Mehr Zuckerbrot als Peitsche

Beitritt Nicht nur Kritik, auch Lob erntet die Türkei im neuesten Fortschrittsbericht der EU. Es stellt sich die Frage: Wer braucht eigentlich wen?
Jüngst gab es Lob und Tadel aus Brüssel. Doch will Erdoğan mit der Türkei überhaupt noch der EU beitreten?
Jüngst gab es Lob und Tadel aus Brüssel. Doch will Erdoğan mit der Türkei überhaupt noch der EU beitreten?

Foto: Adem Altan/AFP/Getty Images

Ganz verblichen sind die Bilder der Proteste vom Gezi-Park noch nicht. Die verstörenden Szenen mitten aus Istanbul, bei denen friedliche Demonstranten von Wasserwerfern und Tränengaspatronen niedergestreckt wurden. Bei denen Menschen durch enge Gassen flüchten, verfolgt von Polizisten in Schutzmontur, die Knüppel gezückt. Tausende Bürger gingen diesen Sommer wegen eines Bauprojekts und der Regierung Erdoğan auf die Straßen, der türkische Staat antwortete mit Brutalität.

Noch vor wenigen Monaten war die Reaktion der Europäischen Union einhellig: Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton zeigte sich schockiert angesichts der „exzessiven Gewalt“. Andere europäische Politiker blickten besorgt in Richtung Türkei und drohten mit einem Abbruch der Beitrittsverhandlungen. Doch mittlerweile zögert die EU mit einer klaren Positionierung. In ihrem aktuellen Fortschrittsbericht zur Türkei kritisiert sie zwar weiterhin das Vorgehen der Sicherheitskräfte und die restriktiven Maßnahmen gegen Demonstrationen. Aber sie lobt auch – in einigen Teilen die Regierung, in anderen die Zivilgesellschaft. Gerade die sei gestärkt aus den Protesten gegangen.

Kein Ende der Proteste

Es ist der erste Bericht nach den heftigsten Ausschreitungen rund um den Gezi-Park. Aber die sind noch lange nicht vorbei. Immer wieder flammen Proteste in türkischen Städten auf; sie richten sich grundsätzlich gegen Ministerpräsidenten Erdogan, gegen eine fortschreitende Islamisierung der Nation. Istanbul ist nicht mehr einziger Kern der Entrüstung; quer durch Anatolien bis an die syrische Grenze zieht sich die Welle.

Die europäische Politik will gerade jetzt die Türkei nicht sich selbst überlassen. Es ist Kalkül. Nach Jahren, in denen die Verhandlungen festgefahren schienen, öffnen sich neue Perspektiven: Mit einer starken Zivilgesellschaft im Rücken sind Reformbemühungen im Sinne Brüssels einfacher umzusetzen. Zudem hat Recep Tayyip Erdoğan Ende September sein Demokratiepaket verkündet, das, zur Freude der EU-Kommissare, die Rechte der kurdischen Minderheit stärkt und das Kopftuchverbot an Universitäten aufhebt.

Die Diplomatie zwingt Europa, Lob und Tadel genau abzuwägen. Eine überzogene Kritik würde erstens eine Zustimmung zu intensiveren Beitrittsverhandlungen unglaubwürdig machen. Wieso sollten Gespräche mit einem Staat fortgesetzt werden, dessen Regierung als undemokratisch dargestellt wird? Und zweitens würde es das Klima zwischen Brüssel und Ankara nachhaltig vergiften. Weder Erdoğan noch eine Mehrheit der Bevölkerung drängen gerade vehement in Richtung Europa. Sondern Europa drängt in Richtung Türkei. Der EU-Beitrittskandidat steht für eine starke Wirtschaft und gilt immer noch als Brücke in den Nahen Osten und zu den nordafrikanischen Ländern. Seit Jahren ist zu beobachten, dass Brüssel die Tür zum Beitritt der Türkei konsequent offen hält.

Will Erdoğan sich unterordnen?

Erdoğan sitzt derweil selbstgefällig auf seinem Thron in Ankara. Er hat seinen Posten gesichert und Stück für Stück die wichtigsten Institutionen für sich gewonnen. Das Militär, lange Zeit gefährlichster Gegenspieler der Regierenden, ist unter seinen Fittichen. Die Justiz ist ihm oft wohlgesinnt, die größte Oppositionspartei CHP zu schwach. Und die Presse? Zu weiten Teilen staatlich kontrolliert. Das bleibt nicht unbemerkt. Die EU schreibt in ihrem Bericht: „Die Mainstream-Medien berichteten kaum über die Gezi-Proteste Anfang Juni. Kolumnisten und Journalisten wurden entlassen oder zur Kündigung gezwungen, nachdem sie die Regierung kritisierten. Die Folge: Die Freiheit der Medien bleibt praktisch eingeschränkt.“

Die einzige Gefahr für Erdoğan bleibt die Zivilgesellschaft. Diese sollte weiterhin Unterstützung und Rückhalt bekommen, auch auf internationaler Ebene. Sie ist derzeit das einzige Korrektiv der Regierung Erdoğan. Die EU ermutigt mit ihrem Bericht die Zivilgesellschaft. Doch Brüssel muss vorsichtig agieren, um sich nicht in der ganzen Diplomatie zu verstricken. Sie hat am Ende mehr zu verlieren als die Türkei: Die Staatengemeinschaft Europa ist nicht mehr der angesagteste Club der Welt. Internationale Allianzen haben sich in den letzten Jahren immer wieder geändert. Außerdem müsste Ankara bei einer Mitgliedschaft Kompetenzen abgeben und sich in einigen Punkten unterordnen. Wenn Europa mit einer Stimme spricht, dann in ruhiger Tonlage. Erdoğans Aussagen sind meist rauer. Mitglied der EU zu sein bedeute, teils bedächtiger zu handeln. Will er das wirklich?

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