Die Frau von früher

Kriminalgeschichte Mathieu Amalrics Simenon-Adaption „Das blaue Zimmer“ versucht, zwischen Schicksal und Zufall zu unterscheiden
Ausgabe 14/2015

Mann und Frau im Hotelzimmer. Haben Sex. Dann Stille. Ein Tropfen Blut, der auf ein weißes Laken fällt. Die Frau fragt den Mann, ob er sich vorstellen kann, mit ihr zu leben. Er schweigt – und sitzt in der nächsten Szene einem Polizeibeamten gegenüber, der ihn verhört: Hat die Frau ihm öfter die Lippen blutig gebissen? Wie lange kennen sich die beiden schon? Wie oft haben sie sich in dem Hotel getroffen?

Den Umständen nach geht es Julien (Mathieu Amalric) gut. Nach einigen Jahren der Abwesenheit ist er in sein Heimatdorf zurückgekehrt. Er gilt hier als erfolgreicher Geschäftsmann, ist mit der schönen und nachsichtigen Delphine (Léa Drucker) verheiratet, die gemeinsame Tochter ist ein aufgewecktes Kind. Dann steht jedoch eines Tages Esther (Stéphanie Cléau) samt liegengebliebenem Auto am Straßenrand, die Julien noch aus der gemeinsamen Schulzeit kennt.

Damals hatte er alle Mädchen des Jahrgangs geküsst, nur Esther nicht, die große, dunkle Frau erschien ihm unerreichbar. Der Wunsch, verpasste Gelegenheiten nachzuholen, wird an Ort und Stelle erfüllt, die beiden kommen direkt zur Sache – und treffen sich anschließend gelegentlich weiter, insgesamt acht Mal, wie Julien im Verhörraum rekonstruiert.

Polizei, Psychiater, Richter

Das blaue Zimmer heißt die neue Regiearbeit von Mathieu Amalric, das Drehbuch nach der gleichnamigen Kriminalgeschichte von Georges Simenon aus dem Jahr 1964 hat er gemeinsam mit seiner Frau Stéphanie Cléau geschrieben, der Darstellerin der Esther. Erzählt wird der Film auf verschiedenen zeitlichen Ebenen. Zuerst ist da die Gegenwart, in der Julien durch Polizei, Psychiater und Untersuchungsrichter befragt wird. Persönlichkeit, Ehe, Affären: Alles wird systematisch seziert und bewertet, nichts bleibt privat oder gar intim. Dazwischen Rückblenden wie zur Anfangsszene im Hotelzimmer, aber auch zur Zeit mit Frau und Tochter. Erst allmählich bekommt der Zuschauer so eine Ahnung davon, was passiert sein muss: Dass es einen Mord gegeben hat, steht zwar von vornherein fest, wer tot ist und warum, bleibt offen.

Ratlos ist auch Julien. Der weiß zwar mehr als der Zuschauer, kann sich aber auch kaum erklären, was zu seiner Festnahme und den Anschuldigungen, die gegen ihn vorliegen, geführt hat. Das blaue Zimmer bekommt dadurch eine für einen Kriminalfilm ungewöhnliche kafkaeske Note, üblicherweise geht es vor allem um die Perspektive der Ermittler, die darum bemüht sind, ein Verbrechen aufzuklären. Das blaue Zimmer konzentriert sich auf den Verdächtigen, der auf seine eigene Art versucht, zu verstehen, was da mit ihm passiert ist.

Ein Schlüsselsatz zum Verständnis des Films fällt zu Beginn. Seinem Verhörer sagt Julien sinngemäß, dass das Leben sich unterscheide – in den Augenblick des Erlebens und in die Weise, wie man später darüber nachdenkt. Die Rückblenden dienen dafür als Illustration. Im Moment des Geschehens scheinbar ohne Zusammenhang, verändern einzelne Szenen ihre Bedeutung im Lauf der Ermittlungen gegen Julien: Esther, die ihm Botschaften zukommen lässt, denen er sich entzieht. Delphine, allein hinter der Glasfront des Hauses der Familie. Wieder er, wie er im Spaß seine Frau fast ertränkt, sie ein anderes Mal äußerst gereizt darauf hinweist, wie glücklich er doch sei. Aber selbst im Blick zurück schüren die Indizien Zweifel: Reichen die Momente aus, um einen Mord und so etwas wie Schuld zu erklären? Gab es unter all den Situationen eine, in der Julien das verhängnisvolle Finale hätte verhindern können, hätte er anders gehandelt?

In seiner kalkulierten Vagheit ist Das blaue Zimmer auf verschiedenen Ebenen spannend. Ganz trivial als Whodunit – wie löst sich der Fall auf, kann am Ende ein Schuldiger benannt, ein Sachverhalt geklärt werden? Dann in Bezug auf die Figur Julien, die am unklarsten bleibt. Während die Anliegen von Esther und Delphine recht durchschaubar sind (die eine möchte Veränderung, die andere Kontinuität), gibt es für Juliens eigentliche Gefühlslage wenig Anhaltspunkte (ob er zufrieden oder gelangweilt ist, Wünsche hat oder resigniert).

Spannung verheißt der 76 Minuten kompakte Film schließlich im philosophischen Hin und Her zwischen Schicksal und Zufall; indem er immer wieder die Frage nach der Determiniertheit der Ereignisse aufwirft. Es spricht für das außergewöhnliche Werk, dass es sich nicht in einfache Antworten flüchtet.

Info

Das blaue Zimmer Mathieu Amalric Frankreich 2014, 76 Minuten

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