Angeblich in einer alten Schuhschachtel sollen sie zumindest teilweise überliefert worden sein: 526 lose Zettel, über und über bedeckt mit regelmäßigen, aber bis zur Unleserlichkeit winzigen Buchstaben: die Mikrogramme. Ihr Urheber, der Schweizer Schriftsteller Robert Walser, brachte sie wahrscheinlich Mitte der zwanziger Jahre während seines Aufenthaltes in der Heil- und Pflegeanstalt Waldau zu Papier.
Ob Carl Seelig, der Nachlassverwalter Robert Walsers, zu Lebzeiten mit diesem je über die Kleinstschrift gesprochen hat, ist unbekannt. Fest steht: Obwohl Seelig sie für eine „selbsterfundene, nicht entzifferbare Geheimschrift“ hielt, war er fasziniert und veröffentlichte 1957, ein Jahr nach Robert Walsers Tod, eine Vergrößer
6;ßerung in der Kulturzeitschrift Du. Und so ist es eigentlich diesem Missverständnis Seeligs geschuldet, dass der Germanist Jochen Greven bei der Lektüre jener Ausgabe entdecken konnte, dass es sich um eine durchaus übliche Kurrentschrift handelte, winzig zwar, modifiziert, stenografisch verästelt – aber lesbar.Seitdem haben die von Bernhard Echte und Werner Morlang in beinahe 20 Jahren Kleinstarbeit entzifferten Mikrogramme das schon zu Lebzeiten veröffentlichte, durchaus reputable Werk Walsers nicht bloß ergänzt, ihre Bekanntheit läuft seinen Romanen – darunter Die Geschwister Tanner, Der Gehülfe und Jakob von Gunten – langsam den Rang ab. Nun werden der Öffentlichkeit im Robert-Walser-Zentrum in Bern so viele Mikrogramme wie noch nie zuvor gezeigt.„Ich schreibe das ganz bestimmt aus Verzweiflung über meinen Körper und über die Zukunft mit diesem Körper“ – unter anderem dieses Zitat von Robert Walsers Zeitgenossen Franz Kafka ziert die Wand des abgedunkelten Ausstellungsraumes. Passend dazu erinnern die ausgestellten Objekte entfernt an Präparate eines anatomischen Museums. In streng gestaffelten durchsichtigen Kuben auf etwa hüfthohen Sockeln wird jeweils ein Mikrogramm präsentiert – aufrecht in der Schwebe gehalten, sodass man Vorder- und Rückseite gleichermaßen begutachten kann. Um die kaum zigarettenschachtelgroßen Zettel genau zu sehen, muss man sich tief zu ihnen herabbeugen. Es sind, das der erste Eindruck, erstaunlich wenig. Nur rund ein Dutzend Sockel finden in dem kleinen Raum Platz.Dafür hat man bei der Betrachtung jedes Mikrogramm ganz für sich allein, die Präsentationsweise lässt sozusagen nur das Zwiegespräch zu. Das Raumkonzept setzt außerdem eine raffinierte Pointe: Die Körperhaltung, die man beim Inspizieren der Mikrogramme einnimmt, ist frappierend museal. Genau so beugt man sich doch in großen Museen zu diesen Info-Plaketten herunter, welche einem Künstler, Entstehungsjahr und Farbzusammensetzung des dazugehörigen Gemäldes erklären – und vom Kunstwerk ablenken. Hier gilt dieser kleine Blick den Kunstobjekten selbst.Was wird ausgestellt? Vertreten sind verschiedene der bevorzugten Tusculum-Kalenderblätter, der gräulichen Kunstdruckpapiere, der wiederverwendeten Telegramme oder Briefumschläge in diversen Farben und Formen. Ein Liebhaberaspekt der Walser-Mikrogramme ist, dass die Rückseiten teilweise kleine kulturgeschichtliche Kuriositäten in Setzkastenmanier aufweisen: altgriechische Kalendersprüche, Abbildungen, dadaistisch anmutende Frakturschrift. Im Unterschied zu den Faksimile-Ausgaben sieht man den Originalen an, dass Walser die Winzbuchstaben teilweise geradezu ins Papier gestanzt hat, ein irritierender Kontrast zu ihrem weichen, unaufgeregten Fluss.Die streng exemplarische Auswahl der ausgestellten Mikrogramme scheint überwiegend visuellen Kriterien zu gehorchen: Entzifferbar oder mit Transkriptionslegenden versehen sind die Texte nicht. Es wird nirgends so getan, als sei eine Ausstellung der richtige Ort, um Miniaturprosa angemessen zu lesen. Wer sich tiefschürfender mit ihr auseinandersetzen will, wird an die Anfang 2012 im Freitag von Erhard Schütz besprochene Suhrkamp-Publikation Robert Walser: Mikrogramme verwiesen. Die Anthologie enthält Faksimiles sämtlicher gezeigter Mikrogramme und detaillierte Informationen zu Inhalt, Entstehungs- und Editionsgeschichte.Kein Art-Brut-KünstlerDie Ausstellung setzt auf ästhetische Reduktion. Das ist wohltuend: Eine erwartbare demonstrative Verzettelung mit Hunderten von Texten wird durch Konzentration erfolgreich umgangen. Dieses Ernstnehmen des Einzelexemplars verhindert, dass Walser über seine einzigartigen Mikrogramme als Art-Brut-Künstler inszeniert wird. Eine gesonderte Vitrine etwa zeigt, warum die von Walser so genannte Bleistiftmethode tatsächlich eine war: links ein winziges Mikrogramm, daneben auf mehreren Blättern die Übertragung in der feinziselierten, gut lesbaren Handschrift des Kalligrafen Walsers. Etwa die Hälfte der Mikrogramme wurde von Walser in dieser Weise ins Leserliche übertragen und veröffentlicht. Sein Bleistiftsystem war weder eine Praxis des Verstummens noch der Versuch, sich per Geheimschrift in die Unleserlichkeit zurückzuziehen – eine Tatsache, die ihre herrlich papierne Entdeckungs- und Entzifferungsgeschichte oft vergessen macht. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Wiederentdeckung dieses einzigartigen literarischen Werkes gerade wegen der vermeintlichen Unleserlichkeit der Mikrogramme, ihres Reizes als vermeintliches Art-Brut-Artefakt in der Zeitschrift Du möglich wurde.Die Stärke der Berner Ausstellung ist, nicht ausschließlich auf die spektakuläre Materialität der Mikrogramme zu setzen, sondern sich in bewusster Abgrenzung zur archivalischen Informationsflut zu positionieren. Neben einer subtilen Hinterfragung musealer Sehgewohnheiten gelingt vor allem die Schulung der entrümpelten Wahrnehmung mit und für Walser: Die schiere Masse von Walsers verstreuten Mini-Texten ist zwar ein kurioses Faszinosum – eigentlich interessant ist jedoch die optische und literarische Qualität des jeweils einzelnen Mikrogramms.