Porträt Ali Schmeißner saß als Linker im Bundesvorstand der Grünen. Seine Weggefährten sind heute Minister oder Manager. Er stürzte ab. Besuch bei einem schwarzen Schaf
Es ist die Hoffnung auf ein kleines Gespräch mit einem Bekannten von früher, die Ali Schmeißner Woche für Woche in die Stadt treibt. Jeden Samstag setzt er sich in ein italienisches Eiscafé, immer an die breite Fensterfront, an der die Passanten der Fußgängerzone vorbeiströmen. Damit man ihn sehen kann. Er wartet auf Gesellschaft. Aber er bleibt immer allein.
Früher war Albrecht „Ali“ Schmeißner eine große Nummer unter den schwäbischen Linken. In den politisch aufgeladenen Siebzigern konnte er keine zehn Meter in Tübingen gehen, ohne dass ihn jemand ansprach. Er war mit Rudi Dutschke befreundet, trat gemeinsam mit Beuys im Audimax der Uni auf, organisierte Studentendemos mit 70.000 Teilnehmern, gründete 1980 d
ete 1980 die Grünen mit und saß drei Jahre lang im Bundesvorstand. Doch während seine Weggefährten Ende der Achtziger die entscheidenden Weichen für ihre Karrieren stellten, stürzte Schmeißner ab. Er wurde spielsüchtig, stahl dem Studentenwerk eine halbe Million Mark und verzockte sie in Casinos. Als man ihn erwischte, tauchte er unter und versteckte sich zehn Jahre lang in Prag.Ali Schmeißner ist das schwarze Schaf in der Familie der baden-württembergischen Grünen. Heute, wo die Partei auf dem Gipfel ihres Erfolges steht und mit Winfried Kretschmann den gefeierten Ministerpräsidenten stellt, will ihn kaum einer mehr kennen. Er lebt als Hartz-IV-Empfänger am Rand der Tübinger Altstadt, allein, fast blind von seiner Diabetes.„Ali holt weit aus“Er spricht gern über die alten Zeiten. Er hat schon immer lang geredet und seine Gegner bissig attackiert. „Ali holte weit aus“, schrieb der Spiegel 1978, als Willy Brandt ein Treffen mit Studentenorganisationen nach einer Rede Schmeißners erbost verlassen wollte, weil er sich von Jung-Akademikern „keine in die Fresse hauen“ lasse.Als sich zwei Jahre später die Grünen langsam aus verschiedensten Strömungen von linksorthodoxen Antiparlamentariern bis zur ökologischen Rechten formierten, war Schmeißner eine der treibenden Kräfte auf dem linken Flügel. Mit seinen Kontakten in der Studentenszene gelang es ihm, Tübingen zu einer der wenigen Fundi-Hochburgen in Baden-Württemberg zu machen, wo sich die Grünen von Beginn an überwiegend aus bürgerlichen Kreisen rekrutierten und bis heute die pragmatischsten Realos zu finden sind.Wenn Schmeißner über sein schwerstes Jahr spricht, bricht seine Stimme auch nach 25 Jahren noch. Er senkt den Kopf tief über den Tisch. „Ich hab damals g‘schafft wie ein Blöder,“ sagt er leise. „Da hat es mich irgendwie erwischt.“Er pendelt zwischen Tübingen und Bonn, zwischen seiner Arbeit für das Studentenwerk und den Bundesvorstand der Grünen. Die Doppelbelastung setzt ihm immer mehr zu, auch weil er sich von den Realos in die Ecke gedrängt sieht. Schon damals ist er mit seinen radikalen Ideen ein Exot bei den Grünen. Er ist Vertreter der BUS, der „basisdemokratischen undogmatische Sozialisten“. In der Partei wollen immer weniger seine Politik noch mittragen. Man wirft ihm vor, die Ökologie sei für ihn nur Durchgangsstation auf dem Weg zur Diktatur des Proletariats. Schließlich wird er von Fritz Kuhn „politisch kaltgestellt“, wie eine Lokalzeitung schreibt.„Der Schmeißner hat seine Überzeugungen immer bis aufs Messer verteidigt“, sagt Rezzo Schlauch, stiernackiger Ober-Realo. Schlauch saß damals für die Grünen im baden-württembergischen Landtag, war später Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium und wechselte nach seiner politischen Karriere in den Beirat des Stromversorgers EnBW. „Schmeißner war aber nie ein Apparatschik“, erzählt er am Telefon. „Er war kein kühl berechnender Taktiker, sondern ein emotionaler Mensch, mit Höhen und Tiefen. Ich habe ihn für seine Art immer respektiert. Aber vielleicht hat sich da mit seiner Emotionalität auch schon abgezeichnet, zu was das später geführt hat.“Schmeißner hat nicht nur in der Partei Probleme. Er streitet viel mit seiner damaligen Ehefrau. Dreimal verliert er seinen Führerschein, weil er mit Alkohol am Steuer erwischt wird. Als er deswegen für vier Monate ins Gefängnis muss, ist er endgültig am Boden. Kurz nachdem er wieder draußen ist, erzählt ihm ein Taxifahrer beiläufig, dass es ein neues Casino in Reutlingen gebe. „Ich weiß nicht, warum, aber da hab’ ich gesagt: Fahr mich hin!“ Im Foyer leiht er sich eine Krawatte, stellt sich an den Roulettetisch und spielt sich in einen Rausch. Am Ende des Abends hat er fast 9.000 Mark verloren.Am nächsten Abend steht er wieder am Spieltisch. „Ich habe mir gedacht: Das holst du dir wieder“, erzählt er im Café. „Ich war besessen von dem Gedanken, das Geld zurückzugewinnen.“ Er verliert weiter, aber er geht trotzdem immer wieder hin. Schon nach einigen Monaten hat er 100.000 Mark Schulden bei der Bank. Da greift er in die Kasse des Studentenwerks.Zwischen Casino und Fundi„Das nächste Jahr habe ich ein Doppelleben geführt“, sagt Schmeißner. Tagsüber arbeitet er im Studentenwerk. Er ist ein lockerer Chef, der großzügig Geld gibt für die Einrichtung studentischer Waschsalons, einer Fahrschule und mehrerer Kneipen. Nachts zieht er im schwarzen Anzug los in Casinos, tausende unterschlagene Mark in den Taschen. Er ist Vorstand und Geschäftsführer des Studentenwerks zugleich, da fällt es nicht auf, dass er sich aus der Vereinskasse bedient. Auch nach einem Jahr glaubt er noch, er könne alles wieder zurückgewinnen. Irgendwann gewinnt er 40.000 Mark auf einen Schlag – aber da fehlt bereits über eine halbe Million.„Ich wusste nicht mehr, was ich tat. Es war eine Krankheit“, sagt er heute. „Aber ich konnte niemanden um Hilfe bitten.“ Er, der alte Fundi, der bei jeder Gelegenheit gegen das dekadente Establishment wetterte, konnte doch nicht eingestehen, dass er Abend für Abend zockte. Die Abgeordneten seiner Partei wollte er einmal verpflichten, nur das durchschnittliche Gehalt eines Arbeiters anzunehmen – da konnte er nicht zugeben, dass er dem Studentenwerk eine halbe Million gestohlen hatte.Bei einer Bilanzierung fällt der Betrug 1988 schließlich auf. 630.000 Mark hatte Schmeißner veruntreut. Er wird fristlos entlassen, wenig später legt er sein Mandat im Tübinger Kreistag nieder. 350.000 Mark kann er durch eine Erbvorauszahlung seiner Mutter zurückzahlen, das Studentenwerk verzichtet auf 170.000 Mark, den Rest soll er abstottern. Und er wird zu drei Jahren Haft verurteilt.„Das Geld habe ich bezahlt. Aber ich wusste, ich kann nicht wieder in den Knast“, erzählt er. „Ich halte das nicht aus, ich brauche meine Freiheit“. Am 2. Juli 1990, am Tag, als er in Stammheim seine Haft antreten muss, verabschiedet er sich von seiner Mutter und fährt mit dem Zug Richtung Osteuropa. Die erste Station ist der Balkan, aber da ist bereits der Krieg im Anmarsch. Nach weiteren Stationen landet er in Prag. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, vermittelt Zimmer an deutsche Touristen, lebt von der Hand in den Mund. Oft schläft er auf der Straße. Zehn Jahre hangelt er sich durch, ohne ein Lebenszeichen von sich zu geben. „Niemand hat gewusst, wo ich bin und was ich mache.“Vielleicht war es nicht nur die Sehnsucht nach Freiheit, die ihn zur Flucht trieb, sondern auch der Wunsch, sich unsichtbar zu machen. Die Scham, den eigenen Idealen nicht gerecht geworden zu sein. „Ich habe mein Lebenswerk zerstört“, hat er in seinem Schlussplädoyer vor Gericht gesagt.Erst 2000, am Tag, als seine Strafe verjährt, kommt er nach Tübingen zurück. Er zieht zu seiner Mutter und pflegt sie bis zu ihrem Tod. Seitdem lebt er allein im Elternhaus, an einem kleinen Hang über dem Neckar. Die Häuser dort sind nur über vermooste Treppensteige zu erreichen, die im Schatten großer Kastanien liegen. Auf den Briefkästen prangen Aufkleber, die die Bewohner als Stutgart-21-Gegner ausweisen. Von Balkonen wehen Anti-Atomkraft-Wimpel und regenbogenfarbene Pace-Flaggen.Schmeißner lebt inmitten der perfekten Wutbürger-Idylle. Obwohl er kaum noch etwas sieht, weigert er sich, einen Blindenstock zu benutzen. „Das ist ja bloß für Sehende, damit sie mich als Blinden erkennen“, sagt er und hält lieber die rechte Hand tastend vors Gesicht. Er wankt beim Gehen. Langsam schiebt er sich durch den Flur seines Hauses ins Wohnzimmer und setzt sich an einen Tisch mit rosa Tischdecke.Der Streit ist vorbeiAls er damals zurückgekommen ist, hat er es noch mal versucht mit der Politik. Er redete auf einer Demo gegen Hartz IV und schrieb Gerhard Schröder einen Brief. Als keine Antwort kam, ließ er es wieder sein. „Ich habe gemerkt, dass der Streit von früher vorbei ist“, sagt er. „Es gibt keine Fundis und Realos mehr, nur noch Neoliberale.“Außer Rezzo Schlauch ist es heute schwer, politische Weggefährten zu finden, die etwas über Ali Schmeißner sagen. „Der Ministerpräsident weiß, wer Schmeißner ist, aber steht für ein Interview leider nicht zur Verfügung“, heißt es im Büro von Winfried Kretschmann. Auch Schmeißners politischer Hauptgegner Fritz Kuhn möchte sich nicht äußern. „Fritz Kuhn hat seinen Kopf gerade wo völlig anders: Er bereitet sich auf die Bürgermeisterwahl in Stuttgart vor“, sagt seine Pressesprecherin. Und Lukas Beckmann, der mit Schmeißner einst im Grünen-Bundesvorstand saß und jetzt Vorstand der Öko-Bank GLS ist, sagt: „Dieses Fass mache ich nicht mehr auf.“Schmeißner spricht noch immer von Postfaschismus und Großkapital, von Marx, Lenin und Mao. Er gleitet schnell in einen Redestrom, in dem er in wenigen Minuten vom Verbot der Sozialdemokratie im Kaiserreich bis zur Ausdifferenzierung von Kaffee-Namen im Spätkapitalismus gelangt. Aber er sagt auch: „Ich bin nicht für eine Diktatur des Proletariats, ich bin für eine soziale Demokratie. Ich komme aus der Schule der Neuen Linken und stehe zu den Idealen, die wir als Grüne in den Achtzigern vertreten haben. Basisdemokratisch, gewaltfrei, sozial, ökologisch.“Tübingens grüner Bürgermeister Boris Palmer habe ihn einmal auf einer Veranstaltung angesprochen und ihm die Hand geschüttelt. „Ich habe mich gefühlt wie so eine Art Maskottchen“, sagt Schmeißner. „Als der Linke von damals.“Sein letzter Trumpf ist in solchen Fällen seine Trotzigkeit. „Die Leute heute verstehen nicht, warum ich da nicht traurig werde“, sagt er. „Aber ich hätte nie Karriere machen wollen, das ist doch langweilig.“ Drei Mal die Woche muss er zur Dialyse, weil die Diabetes seine Nieren zerstört hat. Dort liegt er mit Kopfhörern auf der Pritsche und lauscht Parlamentsdebatten auf Phoenix. „Da höre ich sie dann alle“, sagt er, „die Freunde und Feinde von damals“. Nur erwidern kann er ihnen nichts.
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