Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn: zum Beispiel nach Italien, mit Bob Dylan auf dem Kassenrecorder und Aktionen im Sinn
Foto: Maurice Jarnoux / Paris Match / Getty
Wahrscheinlich wird man ja bald seinen Kindern erklären müssen, dass im 20. Jahrhundert nicht nur böse Menschen Auto fuhren. Vielmehr war das Auto damals Vehikel sehr verschiedener Freiheitsversprechen: für freie Bürger ebenso wie für Leute, die gerade nicht bürgerlich sein wollten. Die Hochkonjunktur dieser emphatischen Besetzung von Autos dürfte in den sechziger und siebziger Jahren zu verorten sein, mit einem ersten leichten Dämpfer durch die Ölkrise von 1973, Autos waren schon ziemlich verbreitet; Sicherheitsgurte aber setzten sich nur langsam durch; 1970 wurde konsequenterweise ein Toter Formel-1-Weltmeister, Jochen Rindt.
Es mag schräg erscheinen, Ulrike Edschmids schönes kleines Buch Das Verschwinden des Philip S. als Beitra
S. als Beitrag zu einer Geschichte des Autos um 1970 zu lesen – jedoch ist eine solche Lektüre durchaus möglich. Zwar geht es in diesem Buch in erster Linie um einen jungen Mann, der bereits auf der Legende zum Foto auf dem Schutzumschlag als Philip Sauber ausbuchstabiert wird. Es gab ihn wirklich, wenngleich sein Vorname in anderen Quellen meistens Werner lautet, und die Autorin kannte ihn so gut, dass die Gattungsbezeichnung „Roman“ auf dem Titelblatt vielleicht nur eine Vorsichtsmaßnahme ist: Falls etwa ein anderer Zeitzeuge behauptet, an diesem oder jenem Abend auch dabei gewesen zu sein, müsste man sich nicht darüber streiten, wer recht hat. Und der Motorsport-Halbgebildete wird nicht diesen Sauber, sondern seinen Bruder Peter mit Autos assoziieren: mit dem Inhaber des Formel-1-Teams, das noch heute um Punkte mitfährt. Selbstverständlich erhält auch dieser Sauber, der in den späten sechziger Jahren noch, mittelprächtig erfolgreich, selbst am Steuer saß, im Buch einen Gastauftritt.Überwindung der KleinfamilieUlrike Edschmid lässt sich solche Bezüge nicht entgehen – war doch schon ihr Schwiegervater, der expressionistische Schriftsteller Kasimir Edschmid, ein Autonnarr, der 1938 ein „Auto-Reisebuch“ veröffentlichte. In ihrem eigenen Roman Die Liebhaber meiner Mutter von 2006 werden Familiengeschichte und westdeutsche Nachkriegsgeschichte dann automobil erschlossen und enggeführt; der letzte dieser Liebhaber erweist sich nicht zuletzt darum als der beste, weil er nonkonformistischer Geistesmensch und Autonarr ist; im Opel Coupé geht es nach Südfrankreich, wo man Bücher liest und durch die Landschaft kurvt.Und als die Mutter längst gestorben und ihr Geliebter selbst dem Tode nahe ist, wird er, der in Das Verschwinden des Philip S. ebenfalls einen kleinen Gastauftritt hat, mit dem Citroën Maserati durch die Welt gefahren.So mag es also nicht erstaunen, dass Autos auch, wie Edschmid lakonisch miterzählt, die Geschichte von Philip Sauber skandieren. Denn Autos sind Vehikel für die Verschaltung von Privatem und Politischem. Der Bürger begründet ja noch heute seinen Anspruch auf die freie Fahrt vor allem damit, dass er möglichst schnell vom Arbeitsplatz zum Wohnsitz und zurück verkehren möchte. Komplizierter wird es, wenn man eben dieses Verhältnis von Privatem und Politischem selbst einer grundsätzlichen Befragung unterzieht – und darum geht es in Edschmids Buch.Nicht nur erwirbt Philip S., der 1967 als Neunzehnjähriger aus der Schweiz nach Berlin gekommen ist, um an der damals gerade erst gegründeten Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) zu studieren, zwei Jahre später einen Taxiführerschein. Noch lässt sich dabei die Verlockung der Nacht, auf der Suche nach dem kürzesten Weg zwischen Wittenau und Britz, mit dem Gelderwerb verbinden. Darüber hinaus jedoch wechselt Philip S. in kurzer Zeit zweimal seine eigenen Autos im Einklang mit den jeweils gewählten Lebensentwürfen. Erst zündet er seinen kleinen Citroën an, um vom Geld der Versicherung einen Bus zu kaufen, weil er nicht nur für Ulrike Edschmids Kind mitsorgen, sondern an der Überwindung der Kleinfamilie mitarbeiten will.1967 wurde ja nicht nur die ‚Kommune‘ erfunden, die als Bezeichnung für eine Wohnform inzwischen schon wieder archaisch klingt, sondern auch der ‚Kinderladen‘, der aus dem Berliner Wortschatz nicht mehr wegzudenken ist – wenngleich der Zusammenhang von Privatem und Politischem inzwischen auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie heruntergeschrumpft wurde.Philip S. jedoch verkauft den Bus bald schon wieder und legt sich einen Peugeot 404 zu. Es ist das Fahrzeug für den Weg in den Untergrund. Philip S. fährt, mit dem „Ellenbogen im heruntergekurbelten Fenster“, unter anderem nach Italien, wo er sich von Fiat-Arbeitern einen zurechtgeschliffenen Zündschlüssel geben lässt, mit dem sich auch in Deutschland einfach Autos klauen lassen, die dann für Anschläge eingesetzt werden können. Denn man will nicht noch einmal den Anfängerfehler machen, den Molotow-Cocktail auf das Amerikahaus aus dem Citroën des Freundes zu werfen, dessen Nummernschild schnell zur Identifizierung der Täter führt.In diesem Umfeld findet Philip S. denn also auch den Tod: 1975 sitzt er mit anderen in einem Auto, als er in Köln von der Polizei kontrolliert wird, die wegen eines mutmaßlichen Autodiebstahls gerufen wurde. Da steht er als Mitglied des „2. Juni“ längst auf Fahndungsplakaten. Es kommt zum Schusswechsel; auch ein Polizist stirbt dabei.Geblieben ist von Sauber Der einsame Wanderer, ein Film, den er als Student der DFFB gedreht hat. Edschmid beschreibt einige Szenen des Films, aber auch die Diskussionen über ihn. Während Saubers Kommilitone Holger Meins sich, schon aus juristischen Gründen, an der Hochschule für Film (HFF) in München darum bemüht haben soll, dass sein Kurzfilm Wie baue ich einen Molotow-Cocktail? als Kunst anerkannt werde (Meins wird ja wenig später in den Untergrund gehen und RAF-Mitglied der ersten Generation werden), vermisste man bei Saubers Film umgekehrt die politische Aussage.Die Kompromissformel, es handle sich halt um einen Angriff auf „bürgerliche Sehgewohnheiten“, notiert Ulrike Edschmid nicht ohne leise Ironie. Wenn denn einmal das Politische und das Poetische eins wären, dann wäre das ja, um mit Peter Handkes und Wim Wenders’ Zwischenbilanz aus Saubers Todesjahr zu sprechen, das Ende der Sehnsucht, und also das Ende der Welt. Bis dahin kann niemand keine falsche Bewegung machen.Die drei schwarzen BMWsEdschmids Bericht vom Versuch, das Verhältnis von Privatem, Politischem und Poetischem noch einmal ganz neu zu bestimmen, setzt klugerweise dieses Verhältnis seinerseits nicht als gegeben voraus.Zwar liegt es nahe, das Buch als Gegengeschichte zur offiziellen Dokumentation des „Baader-Meinhof-Komplexes“ zu lesen, also als Verschiebung vom offensichtlich Politischen zum Privaten, das irgendwie „dahinter“ stünde, denn Ulrike Edschmid konnte andeutungsweise schon deshalb Philip S. nicht in den Untergrund folgen, weil das für ihr Kind unzumutbar gewesen wäre. Eine vergleichbare, bestenfalls halbrichtige Lesart drängt sich ja auch beim Briefwechsel zwischen Gudrun Ensslin und Bernward Vesper auf, der vor vier Jahren – übrigens auch bei Suhrkamp – erschien: als Bericht von der immerhin gelegentlich treusorgenden Mutter, die aus dem Knast heraus dem Vater die Anweisung gibt, doch darauf zu achten, dass das gemeinsame Baby beim Silvesterknallen nicht allein bleibe.Dieser Lektüre, die sich für die „Menschen hinter den Ereignissen“ interessiert, ist dann aber wieder der Anspruch der Beteiligten entgegenzuhalten, dass es eben nichts Privates mehr geben solle, welches vom Politischen unterscheidbar wäre. Edschmid lässt wohl mal durchblicken, dass dieser Anspruch unerfüllbar ist, gibt ihn aber nicht einfach preis.Es wäre durchaus plausibel, wenn Philip Werner Sauber noch lebte, Peter aber nicht mehr: Die Kurven der RAF-Toten und der Rennfahrer-Toten zeigen Ähnlichkeiten im historischen Verlauf. Kurz darf man auch an den Porsche-Liebhaber Andreas Baader denken, von dem man bis heute nicht so genau weiß, ob er Autos klaute, um Anschläge durchzuführen, oder Anschläge durchführte, um einen politischen Grund dafür zu haben, mit geklauten Autos durch die Stadt zu rasen. Bis zur sich geradezu aufdrängenden Verfilmung von Edschmids Buch kann man einen Film noch mal anschauen, der von einem späteren Stadium jenes gescheiterten Versuchs zur Versöhnung des Privaten und des Politischen erzählt, also aus der Nachgeschichte der sogenannten Dritten Generation: Christian Petzolds Die innere Sicherheit, an dessen Drehbuch Harun Farocki, ein weiterer von Saubers Kommilitonen, mitgeschrieben hat. Dort steigt der männliche Protagonist, inzwischen Vater einer Kleinfamilie im Untergrund, einmal mit erhobenen Händen aus seinem Volvo, als er sich an einer Kreuzung von drei schwarzen BMWs umstellt sieht. Die Ampel scheint stundenlang auf Rot zu bleiben. Dann schaltet sie nicht auf Grün, sondern geht ganz aus, und die BMWs fahren ungerührt weiter.
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