Breivik als Dilemma

Bühne In Weimar führt der Schweizer Dokumentartheatermacher Milo Rau "Breiviks Erklärung" als Reenactment auf. Er will den Massenmörder weginszenieren, was nicht gelingt

Uraufgeführt wurde der Text am 17. April, die Szene war das Amtsgericht Oslo. Der Massenmörder Anders Behring Breivik spielte in einem einstündigen Monolog den konservativen Revolutionär und Weltenretter Anders Behring Breivik. Eine Selbstinszenierung.

Alle Theatralität war angelegt, als dieser Mann seine Rechtfertigungsrede „im Namen aller Europäer“ hielt, um das Unerklärliche zu erklären, den Mord an 77 Menschen: das, so Breivik, „spektakulärste Attentat seit dem Zweiten Weltkrieg“.

Zwei Monate nach Breiviks Verurteilung fand in Weimar nun die Wiederaufführung seiner Gerichtsrede statt: das Reenactment Breiviks Erklärung des Schweizer Dokumentartheatermachers Milo Rau.

Gegenwärtiger Irrsinn

Der lässt den furchtbar redundanten Text über den drohenden Untergang des Abendlandes, das Fremdsein im eigenen Land, einen angekündigten „Bürgerkrieg zwischen Nationalisten und Internationalisten“ von der Schauspielerin Sascha Ö. Soydan vortragen: in einem „öffentlichen Filmdreh“, vor einer Holzwand, hinterm Pult, in Richtung einer Kamera, von der aus ihr Bild groß auf eine Leinwand fällt.

Rau nennt das eine „Ausstellung von Aussagen“. Diese scheinen ihm hierzulande durchaus mehrheitsfähig. Der diffuse, angeblich durch Erfahrung genährte Schmerz, dass unsere Demokratien sich allmählich in Diktaturen verwandeln, dass die veröffentlichte Meinung durchweg linksliberal agitiere und sich die eigentlich konträr dazu stehende öffentliche Meinung unterordne, weil es sozial erwünscht scheint, dass es doch also wohl bald mal krachen müsse bei uns – er ist tatsächlich allgegenwärtig. Er wirkt zeitgemäß in seiner unzeitgemäßen Betrachtung der Welt, die vom Standpunkt der schieren Angst vor Veränderung aus stattfindet.

Gewiss, Breivik leidet an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Aber tut das nicht ganz Europa auf seine Weise auch? „Obwohl man schon wahnsinnig sein muss“, sagt Milo Rau, „daraus einen terroristischen Schluss zu ziehen.“ Breivik, das ist die Erkenntnis dieser Erklärung, ist die Ausnahme und die Regel zugleich.

Distanziertes DNT

Rau wollte nicht mehr, als „Breivik weg zu inszenieren“. Das ist ihm, natürlich, nicht gelungen. Auch wenn der Massenmörder und sein Name nicht vorkommen: Rau hat ihn nicht weg, er hat die vermeintlich schweigende Masse gleichsam hinzu inszeniert. Sie spricht aus Soydan, die den Text bis zur Hälfte Kaugummi kauend und in Gänze betont sachlich vorträgt, woraus sich fast wie von selbst eine kühle, spöttische Überlegenheit herstellt. Ihre Blicke in die Kamera, und also auf uns, wirken wie provokante Interpunktionen. Sie macht den Text, dem sich sonst niemand freiwillig aussetzen würde, relevant. Das ist die Leistung. Und das ist das Problem.

Drei Tage vor der Lesung erklärte der Geschäftsführer des Deutschen Nationaltheaters Weimar (DNT), Thomas A. Schmidt: „Von den Aussagen der für die Öffentlichkeit gesperrten ‚Erklärung‘ möchten wir uns als Haus distanzieren.“ Sie sollte eigentlich in der DNT-Spielstätte E-Werk gezeigt werden, nun musste Rau ins Programmkino Lichthaus ausweichen. Ein klassisches Dilemma: Das Theater, das den Skandal vermeiden will, beschwört ihn damit erst herauf. Gibt man Breivik ein Podium, gibt man ihm recht. Gibt man „Breivik“ keines, auch.

Breiviks Erklärung ist am 27. Oktober im Berliner Theaterdiscounter zu sehen. Milo Rau machte sich erst jüngst einen Namen mit der Arbeit Hate Radio über den Genozid in Ruanda

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