Kalt wirkt Raum 004 und wenig einladend. Sechs Neonröhren strahlen ein ungemütliches Licht aus, und die uralten Rollläden lassen sich nicht richtig öffnen. Viel können auch die Plakate an den Wänden nicht ausrichten in dieser Tristesse, trotz der bunten Farben. Deutschlandkarte und Verbtabellen erinnern daran, wo man sich hier befindet: in einem Gebäude der Volkshochschule in Berlin-Neukölln. Hier finden Integrationskurse statt. Dass Integration längst zum Regierungsauftrag geworden ist, sieht man den Unterrichtsräumen zumindest nicht an. Von den zwei Euro pro Teilnehmer und Stunde, die Kursträger vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erhalten, bleibt neben den Honoraren für die Kursleiter wenig übrig.
Hussein,
Hussein, Jameer, Lucy und zehn andere besuchen hier jeden Montag und Mittwoch einen Integrationskurs. Abgesehen von ihrer nichtdeutschen Herkunft haben sie kaum etwas gemeinsam. Die jüngste Teilnehmerin ist 23, der älteste über 50 Jahre alt. Sie kommen aus England, dem Libanon, China oder Italien. In Deutschland sind einige seit Jahren, andere erst seit wenigen Monaten.Aus Hussein bricht ein ganzer Wortschwall hervor, als Dozentin Veronika P. nach seinen Erfahrungen mit den Nachbarn fragt. Nachbarschaft ist heute Unterrichtsthema. Der Junge von nebenan habe wochenlang seine Post geklaut, erzählt der Mann entrüstet. Erst seit er gedroht habe, dem Kind die Finger zu brechen, kämen die Briefe wieder an. „Das ist ein sehr spezielles Problem“, findet die Lehrerin, die lieber von positiven Kontakten zu den deutschen Nachbarn hören will und schnell einen anderen Teilnehmer befragt.Authentische Dialoge, deutsche TugendenDenn das Ziel der Integrationskurse, erzählt sie später, sei nicht nur die Verbesserung der Sprachkenntnisse, sondern auch die Vermittlung von kulturellem Wissen. Körperstrafen für Nachbarskinder sind dabei nicht vorgesehen, stattdessen geht es in der aktuellen Lektion um Mülltrennung. „Bei uns muss man den Müll trennen“, liest ein chinesischer Teilnehmer vor. „Altpapier kommt in den Container.“ Dieser „authentische“ Dialog wird im Lehrbuch zwischen einem deutschen Gemüsehändler und seinem lernwilligen ukrainischen Nachbarn geführt. Gelebte Nachbarschaft als Integrationskonzept, so will es das Deutschbuch. Und vermittelt ganz nebenbei vermeintlich deutsche Tugenden wie das ökologische Bewusstsein.Seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes Anfang 2005 sind Neuzuwanderer verpflichtet, an einem Integrationskurs teilzunehmen und die anschließende Prüfung abzulegen. Auch einige „Bestandsausländer“, so heißen schon länger hier lebende Migranten offiziell, können verpflichtet werden – etwa wenn sie Transferleistungen beziehen, denn mangelnde Sprachkenntnisse gelten als Vermittlungshindernis. Bis zum Niveau B1, der „selbstständigen Sprachverwendung“, führen die Kurse in insgesamt 600 Stunden. Inhaltlich vermitteln sie vor allem den praktischen Sprachgebrauch: Einkaufen, Arztbesuche, Kontakte mit Ämtern – und eben Mülltrennung. Das Bundesamt für Integration und Flüchtlinge, das die Kurse organisiert, begründet diese Ausrichtung so: „Wer als ausländischer Mitbürger in Deutschland leben möchte, sollte Deutsch sprechen. Das ist wichtig, um Arbeit zu finden, Anträge ausfüllen zu können oder einfach nur neue Menschen kennen zu lernen.“ Themen wie Geschichte und das politische System Deutschlands werden deshalb gleich ganz ausgelagert – sie sind Inhalt des so genannten Orientierungskurses, der an den Integrationskurs anschließt. Um Auswendiglernen von Fakten geht es da, nicht um die Auseinandersetzung mit internationalen Zusammenhängen oder gar Kritik an der deutschen Politik.Sprache als BrückeMarzia Pistolesi aus Italien hält das Konzept der Bundesregierung, Neuzuwanderer zum Deutschlernen zu verpflichten, für richtig. „Sprache ist keine Option. Sie ist die Brücke zur Kultur und zu anderen Menschen, die in Deutschland leben“, sagt sie.Die Fundraiserin ist auf der Suche nach einem interessanten Job nach Berlin gekommen. Mobilität ist für sie selbstverständlich – bislang hat die 32-Jährige in Kopenhagen, in den USA und in Istanbul gelebt. Ihr Interesse an Deutschland wurde durch die Erzählungen ihres Großvaters geweckt, der die Erinnerung an seine Kriegsgefangenschaft mit der Enkelin teilte. „Ich wollte meine Vorurteile widerlegen“, sagt Pistolesi, „und das geht am besten über das Erlernen einer Sprache.“ Wer in seiner „Blase“ bleibe, werde nie am kulturellen Leben des Landes teilhaben, meint sie.Die Zahlen belegen: Sehr viele Zuwanderer lernen freiwillig Deutsch. Auch in Raum 004 sitzen verpflichtete und freiwillige Teilnehmer. Diese Zusammensetzung könnte sich bald ändern. Den Volkshochschulen fehlen 30 Millionen Euro, ohne das Geld werden in Zukunft nicht mehr ausreichend Plätze für alle Interessenten zu Verfügung stehen. Schon 2010 haben sich viele vergeblich um einen Kursplatz bemüht. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer, hat unlängst zwar erklärt, ab Anfang 2011 sei der Besuch eines Kurses „wieder ohne Wartezeit möglich“. Doch vor Ort sieht die Lage oft anders aus.Nicht nur deshalb kritisiert die Kampagne „Integration nein danke“ die Einwanderungspolitik der Regierung. Diese gehe an den eigentlichen Problemen vorbei, sagt Garip Bali, der Elektrotechnik in Berlin studiert hat und als Koordinator von Sozialprojekten arbeitet. „Die Forderung zur Integration ist einseitig: Meinungsmacher fordern paternalistisch, wie Migranten zu leben haben. Lieber sollte freiwilliges Lernen unterstützt werden“, findet Bali. Wer die Möglichkeit dazu habe, lerne auch Deutsch. Und: Die Verpflichtung zum Kursbesuch lenke von den wirklichen Konfliktursachen ab. „Den Migranten werden in Deutschland immer noch gleiche Rechte verwehrt.“ Die Mehrheitsgesellschaft müsse sich bewegen, findet er. „Dass etwa Thilo Sarrazin für seine Äußerungen so viel Zuspruch erhalten hat, ist skandalös.“ Die Äußerungen des ehemaligen Berliner Finanzsenators und Bundesbank-Vorstands war Anlass für die Gründung der Kampagne.Nervende FragenAuch Amy Nye, Schauspielerin aus Neuseeland und Teilnehmerin an einem Neuköllner Integrationskurs, sieht die Bringschuld auf Seiten des Staates und nicht bei den Einwanderern. „Natürlich ist es etwas anderes, ob man als Flüchtling oder freiwillig hier ist. Für mich ist vieles einfacher.“ Trotzdem empfindet sie einige Regelungen als Schikane. Dass ihr bei zwei Berliner Bankfilialen gesagt wurde, ohne Deutschkenntnisse dürfe sie kein Konto eröffnen, empfindet sie als ebenso diskriminierend wie die Tatsache, dass die Mitarbeiter der Ausländerbehörde keine Fremdsprachen sprechen. Im Deutschkurs nervt sie vor allem die ständige Frage nach „ihrem Land“ und „ihrer Kultur“. „Warum werden wir dauernd so festgelegt und sollen zugleich integriert werden?“, fragt sie. Obwohl sie inzwischen gut Deutsch spricht, bewegt sie sich weitgehend in englischsprachigen Kreisen. „Seine Kultur kann niemand einfach so ablegen“, findet die Amy Nye. „Warum soll das ein Problem sein, solange die Leute im Alltag zurechtkommen?“, fragt auch Garip Bali.Ibrahim Hussan (Name geändert) hat bisher nie an einem Integrationskurs teilgenommen. Nicht aus mangelnder Motivation. Doch als Asylbewerber hat der Sudanese keinen Anspruch auf einen Platz, und die Gebühren für einen privaten Kurs kann er nicht aufbringen. Seine inzwischen guten Sprachkenntnisse hat er bei einem soziokulturellen Projekt erworben, das Leute wie ihn umsonst unterrichtet.In Raum 004 bemüht sich die Dozentin weiterhin um Kulturvermittlung. „Hat jemand von Ihnen schon mal eine Mitteilung an seine Nachbarn geschrieben? Niemand? Dann üben wir das jetzt.“ Die Gruppe setzt aus Textbausteinen einen Brief zusammen, in dem die BewohnerInnen eines Mietshauses zu einer Party eingeladen werden. Eigene Ideen einbringen sollen sie hier nicht. Vielleicht deshalb lässt die Konzentration irgendwann nach. Sehnsüchtige Blicke gehen in den Hinterhof, aus dem Vogelgezwitscher hereindringt, Gespräche zwischen den Teilnehmer drehen sich um andere Themen als die fiktive Einladung. „Liebe Nachbarn“, das lesen und schreiben sie alle zum ersten Mal. Das Deutschland, das ihr Lehrbuch präsentiert, hat mit ihrer Realität wenig zu tun.
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