Es ist der Tod, der am Anfang dieser Geschichte steht und das Leben eines jungen Revoluzzers aushauchte, der gerade an einem Streik von Zuckermühlenarbeitern teilnahm, als ihn eine von den Ordnungshütern abgefeuerte Kugel in den Kopf traf, in die Knie sinken und dann rücklings zu Boden gleiten ließ. Die schönen Augen des Arbeiters waren noch leicht geöffnet, als Mexikos bald größter Fotograf Manuel Álvarez Bravo sich ihm näherte, um eine einzige Aufnahme von ihm zu machen. Die legendäre Aufnahme lässt offen, ob er noch lebte.
Es war dieser Schwebezustand zwischen Leben und Tod, der auch wie eine Kugel den Zeitgeist traf und Álvarez Bravo schlagartig berühmt machte. Das Foto spiegelt den Seelenzustand Mexikos Anfang der dr
ang der dreißiger Jahre wider, die Erschöpfung der Menschen nach der Revolution, auf die nun die Moderne folgte, von der man noch nicht sicher sein konnte, was sie bringt. Es waren die Künstler des Landes, die mit der Unterstützung des neuen Präsidenten Mexiko eine Identität einzuhauchen suchten. An ihrer Spitze stand Diego Rivera, der mit seinen Tafelbildern den Menschen die Reichhaltigkeit ihrer Kultur vor Augen führte, die sie im Zuge jahrhundertelanger Kolonialherrschaft vergessen hatten.Die Abbildung des jungen Revoluzzers war einer der ersten großen Steine im Mosaik bildlicher Poesie, die Manuel Álvarez Bravo in den kommenden Jahren seines hundertjährigen Lebens zusammentragen sollte. Ihm folgten Aufnahmen von den entstehenden Industrien, die er im Geiste der Kubisten in formstrenger Schlichtheit darstellte — ein Gegenpol zu den vielen, von der pittoresken Schönheit des Landes um ihre Sinne beraubten ausländischen Fotografen wie Hugo Brehme oder Edward Weston. Álvarez Bravo reiste nicht wie Henri Cartier-Bresson oder Walker Evans, die in den dreißiger Jahren ihre Mexiko-Portfolios fotografierten. Er blieb in der Stadt und lichtete die Poesie des Alltags ab, das tagträumende Mädchen im Treppenhaus, die noch unbeholfene Reklame, Menschen, die eilig auf den Straßen vorbeigehen, dem immer schneller pulsierenden Herzschlag der neuen Zeit folgend. Gefördert von Diego Rivera, der in Álvarez Bravo den Fotografen sah, den das Land brauchte, um dessen Seele in eine Bildsprache zu bringen, die ihrer herben Natur, Komik und ihres Sentiments entsprach, wurde er einer der bedeutendsten Fotografen Lateinamerikas.Álvarez Bravos diskrete Fotografie ähnelte der feinen Kunst, mit seinem Umfeld zu kommunizieren. Der engere Kreis seiner Schüler nannte ihn liebevoll Don Manuel. Und Don Manuel hatte stets Zeit, erinnert sich Ortiz Monasterio, der kürzlich die Aufnahmen, die er als junger Mann im Haus des Fotografen machen durfte, zu dessen zehnjährigem Todestag in Manuel Álvarez Bravo, Una tarde de 1989 veröffentlichte.Ortiz Monasterios eigene fotografische Arbeit hingegen hat etwas Atemloses, und seine Serie La Ultima Ciudad, die der heute Fünfzigjährige von seiner Heimatstadt Mexiko-Stadt machte, zeugt von dieser Getriebenheit. Die Nachmittage hingegen, die er in Don Manuels Haus verbrachte, stellten für Ortiz Monasterio einen Ruhepol dar. In seiner Erinnerung war es ein Ort, der ganz mit der Präsenz des Altfotografen und allerlei wohlarrangierten Objekten und Fetischen erfüllt war. „Er liebte Mahler, und wann immer die Diskussion oder die Planung eines der vielen Projekte, die wir gemeinsam in Angriff nahmen, sich festzufahren schien, legte er eine Platte auf, was für die kommenden zwei Stunden alles weitere Reden unmöglich machte. In diesen Jahren hatte er bereits die Weisheit eines Anfang Achtzigjährigen, und das hitzige Reden ermüdete ihn sicher, aber der stärker wiegende Grund war Don Manuels Konzept von Zeit. ‚Hay tiempo‘ stand auf einem großen Zettel geschrieben, der in seiner Dunkelkammer hing.“Gleichzeitig drängte es den jungen Fotografen, diesen Ort festzuhalten, doch der Meister versagte ihm die Bitte. Ein Jahr später kam plötzlich ein unerwarteter Anruf. „Er hatte mich zuvor noch nie angerufen. Um so erstaunter war ich, als er sagte ‚Venga, Pablo! Lass uns doch ein paar Bildchen, ein paar fotitos machen!‘ wobei er mit fotitos eine leicht ironische Verniedlichungsform benutzte.“ Erst später ging Ortiz Monasterios auf, dass Don Manuel eine ganz andere Absicht verfolgte hatte. Álvarez Bravo hatte in seiner Karriere eine Menge dieser Aktporträts gemacht, das berühmteste ist wohl die 1939 entstandene Aufnahme der Frau, die in seinem Garten mit entblößtem, teils bandagiertem Körper liegt, ein Foto für Henri Cartier-Bresson und dessen Surrealistenausstellung in Mexiko.Über die Jahre hatte er aber auch eine beträchtliche Anzahl an geheimen Aktfotografien gesammelt. Viele der Frauen hatten der Kunst zuliebe eingewilligt. Da stand also die kleine Schachtel an diesem Nachmittag wie zufällig auf dem Arbeitstisch, und Álvarez Bravos Idee war es nun, die Existenz dieser unveröffentlichbaren Bilder preiszugeben. „Also fotografierte ich bereitwillig Don Manuels ‚fotitos secretos‘.“ Doch sobald die geheimen Bilder im Kasten waren, sagte Álvarez Bravo, dass es nun genug sei, und so musste Ortiz Monasterio enttäuscht seine Kamera wieder einpacken. 23 Jahre lagen die Bilder dieses Nachmittages, liebevoll eingefangene Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die einen sehr intimen Einblick in die intime Welt des Fotografen gestatten, unangetastet in seinem Ortiz Monasterio Archiv. Auch Don Manuel kam nie wieder auf die Bilder zu sprechen. Vielleicht ahnte Álvarez Bravo auch, dass der eifrige Freund sich eines Tages an die Bilder erinnern würde. „Die Lektion, die mir Don Manuel an diesem Nachmittag verpasste, begriff ich erst 20 Jahre später. Um gute Fotos machen zu können, muss man zunächst lernen zu schauen (...). Die guten Bilder entstehen zunächst im Kopf, und es bedarf in der Regel nur eines einzigen Schusses, dieses Bild einzufangen. Und für diesen Moment gibt es Zeit – hay tiempo.“
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