We’ve got nowhere to go but up! Die soziale Utopie der USA fußt auf dem Glauben an die eigene Leistung als entscheidende Kraft: Wer sich anstrenge, schaffe es. Hierher rühren Optimismus und Durchhaltewille; Einwanderer aus aller Welt setzen darauf, in der Mittelschicht ist dieser Glaube fest verankert.
Spätestens seit den 60er Jahren zeigte sich die konservative Tönung dieser Erzählung. Sie fand ihre Helden etwa in John Wayne oder später in Ronald Reagan, der Regulation und Wohlfahrtsstaat als unamerikanische Schmutzfinken am Wegesrand zurückließ. Allein der Optimismus hielt sich. Wer George Packers nun endlich übersetztes Buch Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika liest, schreitet durch die Trümmer eines Ideals.
Pack
deals.Packer lotet einen „Taumel der Abwicklung“ aus, der gewaltig ist – und der die Lebensspanne eines um 1960 Geborenen dominiert. Institutionen und Arbeitsformen zerfielen, ebenso das Schulwesen. Packer schaut auf eine kulturelle Verschiebung: Die „Roosevelt Republic, die beinahe ein halbes Jahrhundert lang das Leben beherrscht hatte, (löste sich) auf. Die Lücke schloss eine Macht, die in Amerika immer zur Stelle ist: das organisierte Geld“.Die Geschichte beginnt mit einem häufig besungenen Epochenbruch: Seit den späten 70er Jahren stagnieren Reallöhne und Abschlussquoten der Universitäten, die Industrieproduktion wurde zunehmend in Billiglohnländer verlagert. Alan Greenspan bemerkte einmal, dass die krachende Niederlage der Fluglotsengewerkschaft im ersten Sommer von Reagans Präsidentschaft dessen „vielleicht wichtigstes Unterfangen“ war. Fortan konnten Arbeitgeber „nach eigenem Gutdünken“ heuern und feuern. Der Anteil der Mittelklasse-Löhne am Gesamteinkommen schwand. Ohne in eine Theorieschule gezwungen zu werden, erleben wir bei George Packer das Innenleben dieser Verschiebung.Kaum Theorie, aber viel WutEr macht sich als Reporter auf und trifft erst einmal Dean Price, Sohn einer tiefgläubigen Familie im einst von Landwirtschaft geprägten North Carolina. Price rebelliert gegen den tyrannischen Vater, studiert, ergattert seinen Traumjob – und kündigt kurz darauf, weil er sich auch dort wieder schikaniert sieht. Erstmals kollabiert seine Vorstellungswelt: „Er war einem Versprechen auf den Leim gegangen, das eine Lüge war: Wenn du studierst und dich anstrengst, wenn du in einem großen traditionsreichen Unternehmen der Fortune 500 unterkommst, dann wirst du glücklich.“ Störrisch sucht er sein Glück als freier Tankstellen-Unternehmer. Er entdeckt nicht nur die Möglichkeiten von Biodiesel, sondern auch, dass er gegen große Billigketten immer den Kürzeren zieht. Der Optimismus ist da schnell dünngerieben.Packer hat einen zauberhaften Zugang zu Menschen wie Price, durch sie schauen wir auf all das, was ins Rutschen gerät. Etwa wenn wir mitverfolgen, wie eine schwarze, alleinerziehende Mutter in einer verblühenden Montanindustrie-Stadt ums finanzielle Überleben kämpft.Die Abwicklung folgt Arbeitern, Arbeitslosen und Angestellten, die nichts zu sagen haben, die strampeln müssen und nirgends ankommen. Dabei verschweigt Packer keine Schwächen und keinen Kleingeist, nicht den Hunger nach spiritueller Erfüllung und auch nicht die Orientierungslosigkeit. Er beugt sich weder zu seinen Protagonisten herab, noch idealisiert er sie. Man spürt Packers Wut, aber er bleibt eng am Personal. Dagegen schneidet er die Geschichten von Orten wie Tampa, der Wall Street und des Silicon Valley. Es entsteht ein faszinierendes Gewebe, in dem wir die Deindustrialisierung, den Häuserboom und die Finanzkrise von innen erleben.Ein Leben im Wal-Mart-ModellDie unterschiedlichen Perspektiven geben der Großreportage politisches Gewicht: Wo Newt Gingrich den „totalen Krieg“ in die politische Sprache säht, kommt hinten Tea Party heraus. Den Tea-Party-Aktivisten wird die Straßenbahn in Tampa zum Sinnbild staatlicher Willkür, obwohl sie ihr Leben erträglicher machen könnte. Wo Schulen kollabieren, gewinnt der Superstar-Kult an Bedeutung. Dazu passen die libertären Positionen des Paypal-Milliardärs Peter Thiel, die Packer ebenso schildert wie die kurzen Zuckungen von Occupy Wall Street, die sich vor allem als symbolischer Raum, als Lebensgefühl erwiesen haben.Packer sucht nach dem Echo der sogenannten Krise an der Unterseite der Globalisierung – zu Hause in den USA. Also braucht es Verantwortliche, und gerade der Blick auf die Demokraten ist ernüchternd: Unter Clinton verdreifachte das „oberste Prozent“ seinen Anteil am nationalen Einkommen, und zu jener Zeit „gab es im Weißen Haus keinen höheren Trumpf als Wall-Street-Erfahrung, nur der Anleihenmarkt war reell, alles andere waren Leute, die etwas von einem wollten“. In der Summe „ein Zeitalter massiver Umverteilung – einer vererbbaren Ungleichheit, die das Land seit dem neunzehnten Jahrhundert nicht mehr gesehen hatte“. Und so verstehen wir Politik schließlich als kühlen Interessenhandel. Derweil muss die Mehrheit bei Discount-Ketten einkaufen, billigen Ramsch aus Bangladesch, der nicht lange hält: „Das ganze Land war wie eine Art Wal Mart geworden.“ Nach oben geht da nichts mehr.Die Abwicklung liest sich auch als fulminantes Plädoyer für intellektuellen Journalismus; für eine Sachliteratur, in der nicht ein einzelner Aspekt ausschlaggebend ist, in der sich nicht eine ganze Welt durch einen einzigen Protagonisten erschließt, der schließlich alle Widerstände überwindet. Es gibt bei Packer keine Verschwörung und keine Heldenreise. Und kein Happy End.