Abwesend anwesend

Gastkommentar Abschied vom palästinensischen Dichter Mahmoud Darwish

Einen der weisesten Aussprüche, die ich je hörte, kam von einem ägyptischen General ein paar Tage, nachdem Anwar al-Sadat Jerusalem besucht hatte. Wir waren als erste Israelis nach Kairo gekommen und wollten von diesem General wissen, wie es möglich war, dass man uns beim Oktoberkrieg 1973 derart überraschen konnte. Der General antwortete: "Statt die Berichte des Nachrichtendienstes zu lesen, hättet ihr unsere Dichter lesen sollen."

Über diese Worte dachte ich am 13. August beim Begräbnis von Mahmoud Darwish nach. Während der Trauerfeier wurde immer wieder vom "palästinensischen Nationaldichter" gesprochen, doch er war mehr als das. Er war die Verkörperung des palästinensischen Schicksals.

Darwish wuchs in Al-Birwa auf, einem Dorf an der Acco-Safed-Straße. Schon vor 900 Jahren berichtete ein persischer Reisender, dass er diesen Ort besucht habe und sich am Grab von Esau und Simeon niedergeworfen hätte. 1931, zehn Jahre vor der Geburt Mahmouds, bestand die Bevölkerung des Dorfes aus 998 Einwohnern, von denen 92 Christen waren, der Rest sunnitische Muslime.

Am 11. Juni 1948 wurden das Dorf und seine Bewohner vom jüdischen Militär erobert, seine 224 Häuser bald danach - zusammen mit denen von 650 anderen Dörfern - dem Erdboden gleich gemacht. Nur ein paar Kakteen, die einmal natürliche Zäune waren, bezeugten noch deren verlorene Existenz. Die Darwish-Familie floh mit dem siebenjährigen Mahmoud in den Libanon, konnte jedoch auf "illegale" Weise wieder zurückkehren in das nun israelische Gebiet. Ihr wurde der Status "anwesend Abwesende" gewährt - eine schlaue israelische Erfindung. Es bedeutete, sie waren legale Bewohner Israels, doch völlig besitzlos nach einem Gesetz, das jeden Araber enteignete, der nicht physisch in seinem Dorf war, als es besetzt wurde. Mahmouds Vater ließ sich mit seiner Familie im Dorf Jadaidi nieder, von wo er sein Land von weitem sehen konnte. Dort wuchs Mahmoud auf. Später begann sein berühmtes Gedicht Identitätskarte mit den explosiven Worten: "Schreib auf: ich bin Araber!"

Es war in jener Zeit, als ich ihn zum ersten Mal traf. Ich erinnere mich, dass er sagte: "Die Deutschen ermordeten sechs Millionen Juden - keine sechs Jahre später schließt ihr Frieden mit ihnen. Aber mit uns weigern sich die Juden, Frieden zu schließen." Er blieb der Dichter des Zornes und der Sehnsucht. Das waren die Saiten seiner Geige. Zorn über die Ungerechtigkeit, die man jedem einzelnen Palästinenser angetan hatte. Sehnsucht nach dem "Kaffee meiner Mutter", nach den Olivenbäumen seines Dorfes, dem Land seiner Vorfahren. Im Dokumentarfilm der israelisch-französischen Regisseurin Simone Bitton zeigt er auf einen Esel als Symbol für das palästinensische Volk: Ein weises, geduldiges Tier, dass irgendwie überlebt.

Er nannte den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern "einen Kampf zwischen zwei Erinnerungen". Das palästinensisch historische Gedächtnis kollidiert mit dem jüdisch historischen Gedächtnis. Frieden kann nur dann werden, so Mahmoud Darwish, wenn jede Seite die Erinnerungen der andern Seite versteht.

Bei dem so sorgfältig von der palästinensischen Behörde organisierten Staatsbegräbnis in der Mukata´a war ich nicht dabei. Ich war zwei Stunden später bei der Bestattung seines Leichnams auf einem wunderbaren Hügel, von dem man einen weiten Blick auf die Umgebung hat. Ich war von den Anwesenden beeindruckt, die sich unter der brennenden Sonne um das Grab versammelt hatten und der aufgezeichneten Stimme Darwishs lauschten. Größtenteils einfache Menschen aus den Dörfern, schweigend und in sehr intimer Weise mit dem Toten verbunden. Trotz der gedrängten Menge öffneten sie uns - den Israelis - einen Weg, damit wir Darwish an seinem Grab unsere Hochachtung erweisen konnten.

Uri Avnery ist Schriftsteller und Publizist

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