Der seltsame Fall des Filmes "Boyhood"

Berlinale "Boyhood" wird heute Abend den Goldenen Bären gewinnen. Woher ich das weiß? Weil Menschen berechenbar sind, und das (hier ausnahmsweise einmal) im positiven Sinne!

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Richard Linklater, Drehbuchautor und Regisseur des Films "Boyhood"
Richard Linklater, Drehbuchautor und Regisseur des Films "Boyhood"

Foto: Clemens Bilan / Getty Images

Weil sich schlichtweg niemand dem magischen Sog entziehen kann, den dieser sonderbare, einzigartig-allgemeingültige Film in seinen 164 Minuten Spielzeit entfaltet.

Deshalb lohnt es sich auch, den vielen euphorischen Lobeshymnen noch eine kleine eigene hinzuzufügen.

Ich will mich dabei, wie immer, auf eine bestimmte Szene konzentrieren. Sie spielt ungefähr 15 Minuten vor dem Ende des Films. Zu diesem Zeitpunkt haben wir Mason bereits 12 Jahre begleitet: Von der ersten Klasse bis zur zwölften – in einer losen Abfolge großartig gespielter, humorvoll geschriebener und einfallsreich inszenierter Szenen.

Jetzt hält Mason gerade einen Bescheid seiner zukünftigen Universität in den Händen. Er erzählt seiner Mutter, dass er vorab 20 Fragen beantworten musste, damit die UT Austin daraus seinen idealen Zimmerkollegen ermitteln konnte. Durch dieses computergestützte Verfahren gelang es anscheinend, die Zufriedenheitsquote der Studenten mit ihrem Mitbewohner von 60% auf 100% zu erhöhen. Mason findet das ein bisschen verstörend: Ist der Mensch wirklich so berechenbar? Gibt es wirklich nur 7-10 Charaktertypen, die man anhand von 20 Fragen ermitteln kann? Ist ein menschliches Leben vielleicht doch nicht so individuell und einzigartig, wie wir uns einreden?

Man könnte eine ganz ähnliche Frage auch an Boyhood als Film stellen: Wie gelingt es ihm, trotz all der Gemeinplätze, die er in den 12 Jahren aus Masons Leben abklopft, so verdammt individuell zu wirken? Warum hatte ich als Zuschauer ständig das Gefühl, hier werde nicht bloß über Masons Leben berichtet, sondern über mein eigenes – oder, universeller gesprochen, darüber, wie es sich anfühlt, in unserer heutigen Zeit aufzuwachsen.

Alle Szenen, die wir in diesem Film sehen, haben wir so oder so ähnlich bereits in anderen Filmen gesehen – oder noch schlimmer: Wir kennen sie aus den Gemeinplätzen dessen, was uns Medien über den Lebensalltag amerikanischer Mittelständler vermitteln: Die Baseball-Manie, die Harry-Potter-Manie, die Schusswaffen-Manie, Religiosität.

Zudem klappert der Film eine Menge historischer Ereignisse ab: Irakkrieg, Obamas erster Präsidentschaftswahlkampf, die blaue Welle Namens Facebook - und in der oben beschriebenen Szene auch die NSA-Affäre. Und er besteht, in all seiner Freiheit von konventionellen Erzählmustern, zu großen Teilen aus typischen Lebensstationen eines „durchschnittlichen“ Jugendlichen: Die erste Konfrontation mit dem Tod (hier anhand eines toten Vogels im Garten), ein Campingausflug, der erste Schultag an einer neuen Schule, Familienkonflikte, das Entdecken einer eigenen Leidenschaft (hier die Photographie), die Erwartungshaltung Erwachsener, Pornografie, die erste Liebe, die erste Trennung etc.

Dennoch habe ich als Zuschauer stets das Gefühl, ich beobachte hier das Leben einer einzigartigen Familie, die sich auf ihre ganz individuelle Art durchboxt. Ich habe dieses Gefühl, weil die Szenen und Sequenzen nie auf Pathos setzen, sondern stets eine humorvolle Leichtfüßigkeit behalten.

Ähnliche „Zeitraffer“-Filme wie Der seltsame Fall des Benjamin Button oder auch The Tree of Life wirken am Ende meist nicht sehr lebensnah, sondern eher wie eine übermäßige Konstruktion. Und warum das? Weil sie sich selbst so unheimlich ernst nehmen. So bleibt trotz aller Raffinesse, die beide Filme auszeichnet, langfristig oft doch nur der hartnäckige Darstellungswille des Regisseurs im Gedächtnis, während die Protagonisten verkümmern - zu bloßen Schachfiguren, deren Laufwege von Kalkül und nicht von Gefühl bestimmt wurden.

In Boyhood jedoch reihen sich dramatische Szenen (zum Beispiel die Flucht vor einem alkoholkranken Stiefvater) an ganz Alltägliche. „Philosophische“ Fragestellungen wie die obige werden en passant angerissen, aber nicht zu Ende geführt. So hat man das Gefühl, die Figuren könnten sich stets entscheiden, den Film in eine völlig neue Richtung zu reißen – und der Film würde diesen Weg bereitwillig mitgehen, aus bloßem aufrichtigem Interesse an diesen Menschen und ihrer Geschichte.

Was also bleibt auch uns Zuschauern anderes übrig, als diesen Weg mitzugehen? Und unsere eigenen Antwort zu finden auf Masons Frage über die vermeintliche Berechenbarkeit des Menschen. Meine Antwort wäre Folgende: Jeder Mensch ist individuell und einzigartig, natürlich. Doch er durchläuft eben auch bestimmte Situationen und historische Ereignisse, die sehr vielen Menschen gemein sein. In dieser Hinsicht sind wir also berechenbar. Doch eben diese universellen Gemeinsamkeiten, sind es, die es uns überhaupt erst ermöglichen, miteinander auszukommen, einander verstehen zu können.

Genau diese Gemeinsamkeiten lassen Boyhood zu einem Erlebnis werden, das Filme nur in ihrer besten Form erschaffen können: Uns etwas über uns selbst zu erzählen – und gleichermaßen etwas über das Menschsein im Ganzen.

Dabei muss und wird die Zufriedenheitsquote mit diesem Film nicht bei 100% liegen. Aber weit über 60% durchaus.

"Boyhood" wurde innerhalb von 39 Drehtagen gedreht - allerdings verteilt auf eine Produktionszeit von 12 Jahren. Pro Jahr wurden also 3-4 Drehtage gefilmt. Das Ergebnis sind authentisch alternde Schauspieler - und eine elliptische Erzählweise.

Der bundesweite Starttermin von "Boyhood" ist meines Wissens noch nicht bekannt. Am 16.02. (Publikumstag der Berlinale) ist er vorerst zum letzen Mal zu sehen.

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Das Große im Kleinen finden. Einzelne Romanpassagen und Filmszenen durchleuchten. Twitter: @CloseViewing (Filme und Fotografie)

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