Griechenland Die Dreier-Koalition aus Nea Dimokratia, PASOK und Dimar wankt. Gäbe es die dritten Neuwahlen in einem Jahr, wäre der Abschied vom Euro wohl besiegelt
Zwischen den Heuschrecken-Kapitalisten und seinen Radikal-Sanierer passt nicht einmal mehr das berühmte Löschblatt
Foto: Oli Scarff / Getty Images
Einsparungen von 11,5 Milliarden Euro soll Griechenland in den kommenden zwei Jahren bringen, damit weitere Finanzhilfen der Troika aus EU-Kommission, IWF und EZB gesichert sind. Gut sechs Milliarden sind beisammen, über den Rest herrscht Uneinigkeit. Die Regierung von Premier Andonis Samaras steht unter einem enormen Erwartungsdruck – nicht nur der Troika, die endlich Taten sehen will. Er muss Steuern eintreiben, Gehälter, Renten und Gesundheitsausgaben kürzen, den Staat verschlanken. Doch die Koalitionspartner PASOK und Demokratische Linke (Dimar) bleiben der Nea Dimokratia jeden allzu großen Gefallen schuldig. Kein Wunder, wenn sich die Opposition für die nächsten Neuwahlen rüstet. Vieles deutet darauf hin.
Krankenkassenärzte und Apotheker wo
otheker wollen streiken, falls die bankrotte Nationale Krankenkasse EOPYY nicht endlich ihre Schulden bezahlt. Weil sie das unterlässt, können bedürftige Patienten in den Apotheken nur gegen Barzahlung Medikamente erhalten oder müssen sehen, wo sie bleiben. Für eine gereizte Stimmung sorgt auch die Beamtengewerkschaft, die vom „Verkauf des öffentlichen Sektors an die Geier“ spricht und ebenfalls streiken will wie sonst noch die Grundschullehrer sowie die Angestellten von Post und Banken. Und da sind auch noch die fast 25 Prozent Arbeitslosen, eine darnieder liegende Ökonomie und elf Millionen Bürger, denen nur noch eines übrig bleibt: warten, bis ihnen alles um die Ohren fliegt.Explosive LageKurz, die Lage ist explosiv. Da nützt es wenig, wenn der IWF die Eurostaaten energisch drängt, auf Forderungen zu verzichten. Die Zinslast soll drastisch sinken. Regulär hätte Athen bis Ende 2014 etwa 24 Milliarden Euro zu zahlen. Bisher jedoch kann sich die EZB dafür ebenso wenig erwärmen wie das Gros der EU-Regierungen.Alle drei Regierungsparteien hatten im Wahlkampf vor dem Votum am 17. Juni versprochen, keinem weiteren Staatsangestellten zu kündigen. Auch wollte man Renten und Gehälter nicht nochmals kürzen. Plötzlich sollen nun etwa 45.000 Beamte in den Vorruhestand. 70 Prozent ihres Gehaltes dürfen sie mitnehmen. „Jein“, sagt dazu PASOK-Chef Evangelos Venizelos, in dessen Partei es kräftig rumort. Einige Abgeordnete, unter ihnen der ehemalige Premier Jorgos Papandreou, wollen gegen weitere Einsparungen im Staatsapparat stimmen. Die einstige Volkspartei fürchtet die Spaltung und einen Absturz in die Bedeutungslosigkeit. „Nein“, sagt Fotis Kouvelis, Chef der Demokratischen Linken. „Es darf keine weiteren sozialen Einschnitte geben.“ Noch fehlt ein Konsens. Bleibt er aus, droht die ohnehin wackelige Koalition auseinanderzubrechen. Neuwahlen wären fällig, erneut würde Zeit verloren gehen, alles käme zum Stillstand. Vermutlich wäre das der Anfang vom Ende Griechenlands in der Euro-Zone.Immerhin, beschlossen sind Fusionen oder Schließungen von 255 Sinnlos-Behörden, deren Zweck darin bestand, Freunde auf die Gehaltslisten zu bugsieren. Ebenso sollen Universitäten zusammengelegt werden, die nur eine Handvoll Studenten vorweisen können. Jede Stadt eine Universität, so lautete einst ein Leitspruch der PASOK. Gekürzt werden Abschiedszahlungen vor der Pension stehender Beamter. Alles Tropfen auf den glühend heißen Stein. Was die Regierung braucht, sind Milliarden. Allein eine Milliarde könnte sie einnehmen, würden die gegen Steuersünder bereits verhängten Geldstrafen auch eingetrieben. Entsprechenden Druck übt Finanzminister Yannis Stournaras auf die Steuerfahndungsbehörde SDOE aus. „Sofort einsammeln“, heißt das Kommando.Ebenso sollen Korruptionsfälle künftig im Schnellverfahren geklärt werden. Die Justizbehörden mahlen so langsam, dass Delikte, bevor sie überhaupt gerichtlich geklärt werden können, bereits verjährt sind. In einem vergleichbaren Zeitlupentempo werden Reformen umgesetzt. Anastasios Barakos beispielsweise, Chef der staatlichen Nickelfabrik LARCO, ignorierte schlichtweg die Anordnung, die Löhne seiner Mitarbeiter zu senken. Im Gegenteil. Er erhöhte die Prämien.SelbstzerfleischungEs sind genau solche Nachrichten, mit denen die Nation überschüttet wird. Kein Tag vergeht, an dem die Medien nicht über Betrügereien und politische Vorteilsnahme berichten. Für Zorn sorgt gerade Vyron Polydoras von der Nea Dimokratia. Der Politiker wurde am 18. Mai zum Parlamentspräsidenten gewählt. Seine Amtszeit dauerte keine acht Stunden. In dieser kurzen Zeit verschaffte Polydoras seiner Tochter umgehend eine unkündbare Stelle im Abgeordnetenhaus, das er noch am gleichen Tag wegen der unumgänglichen Neuwahlen auflöste. „Völlig legal“, argumentiert Polydoras. Mag sein. Nur wie erklärt er das dem Heer der Arbeitslosen? Wie jenen, denen er und seine Nea Dimokratia schon morgen kündigen werden? Vor allem derartige Gaunereien befeuern das ohnehin aufgeheizte Klima.Angestellte der staatlichen Krankenkasse IKA fingierten Abrechnungen für Entbindungen und Operationen, die nie stattgefunden haben und sackten 400.000 Euro ein. Bei Mitarbeitern der staatlichen Baubehörde fand man zwei Millionen Euro auf dem Konto. Eine einfache Gerichtsangestellte brachte es gar auf sieben Millionen, verteilt auf 30 Banken, während die Leiterin eines Finanzamtes „nur“ ihren Verlobten deckte, der seine Steuern nicht beglich. In allen Fällen wurden überführte Straftäter nicht entlassen, sondern lediglich für ein paar Monate suspendiert. All diese Betrügereien entfachen keinen gesellschaftlichen Diskurs. Niemand fragt sich, wie es zu den vielen moralischen Entgleisungen überhaupt kommen kann. Was derzeit in Griechenland stattfindet, ist Anthropophagie – Selbstzerfleischung. Jede Berufsgruppe zeigt mit dem Finger auf die andere und bezichtigt sie irgendeines Privilegs. Die Grundschullehrer zeigen auf die Gymnasiallehrer, weil sie kaum arbeiten und sich mit Privatunterricht Tausende von Euro schwarz hinzuverdienen. Alle Lehrer zeigen auf die Mitarbeiter der halbstaatlichen Stromgesellschaft DEI, weil die etliche Vorzüge genießen. Das Justizministerium zeigt auf das Wirtschaftsministerium, weil die Mitarbeiter mehr Boni erhalten als sonst irgendwo. Das Wirtschaftsministerium wiederum zeigt auf das Transportministerium, weil dort, alle an der Vergabe von Führerscheinen verdienen. Wer, wann und wodurch wie viel profitiert – das ist das große, alles beherrschende Thema. Und niemand lässt ein gutes Haar am anderen.Argumentum ad hominem – lautet die kollektive Beweisführung. Nicht in der Sache wird argumentiert, sondern gegen die Person der Gegenseite. So können jeder und alles diskreditiert werden. Die Dialog- und Diskurs-Kultur Griechenlands erschöpft sich in der Emotionalisierung eines Themas. Was als Finanzkrise begann, hat ein mentales Erdbeben ausgelöst. Die griechische Gesellschaft droht, daran zu zerbrechen. Und keine Arche Noah in Sicht. Die Menschen stehen in erbitterter Konkurrenz zueinander, es herrschen Zwietracht und Neid, jeder fühlt sich übervorteilt, jeder hat Angst, über den Tisch gezogen zu werden. Vom Nachbarn, vom Arbeitgeber, vom Staat, von der Troika.Ganz am Ende dieser Kette gegenseitiger Schuldzuweisungen stehen die Ausländer – Pakistani, Afghanen, Iraker und Nordafrikaner. „Die haben hier nichts verloren“, darin sind sich fast alle einig. In der Tat sind die Zuwandererströme ein Problem. Allein in den vergangenen sechs Jahren kamen mehr als 700.000 Migranten illegal nach Griechenland, das als Einfallstor in die EU gilt und dessen Grenzen kaum zu kontrollieren sind. Am vorigen Wochenende machten in Athen Gangs Jagd auf Einwanderer und erstachen einen 19-jährigen Iraker. Ein Novum in einem Land, das vor Jahren noch zu Recht von sich behaupten konnte, Ausländerhass nicht zu kennen.
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