Wenn ein Verlag uns die Korrespondenz prägender Persönlichkeiten erschließt, stellt sich die Frage: Ergeben sich neue oder nuancierte Sichten auf Werk und Wirken? Gewiss, manches Rätselhafte muss entschlüsselt werden wie bei Jules Verne jene berühmte Flaschenpost des Kapitäns Grant, deren wahre Botschaft sich erst ganz am Ende des Buches enthüllt. Das ist die Aufgabe der Editoren. Am Marx-Engels-Briefwechsel (einschließlich der Briefe, die sie von Dritten erhielten) „Januar 1862 bis September 1864“ haben die Philologen der Gesamtausgabe (kurz MEGA) wieder tiefgreifende Sondierungsarbeit geleistet. Der Band, insbesondere der Apparat, repräsentiert den neuesten Stand der Forschung.
Es waren Jahre des Aufbruchs und frontaler interna
er internationaler Konflikte. Dass Marx und Engels den polnischen Aufstand von 1863 leidenschaftlich verfolgt haben, weil sie, von ihm ausgehend, eine „era of revolution ... in Europa“ erhofften, ist bekannt. Auch ihre Parteinahme für die Nordstaaten im Amerikanischen Bürgerkrieg. Weniger, dass damit eine Umorientierung des Ökonomen Marx begann, weg vom Manchester-Kapitalismus, hin zur progressiven Entwicklung in den USA. Ein Kapitel, das in der Marx-Rezeption bisher arg vernachlässigt worden ist.Das ganze Spektrum der Zeitereignisse wird aufgeblättert. Die Briefe reflektieren aber auch in seltener Dichte und Konzentration Privates, ja Intimes, weshalb wir hier etwas verweilen wollen. In diesen psychischen Bereich fällt eine für manche Altmarxisten schmerzliche Korrektur. Die Freundschaft zwischen Marx und Engels war nicht immer so symbiotisch, wie sie wohlmeinende Historiker dargestellt haben. In dem erfassten Zeitraum kam es zu einem empfindlichen Bruch, als Engels’ langjährige Lebensgefährtin Mary Burns starb und Marx mit zwei lapidaren Sätzen darauf einging, um unvermittelt über seine finanziellen Schwierigkeiten zu klagen. Den erschütterten Engels musste diese „kühle Denkungsart“ verletzen. „Das arme Mädchen hat mich mit ihrem ganzen Herzen geliebt“, schreibt er. Und er umgekehrt sie, die Fabrikarbeiterin, die ihn durch die Quartiere der irischen Hungerleider geführt hatte. Engels hat die Standesgrenzen brechende, die unkonventionelle Liebe gelebt. Über Marx war er so enttäuscht, dass er ihm eine „frostige Auffassung“ und in sarkastischer Weise herzlosen „Triumf“ zu genießen vorwarf. Er hat den Briefentwurf nicht abgeschickt und die Reinschrift gemildert, um die Freundschaft, der sie doch beide bedurften, aufrechtzuerhalten.Geld und KommunismusDie wenig einfühlsame Reaktion des Londoner „Compagnons“ löste das einzig dokumentierte Zerwürfnis zwischen Marx und Engels aus. Eine Misshelligkeit oder ein Unverständnis mag es noch im Zusammenhang mit einer von Ferdinand Lassalle gewährten Wechselbürgschaft gegeben haben. Dass Lassalle und die Bank eine durch Gegenzeichnung gesicherte Garantie haben wollten, liegt auf der Hand. Engels hat das sofort eingesehen. Vielleicht war Marx zu eitel, oder er fühlte sich in seiner Ehre gekränkt, jedenfalls wollte er nicht unterschreiben. Das führte zum endgültigen Bruch mit Lassalle. Später, im November 1862, ist Marx schweren Herzens bereit, einzulenken. „Sollen wir uns deswegen positiv entzweien?“, fragt er Lassalle. „Ich denke, das Substantielle unsrer Freundschaft ist stark genug um auch solchen chock ertragen zu können.“ Und doch schiebt er wieder die Hälfte der Schuld Lassalle zu. Er schreibt dem Leipziger Juristen und Publizisten, jener hätte bedenken müssen, wie Marx denkt.Man sieht: Marx war ein ordentlicher Egozentriker. Keine sehr sympathische Eigenschaft. Andererseits: Hätte er die schon als dämonisch zu bezeichnende Kraft und Leistung, die ein so gewaltiges Werk zustandebrachte, ohne ein gehöriges Maß an Egozentrik aufbringen können? Es waren ja nicht wenige große Künstler und Wissenschaftler Egozentriker.Marx und die SPDIndes hatte das Zerwürfnis mit Ferdinand Lassalle tiefere Ursachen. Marx und der „künftige Arbeiterdictator“, wie Marx ironisiert, stimmten „politisch in Nichts überein ... als in einigen weit ab liegenden Endzwecken“. Die Kontroverse spitzte sich zu, als sich erstmals seit 1848/49 auch in Deutschland wieder überregionale Arbeiterorganisationen formierten. Den vom liberalen Bürgertum inspirierten Bildungsvereinen haben Marx und Engels kaum Beachtung geschenkt. Anders verhält es sich mit der Gegengründung Lassalles, dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV). Anfangs überwiegt auch eine entschieden skeptische Haltung gegenüber dem ADAV. Sie hatte gute Gründe, zum Beispiel hielt Lassalle die Gemeinden des Vereins an, die restriktive preußische Politik zu rechtfertigen, die das russische Militär während des polnischen Aufstandes 1863 unterstützte.In den folgenden Jahren bildeten sich Marx und Engels jedoch ein positiveres Urteil über Lassalles Wirken. Inzwischen hatte Wilhelm Liebknechts Einfluss auf die Berliner Gemeinde des ADAV zugenommen, und es begann sich eine Opposition gegen Lassalle zu formieren. Liebknecht und Julius Vahlteich, zeitweilig Vereinssekretär und Intimus Lassalles, ließen nichts ungeschehen, die marxschen Ideen in den ADAV-Gliederungen zu verbreiten. Die Meinung, dass alles, was an Lassalle faszinierte, von Marx gestohlen oder, wie Marx sagt, „eine schlechte Vulgarisierung des ‚Manifests‘“ sei, war schwer zu widerlegen. Dennoch kann Liebknecht dem „Mann auf dem Pulverfass“, als den sich Marx betrachtete, klarmachen: „Übrigens so große Dummheiten ihn (Lassalle) auch seine Eitelkeit begehen läßt, er nützt doch auch, indem er etwas Bewegung in den Sumpf bringt ...“ Marx rät nun Vahlteich, der für einen offenen Bruch mit Lassalle plädiert, „die Bewegung in dem jetzigen Maße, solange nicht prinzipielle Fehler vorkommen, zu unterstützen“, wie Liebknecht überliefert hat.Der Briefwechsel legt offen – eine weitere Überraschung des Bandes –, dass Marx in die Profilierung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins involviert war. Muss einem da nicht in den Sinn kommen, wie die SPD in diesem Jahr ihr Gründungsjubiläum gefeiert hat? In den offiziellen Reden und Würdigungen der SPD-Führung sind Marx und die Opposition gegen Lassalle mit keinem Wort erwähnt worden.Die Briefe als Spiegel der Gegenwart zeigen Leerstellen, die es mit faktischer Substanz ehrlich aufzufüllen gilt. Nicht nur von sozialdemokratischer Seite.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.