Bösewichte mit Klavierzähnen

Destruktionen Charlie Chaplin tat es, Tom und Jerry auch: Ein neues Buch untersucht das ebenso seltsame wie verbreitete Phänomen der Klavierzerstörung in Kunst und Popkultur
Ausgabe 13/2013

Der Wunsch, auf ein Klavier einzuschlagen, ist so alt wie das Klavier selbst. Meist bleibt es bei wildem Tastengehämmer angesichts musikalischer Misserfolge. Jedoch nicht immer. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Wunsch, das Klavier zu zerstören, offenbar übermächtig. Denn seitdem mehren sich die Beispiele für künstlerisch motivierte Massaker am gesamten Klavierkörper. Dieser Hang zur einfachen Provokation mit kurzzeitig befriedigender Triebabfuhr hält bis heute an, hatte aber seine Hochphase vor und nach den beiden Weltkriegen. Das kann man in Gunnar Schmidts Buch Klavierzerstörungen in Kunst und Popkultur nachlesen.

Wer eine unterhaltsame Geschichte dieser besonderen Wutanfälle erwartet, sollte das Buch allerdings gar nicht erst in die Hand nehmen. Denn unterhaltsam ist hier wenig. Vielmehr traktiert Schmidt seine Leser mit einer Sprache voller Fachbegriffe, Fremdwörter und Geziertheit, die den Text streckenweise geradezu unlesbar macht. Hier wird nichts erkannt oder erklärt, sondern immer gleich dechiffriert.

Wer bereit ist, diese Art des längst totgeglaubten Über-Kunst-Sprechs zu tolerieren, wird allerdings viel über die Lust mancher Künstler an Klavierzerstörungen erfahren und erkennen, wie groß der Einfluss von Charlie Chaplin, Mickey Mouse und Tom und Jerry auf die Performancekunst war. Denn schon in den frühen Slapstick- und Animationsfilmen der späten zwanziger Jahre wird das Klavier malträtiert und zerstört oder fällt – als Waffe – auf die Bösewichte herab. Manchmal beißen die Bösen auch mit Tastatur-Zähnen um sich. All das findet sich in den Kunst-Performances der sechziger Jahre in verschiedenen Variationen wieder. Klaviere werden aus Fenstern geworfen, mit Nägeln überzogen und auseinandergenommen, während auf ihnen gespielt wird. Die zerstörerischen Heilungsversuche des Künstlers Philip Corner fallen ein wenig aus dem Rahmen, sind jedoch im Ergebnis auch nichts anderes: Corner zelebriert das „sanfte“ Auseinandernehmen von unbrauchbar gewordenen Klavieren und drapiert aus ihnen neue Werke.

Größtmöglicher Schockeffekt

Beeindruckend ist die Fülle der Beispiele in Film, bildender Kunst und Literatur, die Schmidt in seinem Buch erstmals zusammenführt und bewertet. Denn: „Erst die Zusammenschau der überraschenden Vielfalt der Klavierdestruktionen aus den unterschiedlichen kulturellen Segmenten drängt das Bild einer gesellschaftlich verwurzelten Verzweiflung auf“, schreibt Schmidt.

In der Summe sind die Ideen, das Klavier zu töten, jedoch mehr als schlicht. Denn letztendlich läuft es immer darauf hinaus, dass das Instrument zertrümmert wird – manchmal, um ein Symbol bürgerlicher Werte zu zerstören, immer aber, um den größtmöglichen Schockeffekt zu erzielen.

Doch Klavierzerstörungen und ihre literarischen Fantasien – wie in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften und Heinrich Bölls Frauen vor Flusslandschaft – sind selten geworden. Die Wut früherer Klavierzerstörer erklärt Schmidt mit ihren speziellen Kindheitserfahrungen. Nach seiner Beobachtung wurden die meisten von ihnen um 1930 geboren, waren also bei Kriegsende in der Pubertät. „Die in bestimmten Phasen auffällige Häufung und die Intensität der Klavierdemolierungen müssen als kulturelle Symptome wahrgenommen werden, in denen ein verallgemeinerbares Psychoklima zum Ausdruck kommt“, schreibt Schmidt über die Nachkriegszeit.

Die Abwesenheit von Klavierdemolierungen in der Gegenwartskunst bedeutet für ihn allerdings keineswegs, dass das „Psychoklima“ heute besser ist. Es ist nur anders – demoliert wird nicht mehr persönlich und direkt, sondern aus Langeweile oder per Mausklick übers Internet.

Klavierzerstörungen in Kunst und Popkultur Gunnar Schmidt Reimer 2013, 277 S., 24,95 €

Uta Baier ist freie Kunstkritikerin

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