Das Thomas-Evangelium: antik linksalternativ? - Teil 2

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"Wahrheit", fragt der Mensch, "was ist das?"

"Wahrheit", antwortet die Schlange, "das ist die Welt."
"Wahrheit", antwortet die Taube, "das ist Gott."
"Wahrheit", antwortet die Katze, "das bin ich."

In der Bibel - Johannes 18,37-38a - heißt es:

"Da fragte Pilatus ihn: »Du bist also doch ein König?«
Jesus antwortete: »Ja, ich bin ein König. Ich wurde geboren und bin in die Welt gekommen, um die Wahrheit offenbar zu machen und als Zeuge für sie einzutreten. Wem es um die Wahrheit geht, der hört auf mich.«
»Wahrheit«, meinte Pilatus, »was ist das?«"

Schon wer nur im Neuen Testament liest, der wird nicht umhinkommen, Unterschiede in den Darstellungen festzustellen. Auch solche, die sich beißen. Dabei ist die Bibel eine kanonische Zusammenstellung redaktionell ausgewählter Schriften. Es gibt noch mehr Schriften. Viele sind leider verlorengegangen, und auch verlorengegangen worden.

Wie heißt es am Schluss des Johannes-Evangeliums - 21,25 - so schön: "Es gibt noch vieles andere, was Jesus gesagt hat. Wenn alles einzeln aufgeschrieben würde - ich denke, die ganze Welt könnte die Bücher nicht fassen, die dann geschrieben werden müssten."

Johannes hat unsere heutige informationstechnologische Welt mit ihrer wahren Flut von Geschriebenem nicht gekannt. Überhaupt trennen uns die Zeiten. Wer von den heute Interessierten hätte nicht gern einmal mit den damaligen Leuten diskutiert? Insbesondere mit Jeschua. Gäbe es Zeitmaschinen, wer täte da nicht gern zurückreisen und alles aufschreiben, was Jeschua gesagt hat?

Genug abgeschweift. Konzentrieren wir uns auf das, was überliefert worden ist, speziell auf das Thomas-Evangelium. Könige und Wahrheit.

Im Logion 78 heißt es: »Jesus sprach: Warum seid ihr ausgezogen auf das Feld? Um ein Schilfrohr im Winde schwanken zu sehen? Und um einen Menschen zu sehen, der weiche Kleider an hat? Seht eure Könige und Vornehmen, diese haben weiche Kleider an, und sie können die Wahrheit nicht erkennen.«

Auch wenn die Mächtigen bei uns nicht mehr Könige heißen, so haben sie und die Vermögenden offensichtlich eine andere Weltsicht. Jeschua jedoch ist ein König anderer Art, wie auch die vier biblischen Evangelien berichten. Jeschua ist auch selbstbewusst, was im Johannes-Evangelium stärker als in den drei synoptischen Evangelien - die von Markus, Matthäus und Lukas - zum Vorschein tritt. Am stärksten jedoch im Thomas-Evangelium.

Im Logion 77 heißt es: »Jesus sprach: Ich bin das Licht, das über allen ist. Ich bin das All; das All ist aus mir hervorgegangen, und das All ist zu mir gelangt. Spaltet das Holz, ich bin da. Hebt einen Stein auf, und ihr werdet mich dort finden.«

Jeschua leitet aber auch die Menschen zu einem großen Selbstbewusstsein an. Um die Spannung für die Thomas-Interessierten nicht kaputtzumachen, verrate ich jedoch nicht das Logion, wo die wahrscheinliche Antwort auf die Frage im folgenden Logion steht.

Im Logion 13 heißt es: »... Was hat dir Jesus gesagt? Thomas sprach zu ihnen: Wenn ich euch eines der Worte sage, die er mir gesagt hat, werdet ihr Steine nehmen und sie gegen mich werfen, und ein Feuer wird aus den Steinen hervorkommen und euch verbrennen.«

Auch die Menschen können nach dem Thomas-Evangelium Könige anderer Art sein. Das Ziel ist nicht weniger, als König über das All zu sein, wie es im Logion 2 so schön heißt. Dagegen sind die Sozialisten und die Kommunisten mit dem Ziel der Weltherrschaft vergleichsweise bescheiden.

Zurück zum Ernst der irdischen Lebenswelt: Es gibt auch heutzutage noch Ablehnung dem Thomas-Evangelium gegenüber. Zum Glück wird man nicht mehr wie ehemals gesteinigt oder verbrannt, wenn man von den Kirchen-Dogmen abweicht. Wer das Thomas-Evangelium liest, der kann sich gut vorstellen, warum es in Ungnade gefallen ist. Es zeichnet ein anderes Bild als die kanonischen Schriften, es redet Tacheles, es kritisiert die irdisch Herrschenden deutlich und leitet gerade die irdisch unbedeutenden Menschen an, sich ihrer Fähigkeiten eigenständig bewusst zu werden. Dabei zeigt es großen Respekt vor Gott, vor Jeschua und vor den Menschen. Antik linksalternativ halt.

Im Logion 100 heißt es: »Sie zeigten Jesus ein Goldstück und sagten zu ihm: Die Leute des Kaisers verlangen von uns Steuern. Er sprach zu ihnen: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und gebt Gott, was Gottes ist. Und was mein ist, das gebt mir.«

"Wahrheit", erkennt der Mensch, "das sind ich, Gott und die Welt!"

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Geschrieben von

Red Bavarian

Die Vergangenheit analysieren, die Gegenwart gestalten, die Zukunft erdenken.

Red Bavarian

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