Die Sommersonne hatte gerade auf höchste Brandstärke umgeschaltet, da legte sich über das Land schon Wahlkampffrust. Erst war es ein Gefühl, das sich breitmachte, dann eine Deutung, die nachgeschoben wurde: Noch nie waren Wahlen so langweilig. Noch nie stand so wenig auf dem Spiel. Noch nie ging es so sehr um nichts. Noch nie gab es so wenig zu entscheiden. Wie Mehltau legte es sich auf die Diskurse und die Gespräche, die die Leute mit ihren Freunden führten. „In den rund 40 Jahren, in denen ich mich jetzt für die Politik interessiere, habe ich noch nie erlebt, dass eine Bundestagswahl in einem solchen Ozean von Gleichgültigkeit versinkt. Die Leute ärgern sich ja nicht mal. Die gähnen“, kolumnierte Bettina Gaus in der taz.
Die Le
.Die Leute haben das Interesse verloren. Aber warum? Weil sich die Regierungsalternativen, die zur Auswahl stehen, kaum unterscheiden? Oder ist das Land in Watte gehüllt? Schließlich ist Deutschland ganz gut durch die Krise gekommen, es geht den Deutschen doch gut, und dass eine andere Politik ihr Wohlergehen signifikant verbessern würde, das glaubt ohnehin kaum ein Wähler, kaum eine Wählerin. Also, warum etwas ändern?Deutschland, so die Deutung, die aber eben mehr ist als eine Deutung, sondern eher ein Gefühl, das sich in jeden hineinfrisst, ist eine bleierne Republik, in der größere Veränderungen weder im Angebot noch sonderlich erwünscht sind. Dieses Gefühl speist sich aus mehreren Quellen.Fünf Quellen der Lähmung1 Die Wahl ist ohnehin gelaufen. Wie immer sie ausgehen mag, eines steht jetzt schon fest: Angela Merkel bleibt Kanzlerin. Möglicherweise steht sie weiter einer Rechtskoalition aus CDU/CSU-FDP vor. Wahrscheinlicher einer Großen Koalition mit den Sozialdemokraten. Alterna-tivvariante, die nicht ganz ausgeschlossen werden kann: Schwarz-Grün. Ende des Variantenreichtums.2 Mag man die Merkel-Politik auch ablehnen, richtig empören kann man sich über sie nicht. Thatcheristin ist sie in Europa, daheim agiert sie unkontrovers, manche würden sogar sagen: semisozialdemokratisch. Da kommen nicht einmal bei eingefleischten Linken große Leidenschaften auf. Wirklich gehasst wird sie höchstens von hartge-sottenen Konservativen.3Wie immer man zu den Sozialdemokraten grundsätzlich stehen mag, so ist doch klar: Wer eine fundamental andere Politik haben will, in Wirtschafts- und Sozialfragen sowieso, aber auch ganz elementar im Funktionieren des demokratischen Systems, der kommt realistischerweise um die Sozialdemokraten nicht herum. Von der gegenwärtigen Tölpeltruppe in der SPD ist aber der Schwung, der dafür nötig ist, einfach nicht zu erwarten.4Ganz grundsätzlich haben die Wähler – fast wäre man versucht, zu sagen: das Publikum – die Lektion gelernt, dass in komplexen Gesellschaften, noch dazu unter den Bedingungen von Globalisierung und europäischer Integration, die Politik ohnehin nicht mehr über die Instrumente verfügt, große Kurs-wechsel durchzusetzen. Das System ist eine Maschine, die auch die besten Ideen, die oben eingefüllt werden, unten als kleine pragmatische Stellschraubenkorrekturen ausspuckt – im allerbesten Fall. Meist wird alles auf das übliche Klein-Klein runtergegart, das dann ohnehin keinen Unterschied macht.5 Die Selbstabkapselung des Systems Politik hat zu einem Spezialistentum und einem Typus „professioneller Politiker“ geführt, sodass selbst die Habitusformen der handelnden Akteure kaum unterscheidbar sind. Simpel gesagt: Die schauen sogar alle gleich aus. Nicht einmal in Stilfragen sind sie heute noch auseinanderzuhalten. Kurzum: Wir haben die Wahl. Aber wir haben keine Wahlmöglichkeiten.Wie immer bei solchen mächtigen Grundstimmungen gilt: Sie sind natürlich nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz wahr. Wenn sich ein Bild derart verbreitet und die gesamte Realität nur mehr durch diese Linse wahrgenommen wird, verengt und verzerrt es auch die Wirklichkeit, es wird also gewissermaßen falsch, gerade weil es wahr ist.Zunächst also gilt es zu korrigieren: Es ist keineswegs klar, dass die Wahl bereits gelaufen ist. Das wird just dieser Tage deutlich, weil Wahlkämpfe (gerade unter den Bedingungen der Mediendemokratie) ein paar berechenbare dramaturgische Eigenschaften haben. Werden eine Partei und ein Kandidat – wie in diesem Fall die SPD und ihr Spitzenkandidat Peer Steinbrück – nur lange genug „heruntergeschrieben“, als hoffnungslose Loser runtergemacht, dann wird das, so simpel das klingen mag, irgendwann einmal fad. Dann wird irgendwann die „Aufholjagd“ ausgerufen, dann werden die ersten Artikel lanciert, in denen erstaunt beschrieben wird, dass der Kandidat gar kein so großer Dolm ist, sondern bemerkenswerten Schwung hat, der Abstand sich „verengt“ und so weiter. Da Medien um die Aufmerksamkeit des Publikums konkurrieren, werden sie sich hüten, ihre Leser und Zuseher monatelang mit den immer gleichen Geschichten zu langweilen.Das muss nicht unbedingt Auswirkungen auf das Wählerverhalten haben. Barack Obama, beispielsweise, hat bei den vergangenen beiden US-Präsidentschaftswahlen immer völlig unangefochtene Start-Ziel-Siege hingelegt, die retrospektiv betrachtet niemals infrage standen, ganz unabhängig vom Spin der Berichterstattung, die mal ein „knappes Rennen“, dann wieder eine „Aufholjagd“, dann wieder einen „Ausbau des Vorsprungs“ verkündete. Aber auch wenn das nicht unbedingt Auswirkungen auf das Wählerverhalten haben muss – es kann durchaus. Es gibt Start-Ziel-Siege. Aber sie sind eher selten.Und natürlich gibt es in Deutschland andere Optionen, und möglicherweise sind sie nicht so unrealistisch, wie sie im Augenblick erscheinen. In Deutschland hat es bei allen Wahlen der letzten 15 Jahre – mit Ausnahme der letzten – eine klare Mehrheit für die Mitte-Links-Parteien gegeben, und es ist in hohem Maß wahrscheinlich, dass das auch nach der nächsten Wahl der Fall sein wird. Das einzige Problem ist, dass diese Mehrheit sich nicht in eine Regierungsmehrheit übersetzen lässt, solange SPD, Grüne und Linkspartei nicht gemeinsam regieren wollen.Rot-Rot-Grün ist machbarDass es zu keiner rot-rot-grünen Koalition kommen kann, ist aber nicht so sicher, wie es scheint. Klar, am 22. September werden die Spitzen von SPD, Grünen und Linkspartei nicht vor die Kameras treten und die Absicht verkünden, gemeinsam zu regieren. Möglicherweise wird die SPD erklären, für eine Große Koalition nicht zur Verfügung zu stehen, worauf CDU/CSU und Grüne in Koalitionsverhandlungen treten. Möglicherweise werden sich diese Verhandlungen wochenlang hinziehen. Möglicherweise werden die Grünen dann erklären, die Koalition sei an der Halsstarrigkeit der Union gescheitert. Und da das Land ja regiert werden müsse, werde man nun mit SPD und Linkspartei reden. Und siehe da ...Nicht, dass das wahrscheinlich ist. Aber es ist keineswegs so völlig ausgeschlossen, wie heute getan wird. Es gibt Alternativen. Sie werden nur nicht wahrgenommen.Abgesehen von dieser einen, konkreten Konstellation gilt aber grundsätzlicher: Je aufgefächerter das politische Spielfeld, umso mehr haben die Bürger das Gefühl, dass es auf ihre Entscheidung nicht ankommt. In Zwei-Parteien-Systemen ist klar: Die Wähler entscheiden, wer gewinnt. Bei Drei- und Vier-Parteien-Systemen, noch dazu, wenn jeweils zwei Parteien mehr oder weniger ein „Lager“ bilden, ist die Vorstellung, dass die Bürger über die Richtung entscheiden, noch einigermaßen intakt. Bei Fünf- oder Mehr-Parteiensystemen ist es dagegen so: Die Wähler und Wählerinnen entscheiden über die Zusammensetzung des Parlaments. Und die Politiker entscheiden über die Zusammensetzung der Regierung. Die elementare Entscheidung wird mehr und mehr von der Wahl in Richtung Koalitonsverhandlungen verschoben. Da die Bürger wissen, dass ihr Einfluss auf die Koalitionsverhandlungen nahe null geht, messen sie ihrer Wahlentscheidung immer weniger Bedeutung zu. Und sie haben damit auch recht.In einem System, in dem nicht so sehr Wahlen, sondern die Verhandlungen danach über die Regierungslinie entscheiden, sind Politiker wiederum versucht, möglichst viele Optionen offenzuhalten – was einen mächtigen Anreiz zur Unverbindlichkeit darstellt. Man kann es ihnen nicht einmal vorwerfen. Aber es führt nicht gerade dazu, dass klar konturierte Alternativen entstehen.Selbst eine gemeinsame Mehrheit von Rot-Grün alleine (also ohne Linkspartei) ist nicht völlig ausgeschlossen. Und natürlich ist Rot-Grün auch eine inhaltliche Alternative zur gegenwärtigen Regierungskonstellation. Aber gelingt es den Protagonisten, diese Alternative glaubhaft darzustellen, vielleicht auch in ein paar Farben zu malen, für die man sich begeistern kann? Eher nein. Dass Wandel, Änderungen, ein Neubeginn, gar eine Tabula Rasa etwas Erstrebenswertes sein können, das will daher bei den Bürgern nicht so richtig ankommen. Nach Jahrzehnten, in denen Wandel, Reform und Änderung vor allem Verschlechterung bedeuteten, ist die Lust auf Veränderungen ohnehin gering. Auch das ist verständlich.Bis zu den Wahlen werden sich die Umfragen noch drehen, aber die bleierne Lethargie wird sich nicht leicht vertreiben lassen. Ihre Ursache lässt sich erklären, das macht die Lage nicht besser. Aber voluntaristische Appelle werden das Land nicht in Bewegung setzen.
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