In der Kunstgeschichte laufen die Werke Gustave Courbets (1819-1877) unter der Etikette „engagierter Realismus“. Das ist nicht falsch, aber einseitig. Klaus Herding, der sich seit 40 Jahren wissenschaftlich mit Courbet befasst und die Ausstellung der Frankfurter Kunsthalle Schirn kuratiert hat, möchte einen neuen Blick auf Courbet werfen. Um es vorweg zu nehmen: eine ebenso beeindruckende wie gelungene Unternehmung.
Herding sieht in Courbets Bildern weniger die realistische Rekonstruktion der Welt als eine „traumwandlerische Sinnlichkeit“, die in ihrer präzis inszenierten Expressivität, in ihrer flächigen Farbbehandlung und mit ihrer fantastischen Imaginationskraft nicht auf den Realismus zurück-, sondern auf die Moderne vorausweist.
Insbesondere Courbets Selbstporträts und die Porträts von Künstlerkollegen trumpfen farblich nicht auf, sondern zeigen nachdenkliche Menschen, die den Blick nach innen richten – nicht auf den Betrachter. In den Selbstporträts vermischt sich diese Versenkung nach innen mit Angst und Schrecken – etwa im Selbstbildnis am Abgrund (1846-48) oder im Selbstbildnis als Cellospieler (1847).
Die Frankfurter Ausstellung zeigt rund 100 Bilder und Zeichnungen, darunter Werke aus Privatbesitz, die noch nie öffentlich zu sehen waren. Schlüsselwerke wie das Begräbnis in Ornans (1851) oder Das Atelier (1855) sind aus konservatorischen Gründen nicht mehr ausleihbar, aber dem Kurator ist es gelungen, andere Prachtstücke aus den großen Museen nach Frankfurt zu holen. Das Atelier im Musée d’Orsay wie die in Frankfurt ausgestellte Begegnung oder Bonjour, Monsieur Courbet (1854) rücken den Maler ins Bildzentrum und zeigen ihn als poetischen Träumer.
Leserinnen, Kinder und Bacchantinnen im Schlaf nehmen das Traummotiv auf – wie die Dame auf der Terrasse (1858) oder Die schlafenden Mädchen an der Seine, im Sommer (1856/57), gestisch in erotische Tagträume versunken. Diese – wie auch einige drastischere – Bilder brachten dem Maler Ärger und Spott ein. Einen liegenden Akt von 1866 karikierte Le journal amusant als aufblasbare, nackte Puppe.
Herdings Blick auf den „anderen Courbet“ lässt sich an den Landschaften, Meerbildern und Stillleben überprüfen. In diesen Werken geht es nicht mehr um die Darstellung von Wirklichkeit, sondern – den Impressionismus präludierend – um Stimmungen und Naturerlebnisse, die der Maler verarbeitet, indem er reale Formen und Konturen in Farbmaterie auflöst.
Besonders eindrücklich sind die Traumwelten seiner späten Bilder von der Gewalt des Meeres. Es spricht für die Modernität von Courbets Malweise, dass diese Bilder die jüngeren Maler von Monet und Manet bis Cézanne und Picasso beeindruckten. Die Wogenbilder wurden zwar in der Natur skizziert, aber im Atelier vollendet. Das legt die Deutung nahe, dass sie sich nicht allein dem Blick in die Natur, sondern auch dem nach innen und ins Surreale verdanken. In Jagdbildern wie dem verletzten Hirsch am Wasser (1858/61) und der phänomenalen Forelle (1873) am Angelhaken zeigt sich die Identifizierung des Jägers Courbet mit dem Tier. Vielleicht enthalten diese Bilder aber auch, wie Klaus Herding vermutet, ein „verdecktes Selbstporträt“ des politisch verfolgten Malers.
Courbet. Ein Traum von der Moderne
Kunsthalle Schirn, Frankfurt am Main, bis 30. Januar 2012, der Katalog kostet 34,80
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