Der geheime Raum

Nahaufnahme Die Fotografien des Regisseurs F. W. Murnau vereinen Schaulust, Neugierde und Intimität
Ausgabe 20/2014
Der geheime Raum

Illustration: Otto

Zu den gut gehüteten Geheimnissen der Stadtgeschichte von Los Angeles gehört, dass es dort einmal ein dichtes, zuverlässiges Straßenbahnnetz gab. In den 20er Jahren verlor der öffentliche Nahverkehr dem Kampf um die Vorherrschaft auf den Straßen. Als Friedrich Wilhelm Murnau 1926 seinen ersten Hollywood-Film Sunrise drehte, war die Tram bereits ein Auslaufmodell. In einer staunenswerten Sequenz setzte er ihr ein Denkmal. Gerade noch wollte der untreue Ehemann seine Frau ermorden, brachte es dann aber doch nicht übers Herz. Gemeinsam steigen sie in eine Straßenbahn, die sie auf wundersam verschlungenen Wegen aus der Natur mitten in eine fremde Großstadt transportiert.

Die Strecke wurde im Studio aufgebaut, und sie verläuft nicht zuletzt deshalb so kurvenreich, weil die Architekten den Drehorten gleichzeitig entstehender Filme ausweichen mussten. Die Sequenz stellte das Team vor unerhörte Herausforderungen, aber Murnau setzte seinen Willen durch: In ihr wird eine noch europäische Auffassung von Urbanität heimisch an der Westküste.

Die nun veröffentlichten Privat-fotos des Regisseurs führen vor Augen, wie sehr das Antlitz amerikanischer Metropolen seine Neugier erregte. Er sucht in den Wolkenkratzerschluchten New Yorks nach einer menschlichen Dimension. Dort findet er immerhin noch Fußgänger vor, die in Los Angeles fehlen. Die Straßenbahn fällt ihm mehrmals ins Auge, er fotografiert sie als Passant und aus einem Wagen. Gegenüber dem Automobil steht sie auf verlorenem Posten.

Nicht bei allen Regisseuren, die auch fotografieren, muss man von einer Doppelbegabung sprechen. Die zusätzliche Schaulust ist oft eng an die filmische Arbeit geknüpft: Alain Resnais fotografierte Anfang der 70er Jahre mögliche Schauplätze für einen Film, den er nie realisieren konnte; Luis Buñuel machte in Mexiko Aufnahmen, die die karge Lebenswirklichkeit der Dörfer und Städte ohne Exotik einfingen und direkten Eingang in seine Filme fanden. Mitunter folgen Regisseure aber einer zweiten Neigung. Wim Wenders’ frühe Fotografien zeigen, wie sehr er amerikanische Kleinstädte und Edward Hopper mag. Absichtslos war keine dieser Eskapaden.

Murnaus Aufnahmen verraten einerseits seine Schaulust auf Landschaften; sie spannen einen Bogen von Sanssouci bis in die Südsee. Meist betrachtet man sie jedoch mit jener Neugierde, mit der man einen geheimen, verschlossenen Raum betritt. Seine Homosexualität lebte Murnau diskret aus, seinen Filmen konnte er sie nicht anvertrauen.

So diente ihm die Fotografie als ein Terrain der Intimität. Sein begehrlicher Blick auf die Anmut junger Männer wirkt jedoch gezähmt. Nach heutigen Maßstäben sind seine Aktstudien fast keusch, nie sind Geschlechtsteile zu sehen. Murnau beherzigt die Codes seiner Zeit, bleibt einer klassischen, schwulen Ikonografie (namentlich dem Motiv des Dornausziehers) verhaftet. Die Darstellung eines natürlichen, sinnlichen Körpererlebens verbindet sich stets mit dem Element des Wassers: Bei Ausflügen an die Havelseen oder Segeltörns auf seiner Yacht, in Hollywood herrscht die Domestizierung am Swimmingpool vor. Seine Modelle ähneln einander in ihrer traumverlorenen, robusten Knabenhaftigkeit. Mal bringt die Kamera sie in Verlegenheit, mal halten sie deren Blick keck stand. Sie ahnen nicht, dass ihr Gegenüber einst im Kino die Kamera entfesselte. Sie müssen es auch nicht.

Die privaten Fotografien 1926–1931. Berlin, Amerika, Südsee Friedrich Wilhelm Murnau .Hrsg. von Guido Altendorf, Werner Sudendorf und Wolfgang Theis. Schirmer/Mosel, 120 S., 84 Tafeln in Duotone, 34 €

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