Es war, als hätten einige der führenden Köpfe des NS-Widerstandes telepathische Fähigkeiten gehabt. Ohne Kontakt untereinander zogen sie aus dem grauenhaften Geschehen der jüngsten Vergangenheit die gleichen politischen Schlüsse. Henri Frenay, Chef der größten und bestorganisierten Résistance-Formation Combat, fasste seine politische Vision beispielsweise folgendermaßen zusammen: "An der Stelle eines Europas, das unter der Knute eines von seiner Macht berauschten Deutschlands nicht geeint, sondern geknechtet ist, werden wir gemeinsam mit den anderen europäischen Völkern ein geeintes, auf der Grundlage des Rechts organisiertes Europa in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aufbauen".
Kontrastmodell zum Nazi-Staat
Als wär
zi-StaatAls wäre ein föderativ geeintes Europa das einzig logische Kontrastmodell zum nationalsozialistischen Terrorsystem, beschworen Widerstandskämpfer vielerorts die europäische Idee: In Polen ebenso wie in Holland, in Norwegen oder in Italien. Mehrmals im Frühjahr 1944 trafen sich Vertreter von Widerstandsgruppen aus neun Ländern im Hause des holländischen Theologen und Generalsekretärs des Ökumenischen Weltkirchenrats, Willem Adolph Visser t´ Hooft, in Genf.Die Verfasser der Deklaration, auf die man sich bei diesem ersten Rencontre der Résistance geeinigt hat, gingen davon aus, dass bald nach Kriegsende der europäische Zusammenschluss nach dem Motto: "Nie wieder Krieg! Nie wieder Totalitarismus!" ganz oben auf der internationalen Agenda stehen werde. Sie sollten Recht behalten. Nur im Hinblick auf die zeitlichen Abläufe irrten sie sich und erwiesen sich als zu ungeduldig. Erst nach einer Flaute 1945/46, als zunächst einmal die materiellen Nöte der Menschen zu beheben waren, folgten die ersten Manifestationen der Europa-Enthusiasten.Etliche davon in der Schweiz, wo eine rührige, schon 1934 gegründete "Europa-Union" ihre Erfahrungen mit dem Föderalismus ins Spiel bringen konnte. Den Auftakt zu einer ganzen Serie von Konferenzen machten im September 1946 Föderalisten aus 13 europäischen Ländern im idyllischen Hertenstein am Vierwaldstätter See. Für die Hertensteiner Diskutanten galt: "Der Föderalismus baut seinen Staat [...] von unten nach oben, vom Menschen her. Er will Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit, eine andere und bessere Welt als die der souveränen, miteinander rivalisierenden Nationalstaaten. Deshalb fordert er unmittelbar und absolut die europäische Föderation, den Bundesstaat." 50 Jahre später, am 21. September 1996, schloss Raymond M. Jung d´Arsac, seine Jubiläums-Ansprache mit den Worten: "Chronologisch steht Hertenstein eindeutig am Beginn der modernen Europäischen Einigungsbewegung [...]. Hier wurde der Grundstein zur Europäischen Union gelegt".Europapolitische DivergenzenEin vereinigtes Europa hatten sich während des Zweiten Weltkriegs nicht nur Widerstandskämpfer auf ihre Fahnen geschrieben, sondern auch Exilpolitiker und amtierende Staatsmänner wie der britische Premierminister Winston Churchill. Sein Plädoyer für Europa in den ersten Nachkriegsjahren fiel allerdings sehr unverbindlich aus. "Wir müssen eine Art Vereinigter Staaten von Europa schaffen", verkündete er am 19. September 1946 in Zürich. Der Zufall wollte es, dass just zu dieser Zeit, einen Steinwurf entfernt, die Föderalisten tagten. Einige von ihnen schlugen vor, dem Pro-Europäer Churchill ein Glückwunschtelegramm zu schicken. Aber die Mehrheit verwarf eine solche Geste. Dafür waren die europapolitischen Divergenzen schon zu offenkundig.Noch augenfälliger wurden die Kontraste ein Jahr später, als im August 1947 die Föderalisten ihren ersten Kongress in Montreux abhielten. Bei einer Diskussion am runden Tisch gerieten der Schweizer Kulturphilosoph und leidenschaftliche Europäer Denis de Rougemont und der britische Kongress-Beobachter Duncan Sandys - der Schwiegersohn Churchills - heftig aneinander. Der Pragmatiker Sandys empfahl, auf die europäische Kooperation der Regierungen zu vertrauen, die sich im Zeichen des Marshallplans auch bereits anzubahnen schien. De Rougemont dagegen setzte auf militante Bewegungen, die den zögerlichen Regierungen Beine machen und sie zum Aufbau einer europäischen Föderation bewegen sollten.Sandys und Churchill dachten und handelten in Kategorien der unantastbaren nationalstaatlichen Souveränität und der Politik des Gleichgewichts. Sie bevorzugten einen lockeren Staatenbund, eine bloße Union als Bollwerk gegen den Kommunismus mit Großbritannien als Schutzmacht. Die europäischen Föderalisten hingegen plädierten für ein supranationales Europa. Sie wollten sich nicht mit staatsrechtlichen Konstrukten allein zufrieden geben, sondern gedachten, den Föderalismus als durchgängiges gesellschaftliches Ordnungsprinzip einzuführen. Die Wortführer der Ende 1946, auch aus dem Hertensteiner Treffen heraus gegründeten Union Europäischer Föderalisten (UEF) wollten dies durch einen Konvent europäischer Generalstände und die Wahl Verfassunggebender Versammlungen erreichen, die den Kern einer europäischen Bundesregierung bilden sollten.Churchills VorherrschaftAber die realistischen Unionisten bremsten den revolutionären Elan der Föderalisten aus. Sandys hob, mit Churchill als Galionsfigur, in einer glanzvollen Zeremonie am 14. Mai 1947 in Londons Royal Albert Hall als Gegenbewegung zur UEF die Organisation United Europe Movement (UEM) aus der Taufe. Churchill hielt eine furiose Rede, deren Quintessenz allerdings recht trivial anmutete: "Wenn Europa weiterleben will, muss es sich vereinigen". Vier Wochen später eilte Sandys nach Paris, dort konstituierte sich noch am selben Tag ein Französischer Rat für ein Vereinigtes Europa. So hatte Sandys seine Bataillone zusammen, als es um die Planung einer großen europäischen Manifestation in der niederländischen Hauptstadt im Frühjahr 1948 ging. Sandys war daran gelegen, in Den Haag eine Prominenten-Gala zu inszenieren statt der von den Föderalisten gewünschten Volkskampagne.Die Liste der 800 Delegierten und Gäste des Haager Kongresses las sich wie ein Who is who Westeuropas. Sie enthielt Namen wie Alcide De Gasperi, Robert Schuman, Léon Blum, Paul Henri Spaak, François Mitterrand, Anthony Eden, Harold Macmillan und viel andere politische und kulturelle Prominenz. Nicht zu vergessen Konrad Adenauer, sein späterer Außenminister Heinrich von Brentano und Walter Hallstein, der erste Präsident der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). "Wir Deutschen zum ersten Mal auf internationaler Bühne nach Kriegsende", vermerkte Jahre später der Bundestagsabgeordnete Erik Blumenfeld.Am Nachmittag des 7. Mai 1948 wehte die niederländische Trikolore auf den öffentlichen Gebäuden in Den Haag. Einträchtig daneben: die Kongressfahne mit dem grünen "E". Die Versammelten erhoben sich von ihren Plätzen, als gegen 14.15 Uhr "Ihre königlichen Hoheiten", Prinzessin Juliana und Prinz Bernhard, den Saal betraten. "Die persönliche Leitung des Kongresses durch Churchill gab ihm den Charakter einer Weltsensation", vermerkte der Gründer der Paneuropa-Bewegung, Richard Graf Coudenhove-Kalergi .Ein Manko bei diesem Kongress war, dass die westeuropäischen Sozialisten nach dem Beispiel der Labour Party zumeist daheim geblieben waren. So bestimmten, angefangen mit Churchills Eröffnungsrede, liberale und konservative Politiker die Szenerie. Am Ende, als eine Botschaft an die Europäer zur Akklamation anstand, verhinderte Duncan Sandys diesen förmlichen Akt, der nötig gewesen wäre, um das Dokument anschließend unters europäische Volk zu bringen und damit eine Massenkampagne für ein Vereinigtes Europa in Gang zu setzen.Gemessen an den großen Visionen der ersten Nachkriegszeit fiel das Ergebnis des Haager Kongresses recht bescheiden aus: Ein Plädoyer für eine schrittweise europäische Einigung, die zunächst in einer Europäischen Versammlung Gestalt annehmen, aber nicht an die Souveränität der Nationalstaaten rühren sollte. Auch die direkten Nachwirkungen des Kongresses - die Gründung der Europäischen Bewegung im Oktober 1948 und des Europarats im Mai 1949 - reichten bei weitem nicht an die Vorstellungen der Föderalisten über die europäische Integration heran. Henri Brugmans, einer ihrer Vordenker, resümierte später bitter: Hätte Lord Duncan Sandys sein taktisches Geschick, seine Energien und seinen Charme nicht gegen, sondern für das föderalistische Konzept eingesetzt, dann wäre 1950 die Europäische Föderation geschaffen worden. Böse Zungen wie Altiero Spinelli behaupteten sogar, Churchill habe die Vormundschaft über die Europäische Bewegung nur übernommen, um einen Europäischen Bundesstaat zu verhindern. Die Weichen waren jedenfalls in Richtung Staatenbund und nicht Bundesstaat gestellt. Europäische Bewegung bis 19481923 Richard Graf von Coudenhove-Kalergi gründet die Paneuropa- BewegungMai 1924
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.