Freitag-Salon Nicht nur die NSA gefärdert die Freiheit der Menschen, auch die Kostenloskultur der Online-Welt, sagt der Netzphilosoph Evgeny Morozov im Gespräch mit Jakob Augstein
Evgeny Morozov: Als ich jung war, habe ich daran geglaubt.
Sie sind 29 Jahre alt....
Ja, aber mit 21 war ich ein utopisch und idealistisch denkender junger Mann. Ich komme aus Weißrussland. Wir haben damals geglaubt, mit den neuen technologischen Werkzeugen ließen sich unsere autokratischen Regime stürzen. Wir haben gedacht, diese Tools stünden aufgrund ihrer Natur und Konstruktion auf der Seite der Unterdrückten. Aber das war falsch. Plötzlich tauchten alle möglichen Tools auf, die westliche Konzerne im Auftrag westlicher Regierungen entwickelt hatten, um Terroristen und Kriminelle zu überwachen. Diese Werkzeuge fanden einen zweiten Markt in autoritären Staaten bei autoritären Regimen. Aber davon wo
#252;berwachen. Diese Werkzeuge fanden einen zweiten Markt in autoritären Staaten bei autoritären Regimen. Aber davon wollten die Leute, die in Washington oder Brüssel das Hohelied der Internetfreiheit sangen, nichts wissen.War es nicht einfach sehr naiv, Opposition zu einer Frage der Technologie zu erklären?Das Spannende an den sozialen Medien war die Idee, ohne starre oppositionelle Strukturen auszukommen, denen viele junge Leute ebenso wenig vertrauten wie den Regierungen. Aber am Ende gehen diejenigen Leute als Sieger hervor, die über die beste Organisation, die beste institutionelle Struktur, über Ressourcen und Macht verfügen. Da ist das Internet nur von begrenztem Nutzen.Was ist das eigentlich, das Internet?Dieses Wort bedeutet eine Menge Dinge für eine Menge Leute. Viele benutzen es einfach, um Sachverhalte zu verschleiern, und behaupten, irgendein Gesetz würde im Netz nicht funktionieren, oder verstoße gegen den Geist des Internets. Ich würde das Netz als kulturelles Phänomen bezeichnen. Es fasst viele sehr verschiedene Trends zusammen: soziale Netzwerke, Open-Source-Software, Suchmaschinen, Wikipedia, 3-D-Druck. Dabei wird der Eindruck von Zusammenhang erweckt, und alle möglichen Entwicklungen werden plötzlich auf riesige technologische, kulturelle und anthropologische Verschiebungen zurückgeführt, die es seit den späten achtziger Jahren mit dem Auftauchen des World Wide Web gegeben habe. Die Leute sagen uns dann, dass wir diesen Zusammenhang erkennen müssten und dass darum auch die Forderung nach „Freiheit“ für das Netz so zentral sei. Aber so einfach ist es nicht. Man sollte sich nicht nur auf die technologischen Aspekte konzentrieren.Mögen Sie Science Fiction?Ich lese viel Technologie-Artikel. Aber richtige Science Fiction, nein.Glauben Sie, dass das Internet eines Tages ein Bewusstsein entwickeln wird wie in dem Film „Terminator“?Nein. Es gibt nichts, was Sie sinnvollerweise „das Internet“ nennen könnten. Außerdem gibt es bereits Maschinen, die sich durch Lernen selbst verbessern. Wenn man will, kann man das für eine neue Form des Bewusstseins halten. Von mir aus kann es gerne lernende Maschinen geben, solange wir die damit verbundenen politischen und wirtschaftlichen Implikationen verstehen und gutheißen.Können wir das Netz abschalten?Wenn man eine Bombe auf Googles Server-Farmen wirft, sind große Teile von dem, was Sie das Netz nennen, verschwunden. Man kann es aber auch sehen wie der Journalist Chris Anderson, der schon vor einigen Jahren geschrieben hat: „Das Netz ist tot“ – weil wir heute mehr Apps und weniger Browser nutzen und uns dadurch von einem bestimmten Modell des Netzes entfernen. Aber für mich ergibt es keinen Sinn, eine bestimmte Technologie als notwendiges und bestes Mittel zu verteidigen, die Welt zu gestalten. Das ist die große Täuschung, die Silicon Valley uns zumutet: dass es nur einen Weg gebe, ganz gleich, was die politischen, wirtschaftlichen oder sonstigen Bedingungen sind. Darum habe ich große Probleme mit einem Begriff wie „Netzneutralität“. Dadurch wird die gegenwärtige Netzstruktur zum Fetisch erklärt, und wir werden davon abgehalten, uns mit den dahinter liegenden politischen und wirtschaftlichen Fragen zu befassen.Sie wollen über Politik und Wirtschaft reden. Haben Sie nie die Faszination der Maschine gespürt?Als es sich bei Computern noch um riesige Maschinen handelte, die ganze Räume oder gar Gebäudeflügel einnahmen, hatte niemand ein derartiges Verhältnis zu ihnen. Es bedurfte jeder Menge ideologischer Arbeit und Marketing, um dem Umgang mit Computern einen persönlichen Aspekt zu verleihen. Die Idee des Personal Computer entstand erst Mitte der siebziger Jahre. Damals mussten Leute wie Steve Jobs den Menschen erklären, warum sie sich so ein Gerät kaufen sollten. Also erzählte man ihnen, der Computer trage dazu bei, die Gesellschaft zu deinstitutionalisieren. Computer sollten nicht mehr kalte, riesige, zentralisierte Kreaturen sein, mit denen der Vietnamkrieg geführt wird. Stattdessen wurde uns versprochen, dass sie zu kleinen, familiären Objekten auf unseren Küchentischen werden.Der Sexappeal ergab sich also aus der Ermächtigung des Einzelnen, aus der Möglichkeit, das System zu schlagen?Ja, zumindest in der Hinsicht, dass wir alle Smartphones bei uns tragen, die mehr können als jeder Computer in den Siebzigern oder Achtzigern, haben wir uns alle emanzipiert. Das Problem ist bloß, dass es nicht mehr nur um die Rechner geht, sondern auch um Daten. Während das Computerwesen selbst dezentralisiert wurde, findet die Datenverarbeitung noch immer bei hoch zentralisierten Institutionen wie Google oder Facebook statt. In diesem Sinne hat niemals irgendeine Art Emanzipation stattgefunden.Glauben Sie, dass die Menschen im Silicon Valley die Welt verbessern wollen?Ich habe keine Ahnung, was sie privat denken. Aber wenn man sie reden hört, klingt das doch oft sehr selbstgefällig. Sie sagen Sätze wie: „Wenn man für Google oder Facebook arbeitet, anstatt an die Wall Street zu gehen, trägt man eher zur Verbesserung der Welt bei, als sie zu zerstören.“ Gleichzeitig müssen diese Unternehmen auch in Kreisen der offiziellen Politik unter Beweis stellen, dass sie für die Lösung zukünftiger Probleme von grundlegender Bedeutung sind. Wenn es ihnen gelingt, bei der Lösung von Problemen, die mit Gesundheit, Erderwärmung oder Bildung zu tun haben, als wichtiger Faktor anerkannt zu werden – bei all diesen Themen spielen Daten und das Verbraucherverhalten eine wichtige Rolle –, wird der Druck auf die Regulierungsbehörden, sie in die Schranken zu weisen, geringer.Sie verwenden recht häufig das Wort Solutionism – auf Deutsch würde man vielleicht Solutionismus sagen. Was bedeutet das? Dass jemand für alles eine Lösung hat?Nein. Die Möglichkeiten, ein bestimmtes Problem zu lösen, haben sich vervielfältigt. Heute können Sie praktisch jedes Gerät vernetzen. Sie können Facebook in Ihren Mülleimer einbauen und dafür sorgen, dass Ihre Freunde mitbekommen, ob Sie den Müll trennen oder nicht. All diese neuen Arten der Intervention haben im Silicon Valley viele Start-ups entstehen lassen. Und viele Politiker, die sich für Verhaltensökonomie begeistern, engagieren sich in Initiativen, die solche neuen Formen der Problemlösung fördern. Ich empfinde das als politisch wenig ambitioniert, denn dabei werden die meisten Probleme gelöst, indem sie auf den Schultern der Bürger abgeladen werden. Beim Klimawandel erzählen wir den Menschen, sie sollten nicht mehr so viel Energie verbrauchen. Wir regulieren aber nicht die Ölunternehmen und investieren auch nicht in den Ausbau der Infrastruktur. In Wahrheit wird die Lösung des Problems lediglich von den Institutionen an die Bürger delegiert.Auch das Internet wird kaum reguliert. Liegt das daran, dass die Ideologie der Privatisierung das Denken des Kartell- und Wettbewerbsrechts vollkommen ersetzt hat?Es hat etwas mit dem allgemeinen Zeitgeist zu tun, mit dem Neoliberalismus. Es gibt aber noch eine andere Ebene. Es wirkt ein Narrativ. Demzufolge hat das Internet eine inhärente Logik, und Google und Facebook manifestieren sozusagen den Geist des Internets. Sie zeigen uns, dass es eine gute Art und Weise gibt, wie man soziale Netzwerke nutzen, E-Mails schreiben und im Internet suchen sollte. Wenn man nun vorbringt, dass man das mit den E-Mails vielleicht auch unabhängig von Privatkonzernen machen könnte, heißt es: Schauen Sie doch, was das Internets uns in den vergangenen Jahrzehnten gebracht hat. Diese Mythen über die Geschichte des Internet werden zu mächtigen Waffen, wenn es um Aufsicht, Regulierung und Zukunftskonzepte geht.Wie ließen sich denn in einer anderen Art und Weise E-Mails schreiben?Schauen Sie, wie verrückt gegenwärtig unser E-Mail-Verkehr funktioniert. Stellen Sie sich vor, ich wäre vor 25 Jahren zu Ihnen gekommen und hätte gesagt: „Ich habe dieses geniale System erfunden, bei dem Briefe nicht mehr mit Hilfe von Briefmarken verschickt werden. Stattdessen steht ein gewaltiger Computer im Postamt, öffnet jeden einzelnen Brief, scannt den Inhalt und steckt eine passende Werbeanzeige in den Umschlag. Dann verschließt er den Umschlag wieder und leitet ihn an den Empfänger weiter. Auf diese Weise muss niemand mehr Briefmarken kaufen. Stattdessen werden alle Briefe durch Werbung finanziert.“ Sie hätten das wahrscheinlich ziemlich gruselig gefunden. Doch genau das passiert mit unseren E-Mails.Wie groß ist das Problem der Überwachung durch die NSA?Ich halte das Problem für viel größer und umfassender, als es oft dargestellt wird. Es geht um eine sehr große Frage: In welcher Welt werden wir in zehn Jahren leben, wenn unser kompletter Haushalt aus Dingen bestehen wird, die wir kostenlos erhalten haben. Wir erhalten sie kostenlos, weil sie über Sensoren verfügen, umfassend vernetzt sind und alles festhalten, was wir mit ihnen machen. Gmail ist übrigens ein perfektes Beispiel für dieses Modell. Man erhält einen ausgezeichneten, nahezu uneingeschränkten E-Mail-Account, der allein durch die Analyse dessen finanziert wird, was Sie mit ihm machen. Aufgrund dieser Analyse erhalten Sie Anzeigen. Das gleiche Modell lässt sich auf E-Reader oder Fahrzeuge mit Autopilot übertragen, auf was immer Sie wollen. Daten werden zu einer Form der Finanzierung von dem, was Sie mit der Technologie machen. Das erlaubt der NSA und vielen anderen Playern, all diese Daten abzuschöpfen.Haben die Menschen im Internetzeitalter überhaupt noch die Möglichkeit, offline zu gehen oder sind sie gezwungen, ständig online zu sein, um sie selbst zu bleiben?Wie Sie vielleicht wissen, habe ich mir einen Safe gekauft, der mit einem Timer versehen ist. Dort kann ich mein iPhone und mein Internetkabel wegschließen und so meine eigene Vernetzung so lange unterbrechen, wie ich möchte.Sie machen das wirklich?Ich mache das ständig und kann darin kein Problem erkennen. Für mich ist letztendlich entscheidend, wie viel ich pro Woche lesen kann. Wenn jemand das seltsam findet, ist mir das egal. Ich lese dadurch jedenfalls fünf Bücher mehr.So verhält sich ein Süchtiger, der seine Whiskey-Flasche wegsperrt.Nein, das ist nicht das Verhalten eines Süchtigen. Es geht schlicht darum, mehr Dinge erledigt zu bekommen, ohne ständig abgelenkt zu werden und sich alle zehn Minuten sagen zu müssen: „Nein, ich sollte mich weiter auf meine Aufgabe konzentrieren.“ Warum soll ich dieses innere Zwiegespräch führen, wenn ich die Antwort an meinen Safe delegieren kann?
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