Beginnen wir im Wald. Es ist ein sonniger Tag, in der Luft schimmern kleine Insekten und der Blütenstaub, der von den Bäumen weht. Farne leuchten im Unterholz, und natürlich ist das, was wir da sehen, zu schön, um wahr zu sein. Es ist ein kompletter Fake, ein Werk des belgischen Künstlers David Claerbout, der den Wald am Computer erschaffen und mit computergenerierter Entspannungsmusik unterlegt hat. Travel, wie sein wandgroßes Video heißt, ist ein guter Einstieg in das diesjährige Berliner Gallery Weekend.
Mit 50 teilnehmenden Galerien ist es in seinem zehnten Jahr zu einer echten Großschau angewachsen. Wenn man den Ehrgeiz hat, möglichst viel sehen zu wollen, verliert man schnell den Überblick. Aber es gibt Trends, die sich abzeichnen
die sich abzeichnen, und einer davon ist ein digitales Grundrauschen: Die Werkzeuge und der Bildfundus des Internetzeitalters sind aus der zeitgenössischen Kunstproduktion nicht mehr wegzudenken. Im vergangenen Herbst gab es dazu im Fridericianum in Kassel eine erste Ausstellung mit dem Titel Speculations on Anonymous Materials. Sie zeigte vor allem Werke junger Künstler, sogenannter Digital Natives, die in den Achtzigern und später geboren sind. David Claerbout ist Jahrgang 1969, auf seine Videos, die zum Gallery Weekend in der Johnen Galerie in Berlin-Mitte zu sehen sind, passt der Slogan aber ebenso gut. Oil workers (from the Shell company of Nigeria) basiert auf einem Foto aus dem Internet: Shell-Arbeiter warten im Regen unter einer Brücke, einige sitzen abfahrbereit auf ihren Scootern im schlickigen Wasser. Claerbout hat die Szene mit Statisten nachgestellt und abgefilmt, sie stehen eingefroren da, während Wasser und Öl vorbeitreiben. So entsteht ein seltsamer 3D-Effekt, als habe Claerbout die Oberfläche des Bildes durchstoßen und wieder nur ein Bild gefunden.Wesentlich handfester erscheinen da die bunten, vielarmigen Leuchter der kalifornischen Künstlerin Pae White in der Galerie Neugerriemschneider. Eigentlich sind sie aber auch eine Multi-Media-Arbeit: Die Formen hat ein Computerprogramm per Zufallsgenerator vorgegeben; gefertigt und angemalt wurden die Leuchter aus Kupferrohr dann von Hand. Verkehrte Welt also: Die kreative Arbeit wird der Maschine überlassen, der Mensch übernimmt die Fertigung. Und noch etwas von Pae White liegt auf dem schweren Tisch im Nebenraum, Galerist Burkhard Riemschneider will es ungern als Werk bezeichnen: Drei leinengebundene Bücher, bronze-, silber- und goldfarben, auf deren Einband die Titel Are you at your Computer? Volume I-III eingeprägt sind. Sie enthalten die Chatprotokolle einer Unterhaltung zwischen Pae White und ihrem Assistenten, die zwischen dem 29. Dezember 2013 und dem 18. April 2014 geführt wurde. Auch Fotos der Leuchter im Aufbau sind darin zu sehen, die hin- und hergeschickt wurden. Es ist eine typische Netzkonversation, bei der die Frage, ob es Krieg in der Ukraine geben könnte gleichberechtigt neben der Frage steht, wie viel Trinkgeld man dem Mann vom Lieferservice geben sollte, der mit einem Abendessen für 18,00 Dollar vor der Tür steht (2,70 Dollar). Und um ein drittes Beispiel zu nennen: Bei Contemporary Fine Arts sind Bilder des New Yorkers Borden Capalino zu sehen, auf die wiederum Bilder von Dingen aufgebügelt sind, die über das Kleinanzeigenportal craigslist.org verkauft werden. Nicht das kuriose Zeug, für das Craigslist bekannt ist, sondern ganz banale Sachen wie ein Tisch. So wie das Internet Alltagsmedium geworden ist, scheint auch der Alltag im Internet interessanter für die Kunst geworden zu sein als seine Ränder.Bevor nun wieder einer Biedermeier sagt: Es gab auf diesem zehnten. Berliner Gallery Weekend auch Kunst zu sehen, die am Rande des Wahnsinns balancierte. Am Freitagabend zum Beispiel trat in der Galerie von Isabella Bortolozzi am Schöneberger Ufer der Künstler und Transgender-Aktivist Wu Tsang mit der Performance-Künstlerin Boychild auf. Wu Tsang stieg in einen Umhang aus Leuchtdioden und gab Stichworte vor, während Boychild, eine muskulöse Frau mit bildhübschem, kindlichem Gesicht und vielen Tattoos mit ihrem ganzen Körper verschiedene Erregungszustände performte. Sie sprühte sich währenddessen mit Glitzerspray ein und kippte sich im Kunstlicht leuchtende rote Flüssigkeit in die Augen, die durch den Mund wieder herauslief, der Trash-Faktor ist nicht zu leugnen, aber gleichzeitig war das alles nicht von dieser Welt. „Irre, aber geil“, wie eine Anwesende später sagte, trifft es jedenfalls nur halb.Herrlich irre war zweifelsohne aber, was am selben Nachmittag im Hermann-Wolff-Saal der Philharmonie geschah. Auf Einladung der Londoner Lisson-Galerie hämmerte dort ein junger Mann in einem schwarzen Smoking eine geschlagene Stunde lang Akkordfolgen in die Tasten eines Korg-Pianos, die an Raves aus den Achtzigern und Neunzigern erinnerten. Auch solche Veranstaltungen jenseits des offiziellen Programms gehören fest zum Gallery Weekend. Und natürlich ist Dances for the Electric Piano irgendwie auch ein Multimedia-Kunstwerk, denkt man doch die Maschine, die all das ohne jede Anstrengung repetieren könnte, automatisch mit. Allein, wenn der Mensch ins Spiel kommt, wird es ungleich unkalkulierbarer. Menschlicher eben. Große Kunst.