Hingeschaut Mit der Doku „Zeig mir Deine Welt“ stellte Kai Pflaume das Leben von Menschen mit Down-Syndrom vor. Und Amputierte werden heute zu Sportstars, Autisten zu IT-Experten
Autisten Die implizite Kommunikation ist ihnen fremd. Wenn sie jemand fragt, wie sie geschlafen haben, werden sie diese floskelhafte Frage völlig ohne jede Höflichkeitsformel beantworten. Autisten sagen immer die Wahrheit, sagt man. Zudem wird ihnen eine außergewöhnliche Akribie attestiert, ein hervorragendes Gedächtnis und ein überdurchschnittliches Verständnis für Zahlen und logische Abläufe insgesamt.
Über 650 Menschen mit Autismus will SAP bis 2020 zu Softwaretestern und Programmierern ausbilden. Für den Walldorfer Konzern sind Autisten die geborenen Spezialisten. Und er profitiert gleich in mehrfacher Hinsicht: Er zieht sich sicherlich nicht allzu teure Fachkräfte heran und kann die Rekrutierung auf PR-Ebene als humanitä
erung auf PR-Ebene als humanitären Akt verkaufen. Repräsentativ ist die Initiative aber nicht: Tatsächlich leben die meisten Autisten von Hartz IV, nur fünf bis sechs Prozent finden einen Platz in der Arbeitswelt. Gemessen am Ertrag nehmen sich die Bedingungen, die SAP für die neuen Mitarbeiter schaffen muss, dabei als leicht realisierbar aus: klare Vorgaben und wenig Ablenkung. Klingt nach dem idealen Umfeld für ideale Mitarbeiter. Mark StöhrDDefinitionssache Ist Schusseligkeit in Wahrheit eine „leichte kognitive Störung“ und Jähzorn eine „disruptive Launenfehlregulationsstörung“? Was ist noch gesund, was schon „gestört“? Normalität ist ein kontroverser Begriff. Und es ist immer auch eine Frage der Perspektive. Mondkalb, die „Zeitschrift für das organisierte Gebrechen“, hat dafür einmal plausible Beispiele gefunden: Ein Mathematiker etwa würde einen Tierpfleger wegen seines geringeren Mathematikwissens nicht als behindert ansehen. Und ein contergangeschädigter Mensch käme nie auf die Idee, alle Menschen um ihn herum, die nicht mit den Füßen schreiben, ein Handicap zu bescheinigen. Es gibt auch Gehörlose, die das Label „behindert“ weit von sich weisen. Für sie ist Gehörlosigkeit eine autonome Kultur mit eigener Sprache. Sie lehnen deswegen auch Implantate als Akt des „Audismus“ ab. MSAm Ende wird hier, wie auch sonst, die „Normalität“ aber von der Mehrheit definiert: Es gibt mehr Leute, die hören, als Gehörlose – also ist das „normal“.EEltern Oft liest man über die Sorge von Eltern, behinderte Kinder zu bekommen. Dass es behinderte Eltern gibt, ist dagegen nur selten Thema. In Deutschland leben etwa 390.000 Menschen mit Behinderung mit ihren Kindern unter 14 Jahren zusammen, wie vom Verein „Bundesverband behinderter und chronisch kranker Eltern“ zu erfahren ist. Dieser setzt sich für die Verwirklichung einer selbstbestimmten Elternschaft für behinderte Menschen ein.Viele dieser Eltern bedürfen einer Assistenz, die aber keinesfalls bevormundend wirken soll. Sie soll bei der Organisation helfen und in finanziellen wie pädagogischen und rechtlichen Belangen anleitend zur Seite stehen, um Eltern und Kindern ein gemeinsames Zusammenleben zu sichern. Die Unterstützung reicht vom Beistand im Alltag – etwa durch regelmäßige Besuche in den Familien – bis zu betreutem Wohnen, wo Eltern und Kinder in einer größeren Gemeinschaft aufgehoben sind. Tobias PrüwerEuphemismus-Tretmühle Als „Euphemismus-Tretmühle“ beschreiben Sprachwissenschaftler die Beobachtung, dass jeder Euphemismus irgendwann die negative Konnotation seines Vorgängerausdrucks annehmen wird, solange sich die tatsächlichen Verhältnisse nicht verändern. Man kennt das von den „Menschen mit Migrationshintergrund“ – heute mitunter schon ein Schmähbegriff. Ein anderes Beispiel: „Invalide“ wurde einmal als humanistische Ersatzformel für „Krüppel“ eingeführt, doch die Bezeichnung wurde genauso zum Schimpfwort wie später oft „Behinderter“. Es ist ein ewiger Wettlauf mit der Respektlosigkeit. Im angelsächsischen Raum wurde für Menschen mit Behinderung jahrzehntelang der Begriff „disabled“ verwendet, was man wörtlich als „entfähigt“ übersetzen kann. Eine Beleidigung. Dort versucht man es nun mit „differently-abled“, also „anders befähigt“. Doch es ist fraglich, ob diese Erfindung jemals vom Mainstream angenommen wird. Und wenn ja, ob sie sich auch mit der gewünschten Intention durchsetzt, oder einfach nur zu einer anderen Formulierung für dieselbe Diskriminierung wird. MSKKai Pflaume Manchmal träumen Schwiegermütter halt doch von dem Richtigen: Kai Pflaume, dessen Stimme bisher zu sonor, dessen Augen zu glänzend und dessen Humor zu brav erschien – der war genau der Richtige, um einem breiten Publikum die Welt der Menschen mit Down-Syndrom nahezubringen. Zeig mir Deine Welt hieß die vierteilige ARD-Dokumentation, die vielleicht etwas hektisch geschnitten war und zu oft den Star ins Bild rückte. Sei’s drum, Pflaumes Warmherzigkeit und Kenntnis waren echt. Aber was heißt da Kenntnis? Der Protagonist Tom und Kai Pflaume sitzen vor dem Computer, fragt Pflaume, ob Tom wisse, was das „Down-Syndrom ist“. „Nee“, sagt der; hätte man nicht erwartet. Und so musste der eigentlich schlagfertige Moderator dem sonst auch nicht maulfaulen Tom erklären, warum er das Chromosom 21 dreimal hat und dadurch ... Ist „echt schwierig“, hat er aber super gelöst. Bleibt mit Stefan Niggemeier zu fragen: „Warum steht einer, der so gut mit Menschen umgehen kann, bei der ARD sonst nur am Quiz-Fließband?“ Michael AngeleMMusik Die Popgeschichte wäre ohne sie ein Stück ärmer: jene Gruppen, in denen körperlich und geistig behinderte Menschen, oft gemeinsam mit Nichtbehinderten, zusammen Musik machen. Besonders bemerkenswert sind Staff Benda Bilili aus der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa. Durch Polio körperbehinderte Musiker aus ärmsten Verhältnissen fanden in dem Straßenmusiker-Projekt zusammen. Zwei französische Dokumentarfilmer begleiteten sie mehrere Jahre und erzählen in Benda Bilili! (2009) von ihrem täglichen Überlebenskampf, aber auch von der Lebensfreude und dem musikalischen Enthusiasmus. Im Zuge der Filmarbeiten bekam die Band einen Plattenvertrag und spielte bald gefeierte Konzerte.In Australien sorgt derzeit die Indie-Rock-Band Rudely Interrupted für Aufsehen. Frontmann Rory Burnside wurde blind, mit gespaltener Lippe und offenem Gaumen geboren. Er leidet am Asperger-Syndrom und hat Epilepsie. Das hält ihn und seine Bandkollegen aber nicht davon ab, großartige, eindringliche Songs zu schreiben. Sophia HoffmannNNationalsozialismus Mit behinderten Kindern und Erwachsenen begann das organisierte Töten der Nazis. Kurz vor dem Überfall auf Polen wurden die Ärzte angewiesen, zunächst Kinder mit Behinderungen zu melden. Diese wurden dann in Anstalten abtransportiert und dort umgebracht. Das Töten bekam die bürokratische Bezeichnung „Aktion T4“ nach der eigens dafür eingerichteten Behörde in der Berliner Tiergartenstraße 4 mit 300 Mitarbeitern. Die Aktion wurde nach Protesten vor allem der Kirchen 1941 offiziell beendet, ging aber dezentral weiter. Allein in Deutschland wurden 70.000 Menschen ermordet. MSSSport Die Paralympischen Spiele, Paralympics genannt, fanden das erste Mal 1948 als Sportspiele für Rollstuhlfahrer statt. Seit 1992 ist die Veranstaltung organisatorisch mit den Olympischen Spielen verbunden und wird immer drei Wochen nach diesen am selben Ort ausgetragen.Anfänglich gab es keine Übertragungen der Wettbewerbe, Aufzeichnungen waren auf untergeordnete Sendeplätze verbannt. Spätestens seit den Paralympics 2012 in London hat sich das aber grundlegend geändert. Die Zahl der teilnehmenden Athleten als auch die der Zuschauer brach alle Rekorde. 4.280 Sportler nahmen teil; 2,6 Millionen Eintrittskarten wurden verkauft, und die großen TV-Sender berichteten live. Mithilfe moderner Hightech-Prothesen und eisernem Willen gelingt es behinderten Sportlern heute, beeindruckende Rekorde aufzustellen. Gerade im Zuge der scheinbar keine Grenzen kennenden Kommerzialisierung der Olympischen Spiele empfinden viele Zuschauer diese Veranstaltung daher als authentischere Alternative. SHStofftiere „Pädagogisch wertvolles Spielzeug für Babys und Kinder“ beschreibt der Spielwarenverkäufer Imaginarium sein Programm. Dazu zählen auch Kiconico, Paconico und ihre Freunde. Die haben kleine Fehler, mal unförmige Gliedmaßen, mal Narben, um Kinder für das Andere in dieser Welt zu sensibilisieren. In der Werbung heißt es: „KicoNico ist einzigartig. Zwar ist er nicht perfekt, aber glücklich. Er hat einen Flicken, einen großen Kopf und ein Ohr ist etwas größer als das andere. Ein Blick auf ihn genügt, um sich auf die wirklich wichtigen Dinge zu besinnen.“ So soll den Kindern „emotionale Kompetenz“ für 19,95 Euro vermittelt werden. Die Kosten für inklusives Lernen dürften um einiges höher liegen, die Wirkung ist dafür aber auch nachhaltiger als die dieser gut gemeinten und gut vermarkteten Polyestertiere. TPWWortwahl Sagt man: Behinderter? Oder doch lieber: ein Mensch mit Behinderung? Handicap? Beeinträchtigung? Wer über Behinderungen reden oder schreiben will, steht schnell vor der Frage: Welcher Begriff passt? Und wie drücke ich mich aus, damit sich niemand diskriminiert fühlt? Auf leidmedien.de erhalten Journalisten und andere Interessierte Tipps zum sensiblen Umgang mit der Sprache. Ist der Unterschied zwischen „Behinderten“ und „Menschen mit Behinderung“ wirklich so groß? Angeblich ist die zweite Variante zu bevorzugen, weil sie verdeutliche, dass „eine Behinderung nicht den ganzen Menschen ausmacht“. Aha. Auf der Seite finden sich jedoch auch Beispiele, die tatsächlich unpassend sind. „Er ist an den Rollstuhl gefesselt“ – ein schräges Bild. Denn der Rollstuhl schränkt die Mobilität nicht ein, er erhöht sie vielmehr. Der leidmedien-Kommentar zu dem an den Rollstuhl gefesselten Mann: „Binden Sie ihn los!“ Felix WerdermannZZurschaustellung Das „Anormale“ wurde seit jeher zur Schau gestellt. Im Karneval traten etwa Monster auf. Durch das Bestaunen ihrer „Widernatürlichkeit“ versicherten sich die Zuschauer, selbst Zugehörige der Norm-Gemeinschaft zu sein. Und bereits in alten Hochkulturen bestand Interesse an entstellten, regelwidrigen Figuren. Da gibt es Riesen und Zweigeschlechtliche, Zwerge und Bucklige. In den frühneuzeitlichen Wunderkammern wurden Anomalien gesammelt und Herrscher hielten sich Behinderte zur Belustigung am Hof. Seit dem 17. Jahrhundert war diese Schaulust auch für die breitere Öffentlichkeit auf Jahrmärkten zugänglich. Menschen mit deformierten Körpern wurden als „Monstergeburt“ oder „Körperwunder“ von umherziehenden Ausstellern präsentiert. Tod Browning nimmt diese Lust an der Zurschaustellung 1932 in seinem Film Freaks aufs Korn, in dem sich die Abnormen gegen „normale“ Zirkusartisten auflehnen. Und Christoph Schlingensief hat 2002 mit der TV-Produktion Freakstars den nicht ausrottbaren Voyeurismus attackiert, indem er eine Quasi-Castingshow mit geistig und körperlich Behinderten gestaltete. TP
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