Diagnose: Pathologische Empathie

Literatur Rollentausch Mit „Physik der Schwermut“ ist Georgi Gospodinov ein irrer Roman gelungen
Ausgabe 07/2014

Im Mai 1969 erschien im New Yorker die Rezension eines gewissen Woody Allen über ein (fiktives) Buch, in dem ein (fiktiver) Literaturwissenschaftler die (fiktiven) Wäschelisten eines (fiktiven) Autors namens Metterling analysiert. Das war, natürlich, eine Parodie. Sie traf die Mikrophilologie, die sich für jedes noch so abwegige Lebensdetail der Autoren interessiert, alles zum Werk zu machen versucht.

Georgi Gospodinov, 1968 in Bulgarien geboren, hat in seinem Roman Physik der Schwermut nun eine Wäscheliste verewigt. Genauer: Eine Liste der Dinge, die ein Rekrut der Volksarmee beim Eintritt in die Kaserne mit sich führen sollte. Diese Liste ist ein möglicher Zugang zu einem literarischen Werk, aus dem man kaum wieder hinaus findet. Aber der Reihe nach. Obwohl es hier eigentlich keine Reihe gibt.

Hierzulande ist Gospodinov seit 2007 durch seinen Natürlichen Roman bekannt. Bereits zwei Jahre zuvor hatte der New Yorker – in diesem Fall ohne Ironie – den Roman als „anarchisches, experimentelles Debüt“ gefeiert. Dazu passt der Grundeinfall von Gospodinovs neuem Text: Der Erzähler leidet an einer seltenen Krankheit, an „Pathologischer Empathie“. Er versetzt sich derart in seine Mitmenschen hinein, dass er sie wird, ihre Geschichten erzählt. Und nicht nur die der Menschen: Er wird auch zur Nacktschnecke, die sein Großvater zur Linderung eines Magengeschwürs schluckt. Logisches Ergebnis dieser Erzählerkrankheit: „Ich sind.“ Damit beginnt es freilich, kompliziert zu werden. Denn eine Handlung gibt es nicht. Stattdessen Perspektivwechsel, Zeitsprünge, Gedankensprünge und allenfalls Leitmotive, nein, eher ein Leitlabyrinth: Mit Minotaurus, Kindheit, Höhlen, dem Tod, der Zeit und um Bulgarien. Und um die kleinen Dinge. Manchmal um alles zusammen.

Minotaurus im Labyrinth

Zumindest zwei dieser nebulösen Gänge seien hier kurz eingeschlagen. Zuerst: Der Minotaurus. Der Erzähler, in seinen eigenen Großvater im Kindesalter hineinempathisiert, begegnet auf dem Jahrmarkt einem Kind mit dem Kopf eines Stiers, das von einem Schausteller vorgeführt wird. Dieser melancholische, kindliche, menschliche Minotaurus ist der Anlass, den Mythos zu überdenken (oder zu überdichten). So arbeitet der Erzähler später an einem Verteidigungsdossier, mit dem er den Minotaurus gegen die historische Anklägerschaft um Ovid, Plutarch und Vergil verteidigen will. Dessen Erstfassung: „Der Minotaurus ist unschuldig. Er ist ein Junge, eingesperrt in einen Keller. Er hat Angst. Man hat ihn im Stich gelassen. Ich, der Minotaurus.“ (Hinweis für Philologen: Jorge Luis Borges hat eine Ich-Erzählung aus Minotaurus-Sicht geschrieben.)

Als zweiter Gang: Die Zeit. Berichtet wird von „Time-Bombs“, also von Kapseln, die mit allerlei Dingen, die als erinnerungswürdig galten, im Boden versenkt wurden. Eine solche Zeitkapsel möchte auch der Erzähler mit seinem Buch bauen. Deswegen schreibt er auch die Wäscheliste für Rekruten nieder. Er sammelt aber nicht nur Dokumente, sondern auch Geschichten. Am liebsten kleine Geschichten von Misserfolgen und Möglichkeiten, Alltägliches, das die Zeit nicht überdauern würde und nur in der Buchkapsel gesichert ist. Hier lässt sich wieder der Bogen zum erzählerischen Grundeinfall schlagen: Weil sich die Pathologische Empathie mit den Jahren mildert, muss er, der Erzähler, der Autor, Gospodinov, diese Geschichten im fortgeschrittenen Alter seinen Mitmenschen abkaufen.

Gospodinov gelingt mit Physik der Schwermut Seltenes: Er ist unterhaltsam mit seiner melancholisch-humorvollen Alltagsplauderei, tief- und abgründig mit seiner mythologischen Fantasie und poetologisch denkwürdig mit seinen Reflexionen übers Schreiben. Der Mikrophilologe, der sich für jedes Detail interessiert, wird an diesem Buch auf jeden Fall verzweifeln.

Physik der Schwermut Georgi Gospodinov
Alexander Sitzmann (Übers.)
Droschl 2014, 331 S.
23,00 €

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