Auftritt Der rote Teppich führt in Cannes über eine stolze Treppe. Zum Festivalbeginn mit dem Biopic „Grace“ erzählt Lukas Foerster eine Geschichte des Films entlang von Stufen
Sie hat 24 Stufen und ist ausgelegt mit einem sattroten Teppich: die Treppe zum Festivalpalais in Cannes. Jahr für Jahr bildet das Palais den Hintergrund für das Schaulaufen der Stars. Selbst erklommen oder auch nur in natura erblickt habe ich es noch nicht, auch dieses Jahr kann ich das Gipfeltreffen des internationalen Autorenfilms nur aus der Ferne verfolgen. Deshalb möchte ich diese für mich unerreichbare Treppe, die zu den Filmen führt, zum Anlass nehmen für ein paar Gedanken – zu einem Motiv des Kinos, das mich in den vergangenen Jahren zu faszinieren begonnen hat.
Wenn in einem Film eine Treppe auftaucht, werde ich immer neugierig. Im Zeitalter des Internets lernt man schnell, dass vermeintlich originelle (oder auch nur beknackte) Spezialinteressen
interessen lange nicht so originell (wenn auch vielleicht trotzdem so beknackt) sind, wie man sich das einmal gedacht, vielleicht gewünscht haben mag. Und so bin ich vor kurzem auf einen anderen Treppenfetischisten gestoßen: „28 Classic Movie Scenes Involving Stairs“ hat Brad Williams für das Onlinemagazin whatculture.com gesammelt und kommentiert. Williams’ Liste enthält Naheliegendes (Hitchcock, Rocky), weniger Naheliegendes (Ghostbusters, Ferris macht blau) und natürlich die kanonischste aller Treppenszenen des Kinos: Jene gut siebenminütige Sequenz aus Sergei Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin, in der Soldaten auf einer gigantischen Freitreppe in Odessa ein Blutbad anrichten.Attraktionen eigenen RechtsDie Liste hilft mir dabei, mein eigenes Interesse für Kinotreppen zu spezifizieren. Und zwar ex negativo: Die meisten der ausgewählten Szenen interessieren mich überhaupt nicht. Und die von Eisenstein vielleicht am allerwenigsten. Das Problem macht schon der Titel der Liste deutlich. Nicht „Scenes About Stairs“, sondern „Scenes Involving Stairs“. Treppen gehören zu jenen Attraktionen des Kinos, die sich in plain sight verstecken. Es dürfte schwieriger sein, auf Anhieb eine Liste mit 28 Filmen aufzustellen, in denen keine Treppe vorkommt, als eine Liste mit 28 spektakulären Treppenszenen. Mich interessieren Treppen dann, wenn sie zu Attraktionen eigenen Rechts werden. Meine Lieblingstreppen könnte man beschreiben als das expressive Moment des Raums, in dem sie installiert sind.In den Szenen, die Williams ausgewählt hat, werden die Treppen dagegen zwar sichtbar, aber fast durchweg nur als Funktion der Dramaturgie. Wieder und wieder fallen Menschen Treppenhäuser hinunter, jagen sich gegenseitig die Stufen hinauf, in Gremlins verwandelt sich ein Treppenlift in eine Raketenabschussrampe. Die Treppen werden in den Film involviert, könnte man sagen, um äußerliche Effekte und Affekte zu intensivieren. Eisenstein intensiviert besonders brillant, auf seiner Treppe geraten gleich mehrere Bewegungsarten aneinander, er schneidet den unbarmherzigen Gleichschritt der Soldaten gegen die wild übereinanderstolpernden Flüchtenden, lässt schließlich, im berühmtesten Teil der Szene, einen Kinderwagen frei über die Stufen gleiten. Die Potemkinsche Treppe (deren reales Vorbild inzwischen tatsächlich so heißt) ist die vermutlich filmischste Treppe der Kinogeschichte. Mich lässt sie trotzdem kalt – eben weil sie ganz Film geworden ist.Die Treppen, die mich faszinieren, lassen sich nicht ohne Weiteres von der Kamera und dem Bewegungskino vereinnahmen. Ich finde meine Treppen vor allem in der klassischen Phase des Kinos, in den Filmen der 30er bis 50er Jahre. Es sind zumeist Freitreppen, die nicht von einem Treppenhaus eingehegt werden, sondern in ausladenden, hohen, prunkvollen Zimmern sich offenherzig dem Blick darbieten. Und zu einer Bühne werden für die Menschen – meist Frauen –, die sie hinab- und heraufsteigen. Zum Beispiel Katharine Hepburn, die in der ersten Szene ihres ersten Films überhaupt, in George Cukors Eine Scheidung, eine Treppe herunterstolziert, ins Kino hinein. Oder die vielen Frauen, die bei Max Ophüls wieder und wieder Treppen betreten – mal, um sie in einer wuchtigen Bewegung hinabzueilen, mal, um zögernd auf ihnen zu verharren.Oben die IntimitätSolche Treppen verbinden nicht einfach nur zwei Räume, sondern zwei Sphären. Unten befindet sich ein mehr oder weniger öffentlicher Raum, oft ein Empfangszimmer: die Sphäre der Gesellschaft. Oben befinden sich die Gemächer, in die man sich zurückzieht, um sich, allein oder gemeinsam, von den Zumutungen der Öffentlichkeit zu erholen: die Sphäre des Privaten, der Intimität. In der noch weitgehend intakten patriarchalen Ordnung, die das klassische Kino zeigt, fällt den oben wie unten dominanten Männern der Wechsel zwischen beiden Sphären relativ leicht, den Frauen dafür umso schwerer: Ihre Subjektivität, ihr Begehren hat in der Sphäre der Gesellschaft keine Geltung. Es bleibt verbannt in das Gefängnis des eigenen Schlafzimmers.Wenn also eine Frau eine dieser speziellen Kinotreppen hinabsteigt, erfindet sie sich jedes Mal neu, legt eine Maske an, um in einer Welt zu bestehen, die nicht für sie gemacht ist. Wenn eine Frau umgekehrt eine solche Treppe emporsteigt, ist das immer auch ein erotisches Versprechen. Denn das Kino, das weiß jeder Zuschauer – und natürlich auch jede Zuschauerin –, respektiert die Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten gerade nicht, das Kino ist immer schon indiskret. Die Treppe im Kino, könnte man sagen, ist ein Medium dieser Indiskretion.All das erklärt auch, warum meine Lieblingstreppenszene des vergangenen Kinojahrs nicht etwa jener – natürlich großartige – Moment in Martin Scorseses The Wolf of Wall Street ist, in dem Leonardo DiCaprio völlig zugedröhnt versucht, die Treppe vor dem Country Club hinabzusteigen, und feststellt, dass sich deren Stufen vervielfacht haben. Sondern die Schlussszene von Steven Soderberghs Biopic Liberace, die die Treppensemantik des klassischen Hollywoodkinos gleich um zwei Dimensionen erweiterte: um eine transzendente und um eine schwule.Der Entertainer hat nach seinem Tod einen letzten Auftritt, in der Imagination seines von Matt Damon gespielten Liebhabers. Das berühmte Klavier steht auf einer ausladenden, weißen Showtreppe, Liberace selbst, der Zeit seines Lebens sein Privatleben von seiner öffentlichen Persona streng getrennt hielt, muss sich nicht einmal mehr mit den Stufen abquälen – er schwebt zu seinem Instrument hinauf. Und nach der letzten Verbeugung schwebt er ganz aus dem Film. Vielleicht in Richtung einer besseren Welt.
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