drittel die nötige Mindestbeeteiligung nicht erreicht. Die Beteiligung an Wahlen sei durchweg höher als bei Volksbefragungen. Bei Wahlen würden viel mehr Menschen und alle Schichten der Bevölkerung mitmachen, auch schwächere. Deshalb seien Wahlen demokratischer als Plebiszite.

Wähler würden nie Personen ihres Vertrauens wählen (wie es die Verfechter einer liquiden Demokratie unterstellen), sondern immer Parteien. Beweis: Lammert verliert regelmäßig in seinem Wahlkreis. Dass ihm dies trotz großer Bekanntheit und hoher Glaubwürdigkeit immer wieder passiert, kann sich der Bundestagspräsident nur damit erklären, dass seine Wählerinnen und Wähler zwar nicht seine Konkurrenten besser fänden, wohl aber deren Programme von deren Parteien. Die machten sie aus gutem Grund zur Grundlage ihrer Wahlentscheidung. Gäbe es nämlich die Parteien nicht, ließe sich bei über 600 Abgeordneten überhaupt nicht vorhersehen, wie sie sich bewegen würden. Erst Parteien würden deren Stimmverhalten transparent und vorhersehbar machen.

Obwohl diese Argumentation bar jeder Logik war und die Erfahrung gegen sie steht, dass sich seit 15 Jahren alle Parteien, wenn sie an die Regierung gelangen, diametral entgegensetzt bewegen zu dem, was sie vor der Wahl angekündigt hatten, bekam Lammert mehr und mehr Applaus. Selbst von denen, die vorher noch für das Gegenteil waren.

Hinter mir saß eine Gruppe, die anfangs zueinander sagte, das sei ja nicht auszuhalten, dass diesem Alleinunterhalter niemand mehr widersprechen dürfe, so komme man nicht gegen ihn an. Dann plötzlich sagte auch in dieser Gruppe ein Wortführer: "Da hat er allerdings Recht" und applaudierte - zusammen mit den anderen, die seinem Beispiel folgten.

Sogar Katrin Rönicke und Felix Kolb spendeten dem begnadeten Demagogen am Ende Applaus, als er gleichnishaft persönlich wurde und klarstellte, dass seine eigene Familie beim Jahresurlaub die Frage, wohin man fährt, sinnvollerweise nicht ausdiskutiert habe, bis der Urlaub vorbei war. Das konnte weder nach dem Konsens-, noch nach dem Mehrheitsprinzip schnell genug geklärt werden und musste deshalb hierarchisch-autokratisch entschieden werden. Was Lammert mit der Situation der deutschen Volksvertreterinnen und -vertreter im Jahr 2008 verglich, als sie beim Rettungsschirm in 5 Tagen über 480 Milliarden entscheiden mussten - das doppelte Volumen des Bundeshaushalts, über den sonst ein halbes Jahr lang beraten werde. Trotz dieser einseitigen Festlegung habe die Familie Lammert immer einen schönen Urlaub gehabt und alle hätten sich gut erholt.

Ein Diktator hätte nicht besser argumentieren können. Dass Lammert dafür tosenden Applaus bekam, und von wem er ihn bekam, sollte nachdenklich machen. Was der Bundestagspräsident dort als Einzelkämpfer gegen den Zeitgeist ablieferte, war ein Meisterstück der Rhetorik und der Demagogie. Das war beeindruckend. Stärker jedoch war der Eindruck, im falschen Film zu sein.

Weitere Beiträge zum und vom Kirchentag:

https://www.freitag.de/autoren/joachim-petrick/kirchentag2013-erinnern-an-dorothee-soelle

https://www.freitag.de/autoren/christianberlin/soviel-veraendern-wie-du-brauchst

https://www.freitag.de/autoren/christianberlin/zu-gott-schreien-weil-menschen-nicht-hoeren

https://www.freitag.de/autoren/christianberlin/die-starke-gesellschaft-schliesst-schwache-ein

https://www.freitag.de/autoren/christianberlin/mutige-pastoralreferentin-bekam-soelle-preis

https://www.freitag.de/autoren/joachim-petrick/kirchenpfad-mit-friedrich-schorlemmer

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

ChristianBerlin

Theologe (Pastor) und Journalist, Berlin. Mitglied im Journalistenverband Berlin-Brandenburg (JVBB) und im Pfarrverein-EKBO. Singt im Straßenchor.

ChristianBerlin

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden