Das Kalkül des Präsidenten

Pussy Riot Wladimir Putin fürchtet keinen Imageverlust. Der Prozess verschafft seiner Herrschaft neue Legitimation – nicht nur in Russland
Orthodoxer Priester in Moskau am Tag der Urteilsverkündung gegen "Pussy Riot"
Orthodoxer Priester in Moskau am Tag der Urteilsverkündung gegen "Pussy Riot"

Foto: Andrej Smirnow / AFP / Getty Images

Die russische Justiz hat eine reiche Tradition von ungerechten Urteilen – man erinnere sich an den Chodorkowski-Prozess oder an die Aktivisten der oppositionellen „Nationalbolschewiken“, die für gewaltlose Aktionen drei bis fünf Jahre Gefängnis bekamen. Aber das Urteil gegen Pussy Riot fällt sogar vor diesem Hintergrund auf. Nie zuvor zogen russische Richter mittelalterliche Kirchenkonzile, kirchenspezifische Regeln und medizinische Diagnosen zur Begründung heran. Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als wäre diese ganze Geschichte eine Image-Katastrophe für Wladimir Putin. Weltweit gab es Solidaritätsaktionen für Pussy Riot, Stars von Madonna bis Björk sprachen ihnen ihre Unterstützung aus.

Aber davon hängt im Leben von Wladimir Putin nichts ab. Und das Image Russlands als eines europäischen Irans, wo Gerichte theologische Urteile fällen, kommt dem Präsidenten sogar entgegen. Jetzt kann er dem Westen sagen: Schaut, das hier ist ein wildes religiöses Land, es kann nur autoritär gelenkt werden.

Putin schürt den Hass

Die Umstrukturierung des politischen Raums in Russland begann praktisch sofort nach den Massenprotesten im Dezember vergangenen Jahres. Putin ließ sich gar nicht erst ein auf eine Auseinandersetzung mit der „kreativen Klasse“, die die Basis der Protestierenden stellte. Im Gegenteil, er setzte alles daran, den Hass zwischen der „kreativen Klasse“ und dem „einfachen Volk“ der Putin-Unterstützer (so die Propaganda) noch zu steigern.

Der Fall Pussy Riot treibt diesen Hass auf eine neue Stufe – und gibt ihm eine religiöse Komponente: Wenn du gegen Putin bist, bist du gegen die Orthodoxie. Über diese Formel kann man sich lustig machen, doch sie verleiht Putins Macht noch mehr Stabilität. Im Dezember gingen Hunderttausende auf die Straße, forderten faire Wahlen und protestierten gegen den immergleichen Putin im Kreml. Dank des Pussy-Riot-Prozesses wurde die Rolle der orthodoxen Kirche in der russischen Gesellschaft zu einem zentralen Thema. Und es gibt in Russland weitaus weniger Kirchen-Gegner als Putin-Gegner.

Repressionen im Schatten von Pussy Riot

Der demonstrativ ungerechte Prozess, von der ganzen Welt staunend mitverfolgt, lenkte die russische Gesellschaft ab von der Abrechnung mit der Opposition: Russlands bekanntester Oppositioneller Alexej Nawalny wartet auf seine Festnahme – gegen ihn wurde ein Verfahren eingeleitet. Möglicherweise wird Gennadi Gudkow, einer der wenigen verbliebenen Oppositionellen in der Duma, bald verhaftet. Zwölf Teilnehmer der letzten großen Anti-Putin-Demonstration stehen unter Arrest. Ihnen drohen wegen Zusammenstößen mit der Polizei mehrere Jahre Haft.

Vor dem Hintergrund des Pussy-Riot-Prozesses mögen diese Repressionen ganz natürlich wirken. In diesem Sinne ist die politische Bedeutung des Urteils über die Punk-Musikerinnen viel größer als ihre politische Aktion selbst – das Spielen eines Anti-Putin-Liedes in einer Moskauer Kathedrale.

Verfolgung von Pussy Riot geht weiter:

Zwei Mitglieder der kremlkritischen Punkband „Pussy Riot“ sind nach einem Fahndungsaufruf der Moskauer Justiz aus Russland geflohen. Die Frauen würden im Ausland „Feministinnen anwerben, um neue Proteste vorzubereiten“, teilte die Band am Sonntag über den Kurznachrichtendienst Twitter mit. Nur wenige Tage nach dem Prozess, bei dem drei Pussy Riot-Mitglieder zu je zwei Jahre Lagerhaft verurteilt worden waren, hatte die Polizei verkündet, man suche nun nach den zwei "Mittäterinnen". Pussy Riot soll aus schätzungsweise 20 Aktivistinnen bestehen

Oleg Kaschin, 32, ist einer der bekanntesten russischen Journalisten und Blogger

Artikel bezogen über die Agentur n-ost

Im Gespräch mit dem Putin-Kritiker Boris Kagarlitzki erfahren Sie mehr über künftige Proteste sowie Schnittstellen zwischen Macht und Opposition in Russland

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Übersetzung: Pavel Lokshin
Geschrieben von

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