Niko Paech ist Volkswirtschaftler und einer der wichtigsten Köpfe der so genannten Postwachstumsökonomie in Deutschland. In seinen dreißig Minuten Redezeit erklärt er uns, warum Wirtschaftswachstum keine Option für das 21. Jahrhundert ist. Er hat ein anschauliches Beispiel parat – nach dem zehnten Glas Hefeweizen steigt der Nutzen einfach nicht mehr – und überzeugende Zahlen: elf Tonnen CO2 erzeugt jeder Deutsche im Jahr, 2,7 dürften es maximal sein, allein ein Flug nach New York erzeugt vier Tonnen.
Paech hat nur dreißig Minuten Zeit, um uns diese Disziplin der Wirtschaftswissenschaft „im Tiefflug“ vorzustellen, weil er Teil einer künstlerisch-wissenschaftlichen Versuchsanordnung ist. Unter dem Motto „Ausgewachsen.&
ewachsen.“ hat das Internationale Sommerfestival Hamburg auf Kampnagel zu einem achtstündigen Marathon geladen, und uns nicht weniger versprochen, als dass wir „wirklich ernsthaft erfahren werden, wie unsere Gesellschaft sich verändern muss“. Außerdem stand im Programm etwas von Schnaps. Ob es daran liegt, oder an der Aussicht, ein komplexes, wirtschaftswissenschaftliches Thema anschaulich und womöglich unterhaltsam präsentiert zu bekommen: Gut 250 Menschen sind trotz der Hitze hier.Auf Niko Paech folgt Ulrich Brand, Professor für internationale Politik an der Universität Wien, und sowohl Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac als auch der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestags. Er will vor allem über die sozialökologische Transformation sprechen, über die Herrschaftsverhältnisse und die Frage: „Wer entscheidet?“ Brand weist auf die Gefahr hin, dass auch das konservativen Lager wachstumskritisch argumentiert, und erteilt der Idee eines grünen Kapitalismus mit Horkheimer und Adorno eine Absage: „Jeder Versuch den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur umso tiefer in den Naturzwang hinein“. Anders gesagt: der Versuch vom Öl wegzukommen führt zum Dilemma Teller oder Tank.Wir verlassen dann im Gänsemarsch den Saal, stecken uns Kopfhörer in die Ohren und erforschen die Geschichte der Kampnagel-Fabrik. Wir küssen die Wand, weil wir ins 19. Jahrhundert versetzt werden, und die Fabrik unser ein und alles ist, wir gehen vor dem Kran im Hof in die Knie und besetzen dann Faust an Faust die Lagerhalle, um für das heutige Theater zu kämpfen. Am Ende stehen wir mit einem Stein in der Hand auf der Bühne und fragen – also eigentlich nicht wir, sondern die Stimme in unserem Ohr – „Wie lässt sich das Theater des Kapitalswachstums unterbrechen“.Akademischer FlankenschutzKaffeepause. Zeit, mit Ulrich Brand darüber zu sprechen, warum er zu Veranstaltungen wie dieser geht. Den eigenen Horizont könne er hier erweitern, sagt der Politikwissenschaftler, und dann ginge er viel lieber zu solchen Veranstaltungen als zum hundertsten Attac-Kongress, weil er hier ein ganz anderes Publikum erreiche. Was genau dieses Publikum ausmacht, kann der 45-Jährige nicht sagen – und wie soll er das auch, wenn die jüngsten hier pink-gestreifte Jersey-Kleider tragen und der vielleicht noch nicht einmal älteste Besucher am Stock geht. Aber dass es sich unterscheidet, kann er ganz einfach daran festmachen: er kennt es nicht. Selbst beim Kirchentag vor zwei Jahren in München, sagt Brand, seien nach seiner Veranstaltung 15 Personen gekommen um Hallo zu sagen, aber hier sei ihm von 250 Leuten nur einer bekannt.Wie breit das Interesse an seinen Themen ist, lässt sich gut am Terminkalender der Seite postwachstum.de ablesen, zu deren Autoren auch Brand zählt: Auf Kampnagel folgen die Sommerakademie der Vereinigung für Ökologische Naturforschung im Naturfreundehaus Berlin-Lichterfelde, die Konferenz „Green Economy – Ein neues Wirtschaftswunder?“ unter Ägide des Bildungs- und des Umweltministeriums, die dritte Degrowth-Konferenz in Venedig in Zusammenarbeit mit der dortigen Architekturfakultät und „Anders wachsen“ in der Thomaskirche in Leipzig, wo Ulrich Brand und Niko Paech im Anschluss an einen Gottesdienst mit Margot Käßmann referieren werden. Brand war bei der Werkleitz-Biennale und hat aktuell eine Anfrage vom Medienzentrum Brut in Wien. „Ein anderes Wohlstandsverhältnis“, sagt er, „muss in allen Bereichen entstehen“. Vor allem in den Ministerien und Institutionen nutze er gerne sein Renomée als Professor, um etwas aufzubrechen: „Ich bin nicht Lametta“.Im Saal beginnt die erste Performance-Lecture. Armin Chodzinski setzt ebenfalls auf akademischen Flankenschutz und lässt den Ökonomen David L. Meadows auf einer Leinwand neben sich erklären, wie peinlich es wäre, wenn Kinder nach der Pubertät immer weiter wüchsen, anstatt klüger und reifer zu werden. Chodzinski selbst singt: „Was machen die Geschäfte, was macht die Kunst?“ und schwenkt die Flagge der Freiheit, während der Milton-Friedman-Chor auf der Leinwand ein Hohelied auf die Privatisierung singt. Draußen gründet sodann der Wiener Performance-Künstler Julius Deutschbauer in Unterwäsche der Marke Bruni Banani – ehemals VEB Trikotex – mit dem Motto „Kürzer immer, länger nimmer“ die Partei der Institutionalisierten Kürzungen.Unterdessen ist es Abend geworden, im Garten hinter der Fabrik wird an langen Tischen Bulgur mit roter Beete und Kartoffeln mit Sojageschnetzeltem gegessen. Zeit, auch die Tischnachnachbarn zu fragen: Warum sind sie hier? Eine Frau erhofft sich etwas „für den Kopf und die Seele“. Eine andere ist wegen Peter Licht gekommen, der später singt, findet nun aber alles interessant. Der dritte am Tisch geht regelmäßig zu Vorträgen, wie jenen von Paech und Brand, der andere Rahmen, sagt er, sei anregend. Alle glauben, hier etwas zu lernen. Sind Kulturveranstaltungen wie diese also die neue Volkshochschule? Als etwa im Juni und Juli in Berlin das Guggenheim Lab – gesponsort von BMW – Vorträge zu Themen wie Stadtplanung, Glücksforschung und Kognitionspsychologie anbot, waren auch diese allabendlich gut besucht. Während die traditionelle Volkshochschule längst nicht mehr nur Fremdsprachen- sondern auch Yogakurse im Programm hat, bieten Veranstaltungen wie diese Weiterbildung in einem klassischeren Sinne an: Zur Mehrung des kulturellen Kapitals.Wissenschaftlich-künstlerische Kongresse erweisen sich im Rahmen der Miko-Umfrage jedenfalls als Trend: Zwei der Befragten sind hier, um sich inspirieren zu lassen. Sie arbeitet für eine Umweltstiftung, die Niko Paech in der Vergangenheit bereits als Redner buchte, und will wissen, ob Künstler auch etwas für ihre Veranstaltungen sind. Er ist an einem Geschichtskongresses in Polen beteiligt, zu dem Künstler und Akademiker eingeladen sind, und will sich ansehen wie das hier funktioniert.Fanfarenstöße kündigen die nächste Runde an. „Let‘s Make Money“ heißt der Beitrag von Sibylle Peters, die auf einem Tennishochsitz in einem Bilderrahmen sitzend über die Zukunft von Alternativwährungen spricht, während unten sechs Zuschauer auf mit goldenem Stoff bezogen Bürostühlen auf Textfelder rutschen, um Zustimmung, Ablehnung und Unverständnis gegenüber dem auszudrücken, was sie prognostiziert. Als sie abschließend fragt: „Halten Sie es für möglich, dass wir 2019 bei „Let‘s make money“ nicht mehr ans Profitmachen denken, sondern an eine Kunstform?“, da denkt man auch ohne goldenen Stuhl unter dem Hintern „Einspruch“, und dass der einzig aufregende künstlerische Beitrag zum Thema Geld womöglich der von The KLF bleiben wird, die 1994 eine Million Pfund verbrannten (was sie heute schwer bereuen). Und so keimt der Gedanke, ob Kunst nicht etwas mehr wollen muss, wenn sie in einem solchen Diskurs mitmischt. Ob sie nicht vielleicht sogar weh tun muss oder zumindest etwas mehr irritieren, als eine Parteigründung in Unterhose. Ist der Protest von Pussy Riot nicht vor allem deshalb erfolgreich, weil er viele Mitbürger ernsthaft verstört?Radikal werdenJohn Jordan, der mit seinem „Laboratory of Insurrectionary Imagination“ während des Sommerfestivals auf Kampnagel ist, kennt sich in solchen Fragen aus. 2010 lud ihn die Tate nach London ein, um einen Workshop zum Thema „Disobedience“ zu leiten. Kurz vor Beginn wurden per Mail Aktionen gegen das Museum oder seine Sponsoren untersagt. Die Bilder der Vermummten, die vor dem Museum Zuckerrübensirup aus BP-Ölfässern kippten, waren dann auch in deutschen Zeitungen zu sehen. Jordan räumt unumwunden ein, dass sie die Aufmerksamkeit bekommen haben, weil sie bereit waren, das Gesetz zu brechen. Nichts gegen den Entwurf von Alternativen, sagt er, aber die Kunst vergesse darüber oft den Widerstand gegen die schlechte Gegenwart. Kunst, die sich gegenständlich mit politischen Themen befasst, bringe gar nichts. Nein, John Jordan möchte sie in eine viel radikalere Pflicht nehmen. Wer, wenn nicht die Kunst könne den sozialen Wandel so attraktiv machen wie den Kapitalismus selbst? Man unterschätze dessen Anziehungskraft nicht. Wie hindert man also die Künstler daran, dass sie oft „als sehr billige, sehr gute Laboranten den Unternehmen Ideen liefern“, wie Jordan eingesteht? Der Kurs, der diese Frage schlüssig beantworten kann, braucht sich um Teilnehmer nicht zu sorgen.
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