Der Kopf in den Wolken

Stilwelt Ein Überschuss, den man lieben muss: Xavier Dolans epische und leidenschaftliche Transgender-Love-Story „Laurence Anyways“ überperformt einen rasanten Eklektizismus
Ausgabe 26/2013

Xavier Dolans Film Laurence Anyways ist eine beachtliche Nervensäge. Wie soll man sich zu einem Film verhalten, der sich vehement auf eine vermeintliche Normalität beruft, um dann ständig auf der eigenen Andersartigkeit und Größe zu insistieren? Diese Hybris kann sich nur leisten, wer lange im Geschäft ist oder noch jung genug, um nicht schon einmal Gegenwind gespürt zu haben.

Dolan zehrt mit seinen 24 Jahren vom Nimbus des Wunderkindes. Erschwerend kommt hinzu, dass nach nur zwei Filmen (Ich habe meine Mutter getötet, 2009; Herzensbrecher, 2010) so viele biografische Splitter in der Umlaufbahn um diesen neuen Fixstern des nordamerikanischen Queer Cinema kreisen, das Laurence Anyways kaum mehr unvoreingenommen gesehen werden kann. Die ersten Kritiker zeigten sich bereits ein wenig reserviert. Ihre Skepsis ist ebenso nachvollziehbar wie die ungebrochene Begeisterung für Dolans Nassforschheit.

Laurence Anyways dreht sich um das Problem, ein nonkonformes Lebensmodell als selbstverständlich zu behaupten. Dolan gibt dafür einige überzeugende Anleitungen, vor allem hat er eine angemessene filmische Form gefunden: Er suspendiert den Realismus und ersetzt ihn durch eine avancierte Spielart des Camp; nicht im Sinne Almodóvars, eher im Rahmen der Familienaufstellungen von Cassavetes. Laurence (Melvil Poupaud) und Fred (Suzanne Clément) sind durchgeknallt und gerade darum normal. Laurence ist ein Hotshot unter den jungen Literaten, der nebenbei an der Uni doziert. In seinen Vorlesungen erzählt er vom Analverkehr bei Proust, die Studentinnen finden ihn süß, einige sogar sexy.

Jedenfalls zeigen sie sich nur kurz irritiert, als er eines Morgens in Frauenkleidern (stilsicher provokant: im grünen Kostüm mit gelben High Heels) vor der Klasse steht. Freundin Fred braucht etwas länger, um sich mit der neuen Situation abzufinden. Erst zieht sie zur manipulativen Mutter und der nihilistischen Schwester (dunkel und großartig: Monia Chokri), bis sie zu realisieren beginnt, dass Laurence ihr die Möglichkeit bietet, ihre Libertinage in einem unkonventionellen Beziehungsmodell auszuleben. Laurence, eine Frau im Mann, und Fred versuchen es weiter miteinander, über einen Zeitraum von zehn Jahren. Den sogenannten Neunzigern.

Depeche Mode

Dolan liebt das Kino, ein bisschen übertrieben vielleicht, so ungestüm, wie er seine Hingabe in jedes Bild projiziert. Man könnte auch sagen, dass er seine Leidenschaft in Laurence Anyways überperformt. Selbstbeschränkung ist seine Sache nicht, er zieht alle filmischen Register – Videoclip, Arthouse-Manierismen, Burleske, Traumsequenzen – und mixt die Stile. Mit 168 Minuten fällt sein Film erzählökonomisch eine halbe Stunde zu lang aus. Aber man kann Dolan seinen freidrehenden Formwillen nachsehen, denn er gibt nicht viel auf klassische Narration. Er spürt Intensitäten nach, kleinen Wirbeln entlang der biografischen Brüche, von denen sich seine Figuren treiben lassen.

In der Wahl seiner Mittel ist Dolan nicht subtil. Die Friktionen der Konflikte (veranschaulicht etwa in der zufälligen Berührung zweier Jacken im Supermarkt) sind oft musikalisch aufgeladen. Musik wird demonstrativ eingesetzt, im Grunde läuft alles in Laurence Anyways auf dieses Wirkungsmoment hinaus. Laurence und Fred schubsen sich zum New-Romantic-Pop von The Cure, Depeche Mode, Visage und Duran Duran durch ihre Beziehung.

Im Hintergrund läuft dabei stets die Frage mit, wie weit man gewillt ist, sich auf ein Leben außerhalb der gesellschaftlichen Konvention einzulassen – auch wenn Dolan mit seinem ausufernden, hypertrophen Stil da keinen Zweifel lässt. Selbst als Bildformat hat er das nicht mehr gebräuchliche 1:33-Ratio des frühen Tonfilms gewählt. Der Achtziger-Jahre-Sound fungiert gewissermaßen als Scharnier zwischen den Selbstfindungsphasen. Absolut umwerfend ist hier Freds Auftritt auf einem Gatsby-artigen Filmball zu der wummernden Melancholie von Fade to Grey. Die Szene besteht nur aus Farben, Synthesizerflächen und schönen Körpern. Maximale Synästhesie, der Kopf in den Wolken. „Die Erde ist mir egal“, sagt Laurence einmal zu Fred. „Wenn man erst mal oben war, will man nicht mehr runter.“

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