Soziologie ist ein Kampfsport.“ Der berühmte Satz Pierre Bourdieus ist für den großen französischen Denker gleichermaßen charakterisierend wie missverständlich. Letzteres vor allem deshalb, weil Bourdieu sich stets vom militanten Intellektuellentypus à la Sartre abgegrenzt hat. Gegen die vermeintlich „freischwebende Intelligenz“ der dröhnenden Allesdenker setzte er das Konzept des „reflexiven Intellektuellen“. Noch energischer opponierte er gegen die hyperaktiven „Doxosophen“, also jene umtriebigen Medienintellektuellen, die die hegemoniale Ordnung opportunistisch verteidigen. Das merkte man bereits am Habitus. Im Vergleich zu diskursiven Trolls wie Bernhard-Henri Lévy wirkte Bourdieu lammzahm.
Zum andere
Zum anderen kann das Zitat irreführen, weil es verkürzt ist. Vollständig heißt es: „Soziologie ist ein Kampfsport, den man zur Verteidigung gebraucht und in dem Fouls streng verboten sind.“ Und gerade auf Letzteres legte Bourdieu stets viel Wert. Methodische Gründlichkeit und analytische Schärfe waren seine unhintergehbaren Prämissen. Wo andere sofort den politischen Acker umpflügen wollten, inspizierte er zunächst die sozialen Felder. Gern zitierte er ein unübersetzbares Bonmot Virginia Woolfs: „General ideas are always General’s ideas“. Seine Perspektive, bemerkte er einmal, sei „die von Fabrizius, dem Helden aus Stendhals Kartause von Parma, der nichts sieht, nichts versteht, dem die Kugeln nur so um die Ohren fliegen“.Pariser BourgeoisieDennoch passt das Bild des intellektuellen Kampfsportlers für den 2002 verstorbenen Soziologen ganz gut. Zum einen, weil er zu den engagiertesten Denkern seiner Zeit gehörte. So setzte er sich etwa für streikende Bahnarbeiter ein, unterstützte die französische Arbeitslosenbewegung oder fungierte als Mitbegründer von Attac. Insbesondere in seinem Spätwerk, vor allem in den Bänden Das Elend der Welt und Gegenfeuer, stellte er seine theoretische Arbeit dezidiert in den Dienst der Kapitalismuskritik. Zum anderen war seine eigene Bildungsbiographie vom steten Kampf geprägt. Denn obschon die renommiertesten Kaderschmieden Frankreichs durchlief, musste er sich anfangs durchbeißen. Gehörten die meisten seiner Mitschüler nämlich zur Pariser Bourgeoise, beispielsweise Pierre Nora und Michel Deguy, kam Bourdieu, dessen Vater Briefträger im Béarn war, aus einfachen Verhältnissen. Das verband ihn zwar mit seinen Kommilitonen Jacques Derrida und Michel Serres, erzeugte aber auch eine Art gläserne Wand gegenüber den universitären Eliten. Dass er sich deshalb etwa seinen gaskognischen Akzent abtrainieren musste, hatte ihn früh für jene symbolische Gewalt sensibilisiert, die er später in Die feinen Unterschiede so eindrucksvoll untersuchen sollte. Und schließlich war es Mitte der 1950er Jahre auch der Militärdienst in Algerien, der Bourdieus Werdegang die entschiedene Wende gab. Nach dessen Ende blieb er nämlich im Land und begann in der Kabylei mit seinen ersten Feldforschungen, seine Dissertation in Philosophie brach er ab und landete über die Ethnologie bei der Soziologie.All das im Hinterkopf zu haben, ist durchaus hilfreich, wenn man Bourdieus gerade auf Deutsch erschienenen Band Über den Staat zur Hand nimmt. Denn die hier versammelten Vorlesungen, die er von 1989 bis 1992 am Collège de France, diesem Tempel der „heiliggesprochenen Häretiker“ hielt, offenbaren sich einerseits zwar als klassischer Ausweis seiner bekannten Synthese von System- und Handlungstheorie, verhandeln andererseits aber auch ein Sujet, das in seinem Werk eine untergeordnete Rolle spielt. Bourdieu unternimmt den ambitionierten Versuch, den Staat ohne Staatsdenken zu denken. Das heißt, seine Effekte zu analysieren, ohne diese gleich in jene Funktionslogiken einzubetten, die vom Staat selbst erst geschaffen wurden. Und das macht er, grob gesagt, auf zwei verschiedenen Ebenen. Zum einen geht es ihm um eine Neuakzentuierung der klassischen Staatstheorie. Verweist Max Webers kanonische Definition auf das Monopol der physischen Gewalt, müsse diese um die symbolische Dimension ergänzt werden. Denn der Staat sei eben nicht nur Armee, Polizei und Bürokratie, sondern vor allem ein riesiges Reservoir an symbolischen Ressourcen. Er liefert die Legitimation der hegemonialen Ordnung, indem er Klassifikationssysteme entwirft, offizialisiert und objektiviert. Und das betrifft nicht etwa nur die Ausgabe von Diplomen und Zertifikaten, sondern bezieht sich bereits auf so fundamentale Dinge wie die Zeit oder die Orthographie. Der Staat orchestriert die Bedingungen des Denkens und stiftet somit jene unbewussten Sozialverträge, die sich historisch oftmals als die sichersten erweisen.Symbolische KämpfeBourdieu illustriert, dass sich klassische hard power nicht ohne soft power denken lässt. Das zeigt das Beispiel der Besteuerung. Hat Norbert Elias betont, dass der Staat letztlich ein legitimer Erpresser ist, so ist es sein symbolisches Kapital, das diese Zwangsmaßnahme sozial akzeptabel macht. Denn erst wenn Räuberbarone mit Uniform und Siegel auftreten, werden sie nicht mehr als solche wahrgenommen.Fungiert der Staat also als Benennungsmacht schlechthin, kreisen die symbolischen Kämpfe, die ihn konstituieren, buchstäblich darum, wer das letzte Wort hat. Das schildert Bourdieu auf einer zweiten Ebene, indem er einen „genetischen Strukturalismus“ betreibt. Das heißt, dass er den Entstehungsprozessen des (modernen) Staates am Beispiel Frankreichs, Englands und Japans im 16. und 17. Jahrhundert nachspürt, um jene Bedeutungen und Mechanismen, die durch Gewöhnung unbewusst wurden, wieder evident zu machen. Er geht also zurück zu den Anfängen, weil bei der Entstehung (oder dem Zerfall) eines Staates jene Fragen auftauchen, die später gar nicht mehr gestellt werden: „Wo enden die Grenzen? Muss man französisch sprechen, um Franzose zu sein? Ist man, wenn man nicht französisch spricht, noch Franzose? Genügt es, französisch zu sprechen, um Franzose zu sein?“ Man muss nur auf die Ukraine blicken, um zu sehen, wie aktuell das ist.Historisch gesehen, bedurfte es für die allgemein verbindliche Beantwortung dieser Fragen indes unzähliger symbolischer Operationen. So war allein der Wechsel von der Logik des Königshauses zur Staatsräson ein „Produkt tausender kleiner Erfindungen“. Auf über 700 Seiten vollzieht Bourdieu dies anhand einer ganzen Reihe von politischen Ritualen und Praktiken äußerst detailliert nach und zeigt damit beispielsweise, wie der dynastische und juridische Diskurs zusehends in Konflikt geraten. Das gleichermaßen Entscheidende wie Interessante ist dabei, dass die entsprechenden Akteure oft uneins mit sich selbst sind. Ein Beispiel: Um die Macht gegen seine Anverwandten abzusichern, setzten Könige zunehmend auf das Juristenkorps, sodass die eigene Position relegitimiert wurde. Gerade weil die Beamten in den Dienst des dynastischen Prinzips gestellt wurden, konnten sie dem juridischen Prinzip Vorschub leisten. Der König vermochte seine Macht nur auszubauen, indem er sie gleichzeitig beschränkte.Betrachtet Bourdieu den Staat vorrangig als Konzentration symbolischer Ressourcen, so ist klar, dass er sich damit nicht nur von Strukturfunktionalisten wie Luhmann oder Parsons, sondern vor allem vom Marxismus distanziert. Und zwar nicht nur weil dieser zu jenen „General’s ideas“ gehört, sondern, weil dessen monokausale Vorstellung vom Staat als Zwangsapparat, der die Interessen des Kapitals sichert, viele jener ideologischen Effekte, die er fortlaufend beschwört, nicht wirklich erklären könne. Nach Bourdieu muss man den Staat eben nicht als Handlungssubjekt, sondern vielmehr als fragmentiertes Ensemble von umkämpften Feldern verstehen, in denen die Akteure ambivalent agieren und bisweilen unbeabsichtige Effekte erzeugen.Weder göttlich noch teuflischBourdieu erweist sich so im positiven Sinne abermals als großer Verkomplizierer. Vieles, was uns am Staat natürlich erscheint, wird von ihm haarklein dekonstruiert. So gesehen, ist es durchaus sinnig, dass Bourdieu einmal an Derrida schrieb: „Ich sage mir manchmal, wenn ich Philosophie machte, würde ich sie so machen wie du.“ Denn beide wussten: Es ist gerade das Unproblematische, dass problematisiert werden muss.Sicher: Bourdieus Studie weist notwendigerweise Lücken auf. Den Konnex von Staat und Ökonomie, die Logik revolutionärer Umbrüche oder die Rolle von Gewalt und Terror bleiben unterbelichtet. Darüber hinaus sind in den rund 25 Jahren, die seit den Vorlesungen vergangen sind, auch viele der hier hervorgebrachten Gedanken in die Forschung eingeflossen. Dennoch offenbart Bourdieu in Über den Staat zwei wesentliche Einsichten: Zum einen, dass soziale Felder, und damit auch die des Staates, denen der Gravitation ähneln: das Wesentliche sieht man nicht. Zum anderen, dass sich Staatstheorie niemals manichäisch denken lässt, es prinzipiell also weder den göttlichen noch den teuflischen Staat gibt. Und genau deshalb, so hat Bourdieu immer wieder betont, muss man die Dinge immer genau sezieren, um sie bekämpfen zu können.
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